# taz.de -- Klimaprotest und 1,5-Grad-Ziel: Die Abstimmungsoption | |
> Ein selbstorganisiertes Plebiszit könnte 2021 die klimapolitische | |
> Orientierung am 1,5-Grad-Ziel verstärken. Nämlich durch Druck von unten. | |
Bild: Protest mit dem Motto „1,5 Grad ist das Limit“ vor dem Kanzleramt im … | |
„Stellen Sie sich dem Klimanotfall“ – diesen Appell richteten Greta | |
Thunberg, Luisa Neubauer und zwei weitere Aktivistinnen Mitte Juli in einem | |
offenen Brief an alle Regierungen der EU. Am 20. August, genau zwei Jahre | |
nach Thunbergs erster Streikaktion vor dem Stockholmer Parlamentsgebäude, | |
haben sie sich darüber mit der Bundeskanzlerin ausgetauscht. Wie bei dem | |
letzten Klimastreik mit der Parole „Kein Grad weiter!“ ging es um die | |
Begrenzung der Erderwärmung auf unter 1,5 Grad Celsius. | |
Dieses Ziel sei, wie taz-Redakteur [1][Malte Kreutzfeldt] hier unlängst | |
feststellte, zwar „am objektiv Notwendigen“, doch kaum noch Realisierbaren | |
orientiert. Ein Festhalten an der [2][1,5-Grad-Grenze] sei zwar von der | |
Sache her geboten, drohe jedoch in Verzweiflung umzuschlagen, sobald sie | |
überschritten sei. | |
So gesehen steht zu erwarten, dass sich die [3][Klimabewegung] nur unter | |
der pragmatischen Devise „Nichts unversucht lassen“ wird behaupten können: | |
Sie muss ebenso lokale Protestaktionen – derzeit gegen den Ausbau der | |
Autobahn A 49 in Hessen – durchführen wie bundesweit einer | |
klimaverträglichen Energie-, Verkehrs- und Agrarwende Nachdruck verleihen | |
sowie der EU eine Erhöhung ihres CO2-Reduktionsziels von 55 Prozent auf | |
mindestens 65 Prozent bis 2030 abverlangen. | |
Zugleich kommt es aber darauf an, Bevölkerungsmehrheiten für die Einhaltung | |
des Pariser Klimaabkommens zu gewinnen. Dies alles beinhaltet | |
Herausforderungen, die Fridays for Future allein nicht schultern können – | |
schon gar nicht, wenn dabei auch dem höchst ambitionierten Maßnahmenpaket | |
aus der Wuppertal-Studie „CO2-neutral bis 2035“ öffentliche Geltung | |
verschafft werden soll. | |
## Druck der Straße reicht allein nicht aus | |
Sich weiterhin auf den Druck der Straße oder eigene Kandidaturen für den | |
Bundestag zu verlassen, reicht dafür nicht aus. Dieser Druck müsste ebenso | |
von einer Bürgergesellschaft ausgehen, die gewillt ist, den in Parlamenten | |
und an den Schalthebeln der Macht sitzenden Führungskräften einen | |
wirksameren Klimaschutz abzuringen. | |
Einen Beitrag hierzu könnte der Versuch leisten, die [4][Kampagnenpraxis zu | |
einem direktdemokratischen Instrument] auszubauen: Eine Initiative unter | |
der Bezeichnung „Abstimmung 21“ (Abst.21) schickt sich an, zeitnah zu den | |
Bundestagswahlen ein Plebiszit durchzuführen, bei dem unter anderem über | |
Maßnahmen zur Eindämmung der Klima- und Umweltkrise entschieden werden | |
soll. | |
Das Bündnis, an dem sich Democracy International, Mehr Demokratie e. V., | |
Omnibus für direkte Demokratie und die Petitionsplattform Change.org. | |
beteiligen, arbeitet daran, die Tauglichkeit von Volksabstimmungen auch auf | |
Bundesebene unter Beweis zu stellen. Es soll sich um eine Spielart von | |
Volksentscheiden handeln, die dem Souveränitätsprinzip im Grundgesetz | |
entspricht und als verfassungskonform gilt. | |
Danach dürften Plebiszite nur von der Zivilgesellschaft initiiert werden | |
und sich nur auf Sachfragen beziehen, die mit der Wahrung der | |
