# taz.de -- Klimaaktivist*innen vor Gericht: Letzte Ausfahrt Tiergarten | |
> An einem Morgen in Berlin finden fünf Verfahren gegen die Gruppe | |
> „Aufstand der letzten Generation“ statt. Ein Ortsbesuch im Gerichtssaal. | |
Bild: Sommer 2022: Ein Polizeibeamter löst die festgeklebte Hand von Aimée va… | |
Von der taz bis zum Amtsgericht in Berlin Tiergarten ist es mit dem Rad | |
eine Viertelstunde, mit der Bahn dauert es gut zehn Minuten länger, und | |
beim Auto hängt es laut Google-Maps vom Verkehrsaufkommen ab, ob man mit | |
dem Fahrrad gleichziehen kann – dann hat man aber noch nicht geparkt. | |
Saal 3105. Mittwochmorgen, 9 Uhr. Vor Gericht steht Aimée van Baalen, 23 | |
Jahre, Aktivistin und Sprecherin der Gruppe „Aufstand der letzten | |
Generation“. Am 20. und 23. Juni 2022 hat sie sich an Straßenblockaden | |
beteiligt. Dabei habe sie sich „zur Erschwerung polizeilicher Maßnahmen“, | |
wie das Gericht ausführt, „mit einer Hand an der Fahrbahn festgeklebt“. | |
Nötigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte lauten die Vorwürfe. | |
Der Saal, in dem die Verhandlung stattfindet, ist klein, reicht aber aus: | |
Drei mit der Angeklagten sympathisierende Zuschauer:innen sind gekommen, | |
drei Polizeibeamte, die als Zeugen aussagen, drei Menschen von der Presse. | |
Dabei handelt es sich bei Aimée van Baalen um eines der prominenteren | |
Gesichter der „Letzten Generation“. | |
Es war ihre Stimme, die im Deutschlandfunk zu hören wa[1][r, als nach dem | |
Tod einer Radfahrerin die ganze Republik über die Verantwortung der | |
Aktivist:innen diskutierte]: „Es bestürzt uns sehr, dass eine | |
Radfahrerin von einem LKW verletzt wurde. Und wir hoffen natürlich | |
inständig, dass sich ihr Gesundheitszustand durch die Verspätung nicht | |
verschlimmert hat.“ Bei allen Protestaktionen sei für sie die Sicherheit | |
aller immer das oberste Gebot. | |
## Zweites Verfahren | |
Selbes Gericht, ein Stockwerk tiefer, Saal 2007, 9 Uhr: Im Verfahren gegen | |
Hendrik H., 24, – der nicht zu den Promis gehört und deswegen hier nicht | |
mit vollem Namen erscheint -, will die Richterin von den bezeugenden | |
Polizeibeamten jeweils genau wissen, wie „erheblich“ denn nun die | |
Verkehrsbeeinträchtigung gewesen sei, die der Angeklagte durch sein Sitzen | |
beziehungsweise Festkleben bei drei Blockaden im vergangenen Jahr auf | |
Berliner Straßen verursacht habe. | |
Im ersten Fall an einer innerstädtischen Autobahnausfahrt soll es 1,5 | |
Stunden gedauert haben, bis der Verkehr wieder fließen konnte, auch beim | |
zweiten sei der Rückstau erheblich gewesen und die Stimmung durchweg erbost | |
– in den Akten steht davon allerdings nichts. | |
Im dritten Fall kam es, da die Straße bereits gesperrt war – „keine | |
Fahrzeuge zu sehen“, sagt der als Zeuge geladenene Polizeibeamte –, zu | |
überhaupt keiner Behinderung; aber, wie die Staatsanwältin betont, schon | |
die Absicht sei strafbar. | |
Hendrik H., kurz geschorene Haare, schwarz gekleidet, sagt, er habe „alles | |
getan, was ich konnte“, um gegen die Klimakatastrophe zu protestieren, | |
bevor er sich für die hier inkriminierte Form des Widerstands entschieden | |
habe. | |
## Kleines Zeitfenster | |
Nachdem die Staatsanwältin ein Stockwerk höher vorgetragen hat, was sie van | |
Baalen zu Last legt, gibt die Richterin ihr Gelegenheit, sich zu äußern. | |
Van Baalen – offene blonde Haare, weinrote Hose, schwarzer Mantel, Piercing | |
in der Unterlippe – nimmt die Gelegenheit in Anspruch. Einen Anwalt, der | |
sie verteidigt, hat sie nicht dabei. | |
„Ich versuche eine aufrichtige, empathische Person zu sein und habe einen | |
großen Gerechtigkeitssinn“, beginnt sie. Ein paar persönliche Anekdoten | |
folgen – das freiwillige soziale Jahr im Altersheim und die Fragilität des | |
Lebens, ihr aus Südafrika stammender Vater, Armut und der Kampf um knappe | |
Ressourcen. | |
Dann kommt sie zur eigentlichen Sache, zur „Klimakatastrophe“, die „all | |
unsere Mühen für eine gerechte und liebevollere Welt komplett | |
zunichtemacht.“ Und „dass wir nur noch ein verschwindend kleines | |
Zeitfenster haben, um das zu ändern.“ Während van Baalen spricht, schaut | |
ein Justizbeamter ziellos aus dem Fenster. Die Richterin macht sich | |
