# taz.de -- Klimakommissar über EU-Gesetz: „Keiner kann sich mehr verstecken… | |
> Das Europaparlament stimmt über das „Klimagesetz“ der Kommission ab. | |
> Dessen Vizechef Frans Timmermans sieht die derzeitige Krise auch als | |
> Chance. | |
Bild: Sonnenblumen, Kohlekraftwerk und Windräder in Niedersachsen: Die EU soll… | |
taz: Herr Timmermans, die EU-Staaten haben sich verpflichtet, [1][bis 2050 | |
Klimaneutralität zu erreichen]. Wie viele unter den Regierungschefs wissen | |
eigentlich, auf was für eine gigantische Aufgabe sie sich da eingelassen | |
haben? | |
Frans Timmermans: Das Schöne an unserem Klimagesetz und an der | |
Folgenabschätzung ist ja, dass alle nachvollziehen können, was jetzt | |
geschehen muss. Das wird eine Herausforderung für die Industrie, aber die | |
Herausforderung für die Bürgerinnen und Bürger und für Mobilität ist noch | |
größer. Die Regierungschefs kennen vielleicht nicht alle Details, aber sie | |
kennen doch die allgemeine Richtung und ich bin positiv überrascht, dass | |
alle Regierungen – auch die polnische – dem Ziel zustimmen: Bis 2050 muss | |
die EU klimaneutral sein. | |
Wirklich? Die polnische Regierung hat doch erklärt, dass sie nicht | |
mitmachen will. | |
Nein, Polen hat gesagt, „wir unterschreiben das Gesamtziel für die EU“, das | |
hat der Minister letzte Woche noch einmal betont, „aber ob wir das als | |
Polen auch schaffen, das glauben wir nicht“. | |
Kann Polen dann Zugang zu den 17,5 Milliarden Euro aus dem Just Transition | |
Fonds haben, wenn sie diese Umgestaltung im eigenen Land nicht mittragen | |
wollen? | |
Dieser Fonds ist ein entscheidendes Instrument, um sicherzustellen, dass | |
wir niemanden zurücklassen. Wir wissen, dass diese Umstellung nicht einfach | |
wird, dass sie für manche schwierig wird und dass wir uns gegenseitig | |
helfen müssen. Ich habe immer gesagt, diese Umgestaltung wird gerecht sein | |
oder es gibt keine Umgestaltung. Aber wir müssen auch sicherstellen, dass | |
wir alle auf demselben Pfad sind, und deshalb haben die europäischen | |
Staats- und Regierungschefs im Juli beschlossen, dass die Hälfte der | |
Zahlungen zurückgehalten werden, wenn sich ein Mitgliedsland noch nicht zur | |
Klimaneutralität verpflichtet hat. | |
Wenn man sich Ihre Folgenabschätzung anschaut, wird klar, wie hart der Weg | |
der EU zur Klimaneutralität sein wird: Mit den bisherigen Maßnahmen landen | |
wir nur bei 60 statt bei 100 Prozent weniger Emissionen in 2050, drei | |
Viertel aller Gebäude müssen renoviert werden, die Politik hat bislang | |
nicht die richtigen Konzepte. Wie wollen Sie diesen Weg denn schaffen? | |
Das ist schwierig, aber möglich. Nichtstun wäre auch möglich, ist aber noch | |
teurer, als etwas zu tun. Mit der Renovierungswelle für Gebäude, die wir am | |
14. Oktober präsentieren werden, werden wir zeigen, dass wir schnell | |
Fortschritte machen können, wir schaffen Jobs und Wachstum. Wenn wir die | |
Erholung nach der Coronakrise und unser Programm „Next Generation EU“ | |
verknüpfen mit den Klimazielen, da können wir viel Geld und viel Aktivität | |
mobilisieren. | |
Wenn Sie [2][Ihren „Green Deal“] bei den Regierungen anpreisen – was ist | |
dann Ihr bestes Argument? | |
Alle Analysen besagen – und das wird auch nicht bestritten: Je länger wir | |
warten, desto teurer und schwieriger wird es. Wenn wir schnell anfangen, | |
haben wir als erster Kontinent auch die Vorteile davon. Wir müssen unsere | |
Wirtschaft ohnehin umbauen, auch wegen der digitalen industriellen | |
Revolution, nicht nur wegen der Krise. Und die EU-Staaten haben sich ja | |
