# taz.de -- Klimaphysiker über Erderhitzung: „Nicht nur auf 1,5 Grad fixiere… | |
> Der Klimaphysiker Anders Levermann ist dagegen, das 1,5-Grad-Ziel als | |
> absolute Forderung zu sehen. Er warnt vor Widerstand gegen Ökomaßnahmen. | |
Bild: Wirklich ein machbares Ziel? FFF-Demo im September in Köln | |
taz: Herr Levermann, die Klimaaktivisten von Fridays for Future und die | |
Gretawelt verlangen kategorisch, dass am Ziel festgehalten wird, die | |
Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Das unterstützen Sie sicher? | |
Anders Levermann: Es geht darum, gefährlichen Klimawandel zu vermeiden. | |
Falsch ist, denke ich, sich dabei nur auf 1,5 Grad zu fixieren. | |
Fridays beziehen sich darauf, dass die Klimawissenschaft 1,5 Grad verlangt. | |
Das Argument ist, dass das Verpassen von 1,5 Grad sehr schlimme Folgen | |
haben wird und „wir Gefahr laufen, uns Rückkopplungseffekten im Klimasystem | |
auszusetzen, die nicht mehr aufzuhalten sind“, wie die | |
Klimapolitik-Aktivistinnen [1][Luisa Neubauer und Carola Rackete | |
schreiben]. | |
Was die Folgen angeht, haben die Beiden nicht unrecht. Ich arbeite seit 18 | |
Jahren daran, die Folgen des Klimawandels zu untersuchen, und es sind | |
viele. Es gibt Systeme, die kippen können, die Arktis, die Antarktis, die | |
Korallenriffe. Aber ein weit verbreitetes Missverständnis ist, dass die | |
globale Erwärmung in eine selbstverstärkende Spirale gerät, wenn wir sie | |
nicht auf 1,5 Grad begrenzen. Davor haben viele Angst, aber das ist nicht | |
der Fall. | |
Deshalb können die Fridays immer noch sagen, dass die Begrenzung auf 1,5 | |
Grad wünschenswert ist, aber sie können nicht sagen, dass die Wissenschaft | |
zwingend 1,5 Grad verlangt. Verstehen Sie mich nicht falsch, mit jedem | |
Zehntelgrad mehr können schlimme Dinge passieren, aber es gibt keine harte | |
Evidenz, dass eine Erwärmung um 2 Grad unsere Gesellschaften fundamental | |
bedrohen würde. | |
Ein schlagartiges Ausschalten der Kohlekraftwerke, der Verbrennungsmotoren | |
würde das aber sehr wahrscheinlich tun, es würde den gesellschaftlichen | |
Zusammenhalt gefährden. Und dieses schlagartige Ausschalten wäre wohl die | |
Konsequenz, wenn wir bei der jetzt leider schon weit vorangeschrittenen | |
Erwärmung noch mit aller Gewalt das 1,5-Grad-Ziel einhalten wollten. Ich | |
bin sehr für Tempo, aber das gilt es abzuwägen. | |
Ein zentrales Argument ist die Forderung nach „Klimagerechtigkeit“. Alle | |
dürfen nur noch gleich wenig CO2 ausstoßen. | |
Es ist vollkommen richtig, dass die reichen Länder größere Anstrengungen | |
machen müssen. Weil sie es ökonomisch und technisch können und weil sie | |
eine Verantwortung haben. Aber das Restbudget für ein Erreichen von 1,5 | |
Grad ist so klein, dass die USA dann 2023 klimaneutral sein müssten. Das | |
kann nicht gehen. | |
Es bedeutet, dass innerhalb von drei Jahren alle Kohlekraftewerke, alle | |
Gaskraftwerke, alle Ölkraftwerke und alle Verbrennungsmotoren ausgeschaltet | |
sein müssten und es auch keine Betonproduktion mehr geben dürfte. Das ist | |
nicht verträglich mit einer Demokratie und 70 Millionen Trump-Wählern, die | |
man nicht mögen muss, die aber eine Realität sind. | |
Wie könnte man es anders hinkriegen? | |
Alle müssen auf null Treibhausgas Ausstoß bis 2050, und sie müssen jetzt | |
sofort mit der Reduktion anfangen. Das ist nicht gerecht, aber es bedeutet, | |
dass die Staaten, die viel emittieren, sich mehr anstrengen müssen, und die | |
weniger entwickelten starten gleich durch. | |
Damit bleibt man nicht unter 1,5 Grad, aber man bleibt unter 2 Grad, der im | |
Paris Abkommen formulierten Obergrenze. Und unter der sollten wir wirklich | |
bleiben. Die politischen und wirtschaftlichen Instrumente, um dieses Ziel | |
zu erreichen, sind jetzt das Wichtigste, worauf wir uns konzentrieren | |
müssen. | |
Noch mal: Was ist mit den [2][Kipppunkten]? | |