Notizen, die Staatsanwältin schmunzelt. „Das, was ich leisten kann, ist | |
friedlicher Widerstand, auch wenn es mein eigenes Leben einschränkt“, | |
resümiert van Baalen. | |
Später nutzt sie die Gelegenheit, den Polizeibeamten Fragen zu stellen, die | |
als Zeugen geladen wurden. Wie sie die Stimmung bei den Blockaden | |
wahrgenommen hätten – friedlich. Ob sie verstünden, dass sie die Straßen | |
nicht aus eigennützigen Motiven blockiert hätten – ja. Die Angeklagte fragt | |
präzise, die Beamten antworten zugewandt – als stünden sie mit ihrem | |
Auftrag, das Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen, überhaupt nicht in | |
Konflikt zu den Mitteln, mit denen die „Letzte Generation“ versucht, ihren | |
Auftrag zu erfüllen. | |
90 Tagesätze à 30 Euro | |
Im Saal 2007 wird Hendrik H. nach zwei Stunden Verhandlung zu insgesamt 90 | |
Tagesätzen à 30 Euro verurteilt. Die Richterin folgt damit der Forderung | |
der Staatsanwältin. Ihre Befragungen, die Einlassungen des Angeklagten, die | |
– abgelehnten – Beweisanträge und das Schlussplädoyer des Verteidigers, d… | |
drei Zeugen, die herumgereichten „Lichtbilder“ – das alles hinterlässt d… | |
Eindruck eines rein bürokratischen Prozedere, allein schon deswegen, weil | |
Hendrik H. zu Beginn die Taten eingeräumt und betont hat, er werde von | |
seinen Aktivitäten nicht ablassen. | |
Die von der Veranstaltung durchweg genervte Staatsanwältin will auch selber | |
schon mal in einem von der „Letzten Generation“ verursachten Rückstau | |
gestandenen haben und macht mit ihrer Forderung, in ähnlichen Fällen | |
zukünftig auch kurze Freiheitsstrafen zu verhängen, deutlich, dass | |
Repression das Vertrauen in den Rechtsstaat sichern soll. | |
Der Angeklagte, der dieses Vertrauen schon verloren hat, sieht sich | |
sozusagen doppelt bestraft: Als Opfer des menschengemachten Klimawandels | |
sowie eines Rechtsstaates, der einen Notstand, welcher ein Widerstandsrecht | |
begründen könnte, nicht erkennen mag, obwohl, wie die Richterin betont, sie | |
„keine Klimagegnerin“ sei. | |
Vielleicht gehört sie zu den Menschen, die, wie der sehr verletzlich | |
wirkende Angeklagte nicht ohne jugendliche Hybris sagt, „das Problem leider | |
noch nicht gänzlich begriffen haben.“ | |
## Das Gericht nimmt zur Kenntnis | |
In Saal 3105 stellt die Angeklagte ihre vier Beweisanträge selber. Mit | |
einer [2][Stellungnahme des Klimaforschers Wolfgang Lucht] will sie | |
beweisen, dass die Bundesregierung „im zivilisationsgefährdenden | |
Klimanotstand“ versage. Das Gericht nimmt dies zur Kenntnis. | |
Um zu beweisen, dass „friedlicher, ziviler Widerstand“ zu den „effektivst… | |
Mitteln“ gehört, „um schnelle soziale und politische Veränderung | |
voranzutreiben“, möchte sie, dass der Protestforscher Simon Teune geladen | |
wird. Das Gericht lehnt das ab. | |
In ihrem Schlussplädoyer spricht die Angeklagte die Richterin persönlich | |
an: Sie, die Richterin, habe heute die „Möglichkeit“, mit ihrem Urteil ein | |
Zeichen „für den Überlebenswillen der Gesellschaft“ zu setzen oder sich z… | |
„Komplizin bei der Vernichtung von Menschen im globalen Süden und | |
zukünftigen Generationen“ zu machen. | |
Die Richterin entscheidet sich für eine Geldstrafe in Höhe von 40 | |
Tagessätzen zu je 10 Euro, „wegen Nötigung in zwei Fällen, davon in einem | |
Fall wegen versuchter Nötigung, jeweils in Tateinheit mit Widerstand gegen | |
Vollstreckungsbeamte“. Sie bleibt damit geringfügig unter der Forderung der | |
Staatsanwaltschaft und findet, dass es geeignetere, weniger gefährliche | |
Möglichkeiten gibt, um auf die Problematik aufmerksam zu machen. | |
Beim Zurückradeln in die Redaktion gibt es die für diese Streckenlänge | |
üblichen zwei Begegnungen mit Autos, bei denen Vollbremsungen schwere | |
Verletzungen vermeiden. Aber schöner unterwegs sind die Radler jedenfalls, | |
man sieht die Krokusse im Tiergarten und hört die Vöglein singen. | |
Hendrik H. sieht sich im Recht mit dem, was er tut, aber er bekommt es | |
derzeit nicht. Das ist nicht das Schlechteste, was man mit seiner Jugend | |
anfangen kann. | |
23 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
Ambros Waibel | |
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haben. |