Menschenrechte und des Minderheitenschutzes zu vereinbaren sind. Zudem | |
müsse der Bundestag auf die Entscheidungen mit Gegenvorschlägen reagieren | |
können, womit man ein Ringen um die beste Lösung zwischen parlamentarischen | |
und direktdemokratischen Gesetzgebungsinitiativen sicherstelle. | |
## Klimawende 1,5 Grad | |
Im konkreten Fall stehen klima-, umwelt- und sozialpolitische Maßnahmen im | |
Mittelpunkt, wie aus den acht Themen zu einer Probeabstimmung hervorgeht, | |
an der bundesweit 45.974 Menschen teilgenommen haben. Mehrheitlich waren | |
die aus Change.org-Petitionen ausgewählten Sachgebiete, die in einem | |
Abstimmungsheft mit Pro- und Contra-Argumenten präsentiert wurden, | |
Ansatzpunkten eines sozialökologischen Strukturwandels gewidmet. | |
Das erste Thema bezog sich auf das Ziel „Klimawende 1,5 Grad“ sowie sechs | |
weitere auf die Problemfelder Mindestlohn, Lobbyregister, Grundeinkommen, | |
Lebensmittelverschwendung, Ökologische Landwirtschaft und Fracking. Als | |
achtes Thema wurde die Forderung nach Einführung einer bundesweiten | |
Volksabstimmung angeboten. | |
Nachdem beim Probelauf die Gesetzgebungsinitiativen zum ersten und achten | |
Thema hohen Zuspruch erhielten, steht nun fest, dass beide Themen auch zur | |
Hauptabstimmung gestellt werden. Dann soll über insgesamt zehn Vorschläge | |
entschieden werden, deren Festlegung auf einem Webportal erfolgt, das | |
zusätzlich Beschlüsse über weitere Brennpunktthemen ermöglicht. | |
Auch wenn es sich bei der Briefabstimmung nur um eine Meinungsumfrage | |
handelt – ohne Rechtsverbindlichkeit für Parlament und Regierung –, so wird | |
sie exakt nach dem Vorbild von Volksentscheiden durchgeführt. Sie | |
ermöglicht auf den Stimmzetteln mit „Ja/Nein/Enthaltung“ fakultative | |
Entscheidungen und kann deshalb unter anderem dafür genutzt werden, den | |
Klimaschutz zum zentralen Wahlkampfthema zu machen und transformative | |
Ansätze voranzubringen. | |
## Kein Ausbau direkter Demokratie bei den Grünen | |
An dem Pilotprojekt sollen sich mindestens eine Million Bürger*innen | |
beteiligen. Damit dies gelingt, ist es auf Unterstützung von NGOs, | |
Gewerkschaften und Parteien angewiesen. Das dürfte allerdings momentan | |
ausgerechnet den Grünen schwerfallen: Nachdem in dem Entwurf ihres neuen | |
Grundsatzprogramms die bisherigen Zielsetzungen zum Ausbau direkter | |
Demokratie nicht mehr enthalten sind, steht die Partei demnächst vor der | |
Entscheidung, ob sie einem damit verbundenen Kurswechsel zustimmt. | |
Derweil demonstriert Abst.21, wie sich zentrale Anliegen bündeln und in | |
Gesetzgebungsinitiativen umformen lassen. Auf diesem Weg könnte sich | |
zivilgesellschaftliches Engagement über die Beteiligung an Demonstrationen, | |
zivilem Ungehorsam, Klimaklagen und Netzkampagnen hinaus noch erweitern und | |
der ursprüngliche Impuls der Klimabewegung, der von Sitzstreiks vor einer | |
Volksvertretung ausging, auf höherer demokratischer Stufenleiter | |
fortgesetzt werden. | |
17 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Studie-zu-Klimaneutralitaet-bis-2050/!5720522 | |
[2] /!s=1%252C5-Grad-Ziel/ | |
[3] /Die-Gruenen-und-Fridays-for-Future/!5720921 | |
[4] https://boell-bremen.de/de/2020/04/09/kampagnen-zeiten-der-coronakrise | |
## AUTOREN | |
Martin Zülch | |
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