Erstmal: Es gibt Kipppunkte von Teilen des Klimasystems, aber wir können | |
nicht genau sagen, bei welcher Temperatur wir die für welche Elemente im | |
Erdsystem überschreiten. Dass wir sie bei unbegrenzter Erwärmung irgendwann | |
überschreiten, ist klar, nur wann? Da gibt es einfach | |
Unsicherheitsbereiche. | |
Aber, und das ist mir wichtig, es gibt definitiv nicht den einen Kipppunkt | |
für das gesamte Klima, vor dem sich alle fürchten, der die Erwärmung dann | |
immer weiter beschleunigt und vorantreibt. Alle Länder auf null Emissionen | |
bis 2050 hätte den Vorteil, dass damit das Risiko sinkt, dass es | |
gesellschaftlich kippt. Denn auch gesellschaftlich kann es Kipppunkte | |
geben, positive oder negative. | |
Sie meinen, dass also demnächst nicht die Leute auf die Bäume klettern, die | |
1,5 Grad wollen, sondern die in radikaler Opposition zu ernsthafter | |
Klimapolitik stehen. | |
Ja. Stellen wir uns vor, dass wir tatsächlich innerhalb der nächsten drei | |
Jahre während der Biden-Administration alle Kohlekraftwerke in den USA | |
abschalten und alle Autos mit Verbrennungsmotor verboten werden, dann | |
bedeutet das faktisch, dass bei vielen auf dem Land der Strom abgeschaltet | |
wird und das Leben zum Erliegen kommt. Wie soll das gehen, ohne dass ein | |
Bürgerkrieg ausbricht? | |
Dann könnten die global zerstörerischen Großemittierer aber einfach sagen, | |
sorry, wir müssen weitermachen, weil sonst die Demokratie kippt. | |
Das ist das Argument, das sie seit langem bringen – und in der Form ist es | |
übel falsch. Einfach weitermachen mit den Treibhausgasen würde nämlich | |
wirklich die Demokratie kippen, weil Wetterextreme und so weiter unsere | |
Sicherheit und unseren Wohlstand kaputtmachen. Nein, wir können es | |
schaffen, nur eben nicht in drei Jahren in den USA. Wir müssen jetzt | |
anfangen, aber wir brauchen etwas Zeit. | |
Faktisch haben wir 1,5 Grad schon gerissen, so traurig das ist. Wir haben | |
jetzt 1,2 Grad Erwärmung im Durchschnitt, und dann gibt es noch | |
nachlaufende Effekte. Selbst wenn wir die derzeitige CO2-Konzentration in | |
der Atmosphäre nicht mehr erhöhen würden, bekämen wir noch wenigstens ein | |
halbes Grad drauf. | |
Manche sagen, wir wären schon bei 1,3 Grad? | |
Wir haben Schwankungen im System und Unsicherheitsbereiche, das ist normal. | |
Es gibt eine Spannbreite von 0,4 Grad, auch dadurch wird die kategorische | |
1,5-Grad-Forderung problematisch. | |
Nun haben sich Teile der klimapolitisch engagierten Leute auf die Grünen | |
eingeschossen. Diese seien [3][nicht „radikal“ genug], weil sie wie alle | |
anderen auch keinen 1,5-Grad-Plan hätten. | |
Der Punkt ist, dass wir eben leider nicht in der Welt leben, in der es um | |
1,5 oder 2 Grad geht. Wir sind weltweit von den Emissionen her auf dem Weg | |
zu über 3 Grad Erwärmung, optimistisch gerechnet, eigentlich über 4 Grad | |
noch innerhalb dieses Jahrhunderts. Wenn wir nicht sogar angesichts der | |
Kohle-Renaissance in Asien eher wieder auf dem Weg zu 5 Grad sind, auf dem | |
wir bis vor fünf Jahren waren. | |
Was folgt daraus? | |
Der Streit innerhalb derer, die ökologisch denken, ist das Letzte, was wir | |
brauchen. Man sollte den Streit mit der nicht ökologisch denkenden Welt | |
führen. | |
Eine Protestbewegung als nicht institutionalisierter Teil einer liberalen | |
Demokratie ist aber nicht für Realpolitik zuständig, sondern für maximale | |
Forderungen, das ist ihr Job. | |
Das verstehe ich. Sie sollen 1,5 Grad fordern. Aber sie sollen nicht gegen | |
die kämpfen, die 2 Grad fordern. | |
22 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/luisa-neubauer-und-carola-racket… | |
[2] https://www.nature.com/articles/s41598-020-75481-z | |
[3] /Fridays-for-Future-und-die-Gruenen/!5727724 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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