entschlossen, zur Bekämpfung der Krise viel Geld zu mobilisieren, aber das | |
muss schnell gehen. Es sind nur ein paar Jahre, wo wir dieses Geld nutzen | |
können. | |
Was ist die größte Schwierigkeit? | |
Die meisten Regierungen sind sehr positiv, aber die skeptischen fragen: Was | |
bedeutet das konkret für uns? Wie nehmen wir dabei unsere Bürger mit? Es | |
gibt Angst vor höheren Preisen und Energiekosten. Darauf brauchen wir | |
Antworten. | |
Die stehen ja teils schon in der Folgenabschätzung: Bei den | |
energieintensiven Industrien rechnen Sie mit Verlusten von bis zu 500.000 | |
Jobs, bei der Kohle ist es die Hälfte aller Stellen. Höhere Energiepreise | |
treffen vor allem die Haushalte. Keine guten Aussichten mitten in der | |
Coronakrise. | |
Corona macht es nicht einfacher, aber auch nicht schwieriger. Denn wir | |
haben Eile wegen der Krise. Wir haben nicht mehr wie vor Corona die Wahl, | |
jetzt zu agieren oder zu warten. Und wenn wir jetzt sowieso massiv | |
investieren müssen, dann können wir es auch gut machen. Dies macht es etwas | |
leichter. Zweitens, das hat mich überrascht: Obwohl Gesundheit und der | |
Arbeitsplatz für die meisten Europäer große Themen sind, ist die Klimakrise | |
immer noch ein Thema, das die Leute sehr bewegt. Wir haben immer noch | |
massive Unterstützung für diese Politik. | |
Aber die Regelungen bei Emissionshandel oder Lastenverteilung unter den | |
EU-Staaten sind lange hart umkämpft gewesen. Schwer vorzustellen, dass man | |
da in nicht mal einem Jahr große Sprünge machen kann. | |
Ich verstehe die Skepsis. Aber man muss das global sehen. China hat | |
angekündigt, bis 2060 CO2-neutral sein zu wollen, dafür brauchen sie ihren | |
Emissionshandel. Südafrika will das Ziel von Klimaneutralität bis 2050 | |
erreichen, das wäre vor zwei Jahren undenkbar gewesen. Und warten wir mal | |
ab, wie die USA nach der Wahl dastehen. Wenn es auch dort eine Änderung | |
gibt, dann wird es eine globale Dynamik geben, die auch dem | |
EU-Emissionshandel Rückenwind geben wird. Und was das Ziel 2030 für die | |
Anstrengungen der einzelnen Mitgliedsstaaten heißen wird, werden wir in den | |
nächsten Monaten erarbeiten. | |
Wie hilfreich ist da Deutschland? | |
Sehr hilfreich. Ich bin sehr froh, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft | |
hinter dem Ziel von minus 55 Prozent steht. Die Kanzlerin hat dazu gerade | |
auch Klartext geredet. | |
Deutschland hat nicht immer den besten Ruf: Die Regierung hat gern neue | |
Klimaziele ausgerufen, aber die Autoindustrie dagegen geschützt. | |
Man kann hier nicht mehr pauschal das eine sagen und konkret das andere | |
machen. Das geht nicht mehr. Zudem ist die Autoindustrie nicht mehr deutsch | |
oder französisch, sondern paneuropäisch verknüpft und braucht überall | |
dringend eine Umstrukturierung. | |
Aber die wirklichen Entscheidungen fallen ja nicht in Brüssel, sondern in | |
Berlin, Paris oder Warschau. Wie hilflos ist die Kommission in diesen | |
Fragen? | |
Uns hilft, dass der notwendige Wandel nicht mehr ignoriert werden kann. | |
Alle Mitgliedstaaten müssen mitmachen, dafür ist die Wirtschaft inzwischen | |
zu sehr europäisch vernetzt, egal ob bei Autos, Zement, Stahl oder Chemie. | |
Es sind europäische Fragen, wie wir erneuerbare Energien vernetzen, wie man | |
ein Netzwerk für Elektromobilität schafft, grünen Wasserstoff herstellt. | |
Unsere Aufgabe als Kommission ist es, nationale Pläne zu überprüfen und im | |
Zweifel anzusprechen, wenn es Widersprüche gibt oder sie in die falsche | |
