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# taz.de -- Perspektiven der Klimabewegung: Praktisch rau, theoretisch mau
> „Letzte Generation“ und „Extinction Rebellion“ setzen auf
> Gesellschaftsräte gegen die Klimakrise. Über den Kapitalismus wollen sie
> nicht reden.
Bild: Klimaaktivist*innen bei der Eröffnung des „Extinction Rebellion“- Ca…
Am frühen Mittwochabend wirkt das Protestcamp im Berliner Invalidenpark
noch nicht besonders voll. „Eine bessere Welt ist möglich“ steht auf einem
riesigen Transparent, das von einer Rampe in der Mitte der Grünfläche
hängt. Daneben das markante X im Kreis, das eine Sanduhr darstellen soll,
die Botschaft ist: Uns läuft die Zeit davon.
In den kommenden Tagen soll es sich hier füllen. Das gesamte Wochenende
über sind Demos und Aktionen des zivilen Ungehorsams von Extinction
Rebellion angekündigt. Ab nächster Woche übernimmt dann die Letzte
Generation die Protestchoreografie und ruft zu zahlreichen Aktionen in ganz
Berlin auf, um auf die Klimakrise aufmerksam machen.
In den letzten eineinhalb Jahren hat es die Letzte Generation geschafft,
sich mit einer hohen Taktung von Straßenblockaden in die Schlagzeilen zu
katapultieren. In der Öffentlichkeit wird die Gruppe als radikale
Sperrspitze der Klimabewegung wahrgenommen. Doch wie radikal ist ihr
Programm wirklich?
Eine der zentralen Forderungen ist die Einberufung eines sogenannten
Gesellschaftsrats. Auch Extinction Rebellion setzt maßgeblich auf ein
solches Gremium, bei ihnen heißt es Bürger*innenrat. Das Konzept ist bei
beiden Organisationen das gleiche: Per Losverfahren ausgewählte
Bürger*innen sollen zusammenkommen, um über effektive Maßnahmen zum
Klimaschutz zu beraten. Die erarbeiteten Vorschläge werden dann dem
Parlament vorgelegt. Anhand von Kriterien wie Alter, Geschlecht,
Bildungsgrad oder „Migrationshintergrund“ soll sichergestellt werden, dass
die Bevölkerung repräsentativ abgebildet wird. „Deutschland in klein“, wie
die Letzte Generation auf ihrer Website schreibt.
## Pariser Klimaziele
Wissenschaftler*innen sollen den Gesellschaftsrat mit ihrer Expertise
unterstützen. Schon bestehende Forderungen der Letzten Generation dürften
nicht fehlen, so etwa ein Tempolimit von 100 Stundenkilometer, ein
dauerhaftes 9-Euro-Ticktet sowie die Analyse, dass die Nutzung von fossilen
Rohstoffen bis 2030 beendet werden muss, will man die Pariser Klimaziele
noch einhalten.
Ob Maßnahmen zum Klimaschutz von gesellschaftlichen Mehrheiten getragen
werden, wenn diese mit der Änderung alltäglicher Lebensgewohnheit oder dem
Verlust eigener Privilegien einhergehen, ist allerdings fraglich. [1][Dass
die Mehrheitsmeinung keineswegs per se fortschrittlich ist,] verdeutlichen
soziologische Studien sowie Wahlergebnisse immer wieder aufs Neue. Die
bloße Beratung durch Expert*innen wird dieses Problem nicht lösen.
Doch die Forderung nach Gesellschaftsräten hat noch ein weiteres
grundlegendes Problem: Sie klammert die strukturellen Ursachen der
Klimakrise aus. Der Kapitalismus ist auf dauerhaftes Wachstum angewiesen.
Dieses Wachstum zu gewährleisten, ist der zentrale Auftrag von Regierungen
im Kapitalismus.
Ob das gelingt, entscheidet über Erfolg oder Scheitern in der globalen
Staatenkonkurrenz, über politische Einflusssphären und über die
Möglichkeit, die eigenen Gesellschaften mit sozialstaatlichen Mitteln zu
befrieden. Der Zwang zu permanentem Wachstum und der damit steigende
Ressourcenverbrauch treibt die Klimakrise aber immer weiter an. Die
kapitalistische Profitlogik steht in einem grundlegenden Widerspruch zum
Schutz der ökologischen Lebensgrundlagen des Menschen.
## Enteignung? Von wegen!
Was passiert, wenn sich Mehrheiten für Forderungen gewinnen lassen, die am
Prinzip der Profitmaximierung etwas ändern wollen, zeigte nicht zuletzt der
Volksentscheid über die Enteignung von großen Immobilienkonzernen in
Berlin. Eine deutliche Mehrheit stimmten für Enteignungen. Passiert ist bis
heute nichts. Zu groß die Angst, Investor*innen zu verschrecken und
Berlin als Wirtschaftsstandort zu gefährden.
„Die bisherige Politik der Bundesregierung hat gezeigt, dass sie keinen Weg
findet, uns aus dem Pfad der Zerstörung herauszuführen.“, stellt die Letzte
Generation in ihren FAQs zum Gesellschaftsrat fest. Die Frage, warum das so
ist, wird nicht beantwortet. Der Gruppe gelingt es, hunderte Menschen zu
Aktionen zivilen Ungehorsams zu bewegen. Doch wenn die vermeintlich
radikalen Aktionen auf eine diffuse Politikberatung mit unklaren Inhalten
abzielen, wird sich am Fortschreiten der Klimakrise nichts ändern.
Eine Sprecherin von Fridays for Future (FFF) warf der Letzten Generation
kürzlich vor, die Gesellschaft zu spalten. Die Grünen stimmten in die
Distanzierung mit ein, [2][nannten die Aktionen „elitär und
selbstgerecht“]. Stattdessen sucht die Basis von FFF den Schulterschluss
mit Beschäftigten des öffentlichen Nahverkehrs. Andere Teile der Bewegung
wollen mit Besetzungen von Schulen und Universitäten Druck aufbauen.
Gruppen wie Ende Gelände versuchen mit Sabotagen und Blockaden der
Infrastruktur fossiler Energieträger Wege für die Klimabewegung aufzuzeigen
und nehmen dabei eine antikapitalistische Haltung ein.
So begrüßenswert eine Vielfalt an Aktionsformen ist: Ohne eine klare
Analyse der Verhältnisse wird die bessere Welt, die Extinction Rebellion
fordert, nicht kommen.
16 Apr 2023
## LINKS
[1] /Berlin-Klimaneutral-2030/!5923766
[2] /Letzte-Generation-in-der-Kritik/!5924697
## AUTOREN
Tim Döpke
## TAGS
Schwerpunkt Fridays For Future
Extinction Rebellion
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Kapitalismus
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Schwerpunkt Klimawandel
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