# taz.de -- Andreas Spechtls Album, „Strategies“: Strategien gegen brennend… | |
> Andreas Spechtl liefert mit seinem theatralischen neuen Soloalbum, | |
> „Strategies“, ein bestürzend eindringliches Gegenwartsdrama. | |
Bild: Andreas Spechtl | |
Der österreichische Musiker Andreas Spechtl hat mit Mitte 30 bereits so | |
viel veröffentlicht, wie manch ein Kollege in einem ganzen Künstlerleben. | |
Nach fünf teils gefeierten Alben mit seiner Band Ja, Panik bekam der | |
Wahlberliner Lust, sich auch jenseits der Bandaktivitäten umzuschauen. | |
Seitdem nimmt er unter anderem als Orchesterleiter Musik mit Christiane | |
Rösinger auf, findet als Deus ex Machina mit dem Berliner Labelbetreiber | |
(Staatsakt) und Sänger Maurice Summen für dessen Projekte kompositorische | |
Lösungen, arrangiert und textet Musik für Theaterprojekte. | |
Spechtl zieht aber nicht nur künstlerisch Kreise, er kommt auch in der Welt | |
herum. Dabei hat er mehr vor, als im Kopf längst fertig gestellte Stücke an | |
exotischen Locations den letzten Schliff zu geben. Stattdessen traf er | |
andere MusikerInnen, etwa im Iran. Dort tauschte er die Gitarre gegen | |
Synthesizer, Klavier und Schlagzeug. Der Songwriter Spechtl, der bei Ja, | |
Panik in der Pflicht steht, zu liefern, verwandelte sich in der Ferne in | |
einen Weltreisenden, der ambitionierte Klanglandschaften mit Instrumenten | |
malt. So entstand 2017 das Album „Thinking about tomorrow and how to build | |
it“. | |
Sein neues Album, „Strategies“, nahm den Anfang wiederum im mexikanischen | |
Santiago de Querétaro. Gleich mit dem Auftakt, „Openings“, zieht Spechtl | |
eine Zwischenbilanz. Hinter ihm, singt er auf Englisch, liegen wenig | |
erzählte und kaum noch erinnerte „Verwandlungen, Unsicherheiten und | |
Release-Termine“. Die Musik dazu liefert nicht weniger als ein haarscharfes | |
Porträt des 21. Jahrhunderts, das ähnlich auch Alben etwa von Malakoff | |
Kowalski oder von Talk Talk zeichnen. | |
## Erinnerungen und Revolutionen | |
Im zweiten Teil von „Openings“ singt Spechtl, dass „wir die Welt ändern�… | |
werden. Und zwar aus dem einzigen Grund, „weil wir das so viele Male vorher | |
auch schon gemacht haben“. Damit verwandeln sich auf „Strategies“ | |
Revolutionen – ob sie Gesellschaften, Computer oder Ernährung betreffen – | |
in Erinnerungen, die durch Wiederholung allmählich verblassen. | |
Entsprechend entfaltet ein Slogan wie „We will change the world“ seine | |
Kraft nicht nur in weit zurückliegenden, versunkenen Zeiten, wie etwa den | |
von Jahr zu Jahr immer sagenumwobeneren sechziger Jahren, manchmal scheint | |
heute auch kaum noch glaubhaft, dass es jene Sechziger überhaupt gegeben | |
haben soll. Dieser Entwicklung begegnet Spechtl mit lässigem Historismus. | |
„We will change the world“ singt er, wie ein in die Gegenwart versetzter | |
Thomas Dolby. | |
Das Ergebnis ist eine anziehende Mischung. Im zweiten Stück, „The | |
Separate“, stehen der schieren Menge künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten | |
von Kraftwerk bis Michael Rother Leute gegenüber, die „sich selbst | |
verdunkeln“. Die Romantik der Musik trägt Boxkämpfe mit den Biografien von | |
Spechtls Wegbegleitern aus. HörerInnen sehen förmlich die Neonlichter an | |
den Decken der Räume, in denen „The Separate“ als Gegenwartsdrama | |
aufgeführt wird. Es kann das Herz auf eine Weise zerreißen wie der Tod | |
Mimis in Puccinis Oper „La Bohème“. | |
## Die Gespenster der Vergangenheit und der Zukunft | |
Von da an melden sich auf „Strategies“, dramaturgisch wirkungsvoll | |
aufgebaut, immer mehr Gespenster der Vergangenheit, aber auch der Zukunft | |
zu Wort. Spechtl verwandelt sich als Sänger in eine Bauchrednerpuppe | |
unterschiedlichster Zeiten. In „Hot Hell“ klingt er wie ein sanftentrückter | |
Holger Czukay. In „Pretty Views“ hat er den Fehdehandschuh aufgenommen, den | |
das Leben allen irgendwann mal vor die Füße wirft. Spechtl raunt: „They | |
will fill our tongues with barbarism.“ Schon die flüchtigsten Begegnungen | |
lassen auf unseren Zungen nichts mehr liegen außer Verwünschungen. | |
Es kann immer noch schlimmer kommen, hinter jedem Silberstreif am Horizont | |
lässt sich eine weitere Katastrophe erkennen. In absehbarer Zeit wird | |
womöglich nichts mehr übrig sein außer der „Zeit“, die Spechtl in „The… | |
(the money)“ ins Auge fasst. „Die Zeit wird überleben“, singt er, lässt | |
aber offen, ob es sich dabei um eine Drohung handelt. Zeit, das formuliert | |
Spechtl auf „Strategies“ höchst eindrucksvoll, ist ein Musikinstrument | |
geworden, mit dem sich ein Systemneustart komponieren lässt. | |
Spechtl spielt dieses Instrument auf „Strategies“ mit intuitiver | |
Sicherheit. Die Chronologie geht ihm spürbar unter die Haut und führt ihn | |
gefasst durch Augenblicke und Ewigkeiten. In „When we were Young“ ist Zeit | |
ein „Tunnel“, durch den ein Nachhall durchklingt. | |
## Ohne Schiffe keine Träume | |
Michel Foucault hat in einem Text über Heterotopien die These aufgestellt, | |
dass eine Gesellschaft, die keine Schiffe hat, auch keine Träume haben | |
kann. In diesem Sinn handelt es sich bei Spechtls „Strategies“ um eines der | |
Schiffe, die in den Romanen von Joseph Conrad unterwegs sind. Sie fahren | |
über Ozeane voll mit Augenblicken und Lebenszeiten, unter einer Sonne, von | |
der statt Strahlen Gedanken herunterbrennen. | |
Und dort, in einer uferlosen Weite, lässt sich gut über Privates | |
nachdenken. Über Beziehungsgeschichten, in denen Leute, um sich zu | |
unterhalten, keine Worte austauschen, sondern Betten anzünden, wie das im | |
Titelsong des Albums geschieht. Spechtls brennendes Bett klingt hier nach | |
einer statisch aufgeladenen Meditation von David Sylvian. Es ist das | |
Finale. Wenn es endet, ist klar, dass es immer weitergehen könnte. Mehr | |
lässt sich von einem Popalbum nicht verlangen. | |
25 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Kristof Schreuf | |
## TAGS | |
Popmusik | |
Neues Album | |
David Berman | |
Westberlin | |
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