Richtung gehen. Aber die Länder haben sich ja auf diese Ziele festgelegt. | |
Wir können koordinieren und nicht zwingen, auch wenn das leichter wäre. Wir | |
müssen mit Fakten und guten Analysen überzeugen und hoffen, dass alle in | |
dieselbe Richtung marschieren. | |
Das kann ewig dauern. | |
Es kann aber auch sehr schnell gehen. Nehmen Sie das Thema Wasserstoff. Als | |
wir vor nicht mal einem Jahr angefangen haben, unsere Strategie dazu zu | |
formulieren, haben viele gesagt: Das ist Zukunftsmusik. Heute ist das eines | |
der heißesten Themen, jeder hat verstanden, dass wir da eine Planung auf | |
europäischer Ebene brauchen, wenn wir in vier Jahren 6 Gigawatt Kapazität | |
für grünen Wasserstoff in Europa haben wollen und im Jahr 2030 schon 40 | |
Gigawatt. Das ist auch eine Riesenchance für die europäische Industrie auf | |
einem wettbewerbsfähigen Zukunftsmarkt. | |
Wie groß ist der Druck aus der Industrie für Schutzzölle gegen Ökodumping, | |
wenn die EU klimaneutral wird? | |
Die Industrie sieht deutlich, etwa beim Stahl: Wie können so nicht | |
weitermachen, dann verlieren wir in der Konkurrenz mit anderen Standorten. | |
Wir brauchen grünen Stahl, um uns zu unterscheiden, dafür brauchen wir | |
grünen Wasserstoff. Und in diesem Prozess müssen wir unsere Industrie | |
unterstützen. Wir arbeiten an einem „Carbon Border Adjustment“ für | |
Industrien wie Stahl und Zement. Sie sollen sich auf den Weg der | |
Klimaneutralität begeben, aber die muss dann auch geschützt werden gegen | |
Konkurrenz von Orten, wo man diese Entwicklung nicht macht. Diese Regel | |
muss sehr präzise sein, damit sie den Regeln der Handelsorganisation WTO | |
entspricht und nur sehr spezifische Sektoren betrifft. Wir werden diesen | |
Vorschlag nächstes Jahr vorlegen. | |
Es scheint fast, dass die Wirtschaft mehr mit Klimaneutralität anfangen | |
kann als die Politik. | |
Inzwischen ist ja die Politik immer kurzfristiger und die Industrie immer | |
langfristiger bei ihren Planungen geworden. Die großen Betriebe machen | |
Pläne für die nächsten 30, 40 oder 50 Jahre. Die Politik denkt an morgen | |
und übermorgen, vielleicht noch an nächstes Jahr. | |
Aber die Politik hat die Wirtschaft zu dieser Langfristigkeit ja erst | |
gezwungen – durch die Festlegung auf das Ziel der Klimaneutralität im Jahr | |
2050. | |
Ja, die Klimakrise, die Coronakrise und die digitale industrielle | |
Revolution haben dazu geführt, dass alle jetzt schnell Pläne machen und | |
umsetzen müssen: Wie kommen wir zur Klimaneutralität? Wir als Kommission | |
machen diese Pläne, und es ist nicht gesagt, dass alle Mitgliedstaaten | |
applaudieren und sagen, das übernehmen wir. Aber etwas ist anders als | |
früher: Keiner kann sich mehr verstecken und keiner kann sagen: Alles | |
bleibt beim Alten. | |
Dann reden wir noch mal über die Jungen. Die [3][AktivistInnen von Fridays | |
for Future] etwa sagen: Klimaneutralität im Jahr 2050 ist zu spät. Was die | |
EU tut, reicht nicht, um den Klimawandel auf 1,5 Grad zu begrenzen, dafür | |
müssten wir 2030 nicht bei minus 55, sondern bei minus 80 Prozent sein. | |
Ich glaube, wir können diese jungen Leute noch überraschen, Sie hätten | |
recht, wenn wir als Europa das allein machen und der Rest der Welt nicht. | |
Aber die ganze Welt ist wach geworden, in den kommenden Jahren werden wir | |
auch in anderen Erdteilen Fortschritte sehen. Mit unserem Vorbild können | |
wir die Welt mitnehmen und die 1,5 Grad noch schaffen. Das ist schwierig, | |
aber machbar. | |
6 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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