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# taz.de -- Kolumne Darum: Einigkeit und Recht auf Peinlichkeit
> Von der Toilette schmettert uns die deutsche Nationalhymne entgegen.
> Haben wir als Eltern versagt? Nein, nur andere sind von der Rolle.
Bild: Wo, bitte, geht's denn hier zum Klo? Das ehemalige CDU-Präsidium singt d…
Viele Sätze, die man Kindern im Vorbeigehen zuraunt, rächen sich
irgendwann. Der Satz „Lass dich nicht beirren, geh deinen Weg“ fliegt uns
spätestens um die Ohren, wenn wir es morgens eilig haben, um gemeinsam
irgendwohin zu kommen. Denn mein Weg ist stets anders als dein Weg.
Im Wissen um die untrennbare Verbindung kindlicher Faul- und Schlauheit
hätten wir auch die [1][Postkarte mit Hannah Arendts berühmtem Satz „Keiner
hat das Recht zu gehorchen“] niemals an die Küchenwand pinnen dürfen.
Unverdächtig war uns lange der Satz „Wenn du Angst hast, sing ein Lied!“
Gerade bei kleinen Kindern, die von bösen Hexen, üblen Zauberern und
bissigen Tieren träumen und deswegen noch vor dem Einschlafen darüber reden
wollen, erschien es uns hilfreich, erst zu reden und dann gemeinsam ein
Lied zu singen. Die Angst war dann weg. Die Kinder wurden größer.
Irgendwann waren auch die Hexen, Zauberer und Tiere weg. Der Satz wurde
vergessen.
Im Cache der Kinder aber muss er geblieben sein, als „Sleeper"-Satz im
Unterbewusstsein. Jahre später, wir sitzen gerade vormittags bei 35 Grad
auf einem halbschattigen Campingplatz an Sardiniens Ostküste, trinken
Kaffee und genießen das Nichtstun, kommen die Nachbarn vorbei. Sie sind ein
wenig verwirrt, ein wenig amüsiert und teilen uns mit, dass 30 Meter
weiter, also inmitten des sardischen Campingplatzes, jemand auf einem der
öffentlichen Klohäuschen lautstark die deutsche Nationalhymne singt.
Wir lachen, so absurd und unpassend erscheint uns [2][dieses
deutschnationale Bekenntnis] im Italien-Urlaub, so hübsch auch passen
Stuhlgang und Nationalgesang zusammen. Dann kommt unsere Tochter wieder und
erzählt, es sei ihr Bruder, unser Sohn, der da gerade die Hymne schmettere.
Ein betretenes Schweigen breitet sich aus. Fassungslosigkeit. Entsetzen. Wo
eben noch Häme und Spott waren, sind nun Depression und Selbstvorwürfe.
## „Gibt es ein Problem?“
Wie konnte es dazu kommen? Was haben wir falsch gemacht? Wie reagiert man
nun am besten? Der Sohn kommt von der Toilette wieder, eine Rolle Klopapier
unterm Arm. Er hat gute Laune, will an den Strand.
Wir wollen es nicht wahrhaben und fragen:
– „Hast du eben auf dem Klo die Nationalhymne gesungen?“
– „Nein, gesungen nicht, ich kenne den Text ja nicht, nur laut gesummt.“
– „Aber warum?“
– „Ich hatte Angst, die Tür zu verriegeln, und damit ich keine Angst haben
muss, dass jemand reinkommt, habe ich laut gesungen.“
– „Warum die Nationalhymne?“
– „Lief neulich vor dem Länderspiel. Was anderes fiel mir gerade nicht ein.
Gibt es ein Problem?“
Nein. Gibt es nicht. Zumindest für das Kind nicht. „Wenn du Angst hast,
sing ein Lied!“, hieß der Satz und nicht „Wenn du Angst hast, sing ein
Lied, das aber im Ausland nicht die Nationalhymne sein darf und im Inland
besser auch nicht und überhaupt ist das ja kein Lied, aber irgendwie doch,
und denk doch mal an Auschwitz und an die Weltkriege und ...“.
Das ist kein Merksatz für einen 3-, 4-, 5- oder 8-Jährigen. Und mein
Problem mit der Nationalhymne ist nun auch verschwunden. Wenn ich im
Fernsehen deutsche Fußball-Nationalspieler, die CDU beim Parteitag oder
Burschenschafter auf der Wartburg sehe, die die Hymne singen, frage ich
mich nur noch: Warum haben die denn kein Klopapier unterm Arm?
15 Oct 2013
## LINKS
[1] http://www.postkartenparadies.de/sprueche/zitate/postkarten-zitate-hannah-a…
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Nationalhymne
## AUTOREN
Maik Söhler
## TAGS
Nationalhymne
Toilette
Pubertät
Darum
Eltern
Schwerpunkt AfD
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Kind
FC Bayern München
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