| # taz.de -- Klassikerwerdung einer Avantgardeband: Lauthals die Stille hörbar … | |
| > Eine Band, die mehr vorhatte, als Spießern wohltuende Wutanfälle zu | |
| > bereiten. In Berlin diskutierte man über die Einstürzenden Neubauten. | |
| Bild: Einstürzende Neubauten: Über ihre Bedeutung debattierten in Berlin Germ… | |
| „Ich habe kein einziges Mal das Wort ‚Provokation‘ gehört“, bemerkte e… | |
| Besucher der Tagung „Alles wieder offen“, bei der man im Literaturforum im | |
| Berliner Brecht-Haus die Einstürzenden Neubauten „zwischen Klang, Wort und | |
| Ritus“ verhandelte, nachdem die in Reading lehrende Germanistin Melani | |
| Schroeter ihren Vortrag zur Eröffnung beendet hatte. | |
| Dass dieses Wort nicht vorkam, sei kein Zufall, antwortete Schroeter, da es | |
| den Neubauten und ihrem Sänger Blixa Bargeld seit Beginn ihrer Karriere | |
| 1980 eher um eine „strategisch-polemische Positionierung“ gegangen sei. | |
| Laut Schroeter hatten die Neubauten von Anfang an mehr vor, als Spießern | |
| wohltuende Wutanfälle zu bereiten. | |
| Ihr Kollege Falk Strehlow von der Internationalen Heiner Müller | |
| Gesellschaft berichtete anrührend, wie die wechselseitige Wertschätzung des | |
| Dichters der „Hamletmaschine“ und der Westberliner Avantgardegruppe zwar zu | |
| mehrfachen Gesprächsversuchen und „produktiven Missverständnissen“ gefüh… | |
| habe, aber letztlich doch nicht zu einer Zusammenarbeit. | |
| Ein Beispiel dafür liefere ein Treffen zwischen Bargeld und Müller, bei dem | |
| es darum ging, etwas gemeinsam zu schreiben. Doch Müller habe sich in der | |
| Unterhaltung darauf beschränkt, Literaturhinweise zu geben. „Schau dir das | |
| mal an und das und das“, habe Müller laut Strehlow immer wieder Bargeld | |
| aufgefordert, der sich im Anschluss die damit gemeinten Texte besorgte und | |
| den geplanten Text daraus allein zusammenstellte. | |
| ## Intensives Präsenz | |
| Für den aus Sydney angereisten Sozialwissenschaftler Andrew Hurley haben es | |
| die Neubauten auf ihrem bis dato letzten Album, „Lament“, einer | |
| Auftragsarbeit zur Erinnerung an den Tag des Ausbruchs des Ersten | |
| Weltkriegs vor 100 Jahren, geschafft, mit Musik und Text nachvollziehbar zu | |
| machen, wie im Krieg „intensives Präsens und geschichtliches Erleben“ in | |
| ein und denselben Moment gepresst würden. | |
| Wenn die Psychoanalytikern Margarete Mitscherlich und ihr Mann Alexander | |
| Mitscherlich in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eine Unfähigkeit, zu | |
| trauern, und eine „melancholische Stille“ feststellen konnten, dann sei den | |
| Neubauten mit „Lament“ nicht weniger gelungen, so Hurley weiter, als diese | |
| Trauer und Stille lauthals und eindrucksvoll hörbar werden zu lassen. | |
| ## Am Schluss kam Blixa | |
| Zum Abschluss der Tagung setzte sich Blixa Bargeld an ein Tischchen vor das | |
| gespannte, teils aus Polen und Frankreich angereiste Publikum. Darauf stand | |
| ein Laptop, rechts davon eine Flasche Grauburgunder und links ein Glas mit | |
| Knabbersticks. | |
| Er komme gerade aus dem Studio, informierte Bargeld die Anwesenden, wo die | |
| Neubauten zurzeit an einem umfänglichen, mehrere Platten umfassenden „Werk“ | |
| arbeiten. Als Bargeld es mit seinem sanft-schattigen Timbre so bezeichnete, | |
| klang es wie „Bergwerk“. Über ihm warf ein Beamer die Reihenfolge für die | |
| nun folgende humorvolle Darbietung an die Wand: „Text. Verhör. | |
| Weinverlosung.“ | |
| Bargeld spielte zunächst selbst produzierte Podcasts – Studioaufnahmen aus | |
| den achtziger Jahren, dazu Werkstattberichte – vor. Er saß bloß da, mit | |
| geschlossenen Augen und leicht nach hinten gelehntem Kopf, und bot doch in | |
| jedem Moment eine durch und durch eindrucksvolle Erscheinung. Da stimmte | |
| alles, das gekämmte, volle Haupthaar ebenso wie der Maßanzug aus Hongkong. | |
| ## Auftritt eines Sängerfürsten | |
| Bargeld kann, in Anlehnung an den Begriff des Malerfürsten, mit Fug und | |
| Recht ein Sängerfürst genannt werden. Im Brecht-Haus wirkte er zudem wie | |
| ein geistiger Enkel der wie er im Bezirk Schöneberg aufgewachsenen | |
| Schauspielerin und Sängerin Marlene Dietrich. Beide hielten beziehungsweise | |
| halten in allen ihren Äußerungen, sei es bei Liedern, Rezitationen, Film- | |
| oder Theatertexten, mit geradezu preußischer Disziplin einen majestätischen | |
| Gestus durch. | |
| Nur in vereinzelten Momenten, wenn Bargeld hier ein bisschen mitsang und | |
| dort sein eigenes Schaffen mit „schön“ oder „interessant“ kommentierte, | |
| ähnelte er einem prätentiösen Kauz. | |
| Danach wurde Bargeld aus dem Publikum gefragt, ob es Texte von ihm gebe, | |
| die er für besonders gelungen oder schön halte. Bargeld antwortete: „Leider | |
| viele.“ | |
| In einer Zeitung, wollte jemand wissen, habe gestanden, dass Bargeld | |
| „Lament“ nicht zum Katalog der Neubauten zähle. Dem sei nicht so, | |
| korrigierte Bargeld sinngemäß, und fügte einen Satz an, bei dem offenblieb, | |
| ob es sich um die Vorarbeit zu einer Songzeile handelte oder um die | |
| Reaktion auf eine Laus, die ihm gerade über die Leber gelaufen war: | |
| „Journalismus ist ein Irrtum der Evolution.“ Da hatten alle im Raum wieder | |
| etwas gelernt. | |
| 19 May 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Kristof Schreuf | |
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