| # taz.de -- Kindeswohlgefährdung in Bremen: Handschellen für Teenager | |
| > Die Bremer Polizei soll unbegleitete Minderjährige aus einer | |
| > Erstaufnahmeeinrichtung in andere Bundesländer „verteilt“ haben – in | |
| > Handschellen. | |
| Bild: Sollten eigentlich nicht Teil von „Maßnahmen“ gegen Minderjährige s… | |
| BREMEN taz | Wenn morgens um sechs Uhr PolizistInnen in eine Wohnung | |
| stürmen, jemanden überwältigen, ihm Handschellen anlegen und ihn mitnehmen, | |
| dann ist eigentlich klar: Hier wird jemand verhaftet, der bestimmt | |
| gefährlich ist. In der Erstaufnahmeeinrichtung Steinsetzerstraße in Bremen | |
| (EAE) soll dieses Verfahren jedoch auch angewendet worden sein, um | |
| unbescholtene minderjährige Geflüchtete „umzuverteilen“. | |
| Gundula Oerter vom Bremer Flüchtlingsrat berichtet von zwei Fällen. Der | |
| erste trug sich im vergangenen Oktober zu. Damals sei ein 16-Jähriger von | |
| einem Dutzend Polizisten frühmorgens in seinem Zimmer in der EAE aus dem | |
| Bett gerissen und in Handschellen in ein Auto gesetzt worden. „Er wurde in | |
| eine Jugendhilfeeinrichtung ins niedersächsische Umland gebracht und musste | |
| auf der zweistündigen Fahrt die ganze Zeit Handschellen tragen. Damit wurde | |
| er auch in die Einrichtung geführt“, sagt Oerter. Mitarbeitende der | |
| Jugendhilfeeinrichtung hätten das bestätigt. | |
| Der zweite Fall hat sich erst vor wenigen Tagen zugetragen: Ungefähr zehn | |
| PolizistInnen holten am vergangenen Donnerstag einen 17-Jährigen um sechs | |
| Uhr morgens aus dem Bett, legten ihm ebenfalls Handschellen an und nahmen | |
| ihn mit: „Sein Zimmernachbar musste das alles mit ansehen“, erzählt Oerter. | |
| Der Jugendliche wurde nicht ins Umland, sondern nach Brandenburg gebracht – | |
| während der über sechsstündigen Autofahrt wurden auch seine Handfesseln | |
| nicht abgenommen. | |
| ## „Maßnahme der Jugendhilfe“ | |
| „Gegen beide Jugendliche ist kein Strafverfahren anhängig. Niemand hatte | |
| behauptet, sie seien gefährlich, niemand musste vor ihnen geschützt | |
| werden“, sagt Oerter. Bei der Abholung und dem Transport handelte es sich | |
| ausschließlich um die „[1][Durchsetzung einer Maßnahme der Jugendhilfe“], | |
| nach der unbegleitete minderjährige Geflüchtete nach einer festen Quote | |
| bundesweit auf andere Kommunen verteilt werden, hier im Auftrag des Bremer | |
| Jugendamtes, in dessen Obhut sich die Jugendlichen befanden. | |
| In beiden Fällen waren die Jugendlichen bereits seit mehreren Monaten in | |
| Bremen und besuchten dort auch die Schule. Beide hatten laut Flüchtlingsrat | |
| bereits mehrfach, auch schriftlich, gegenüber dem Jugendamt erklärt, dass | |
| sie „wegen ihrer hier bestehenden sozial-emotionalen Bezüge und | |
| schützenswerten Bindungen nicht aus Bremen wegverteilt werden möchten“. | |
| Das Jugendamt, sagt der Flüchtlingsrat, habe dies allerdings nicht | |
| interessiert, sondern sogar argumentiert, die Verteilung liege „im | |
| Interesse des Kindeswohls“: Bei der EAE handele es sich nur um eine | |
| vorübergehende Inobhutnahme, die nicht für einen dauerhaften Aufenthalt | |
| geeignet sei. | |
| Dass die zwangsweise „Verteilung“ eines Jugendlichen und die Fesselung mit | |
| Handschellen keineswegs im Interesse des Kindeswohls liegt, hat bereits im | |
| Jahr 2017 [2][ein Gutachten] des Deutschen Vereins für öffentliche und | |
| private Fürsorge (DV) festgestellt. Unter anderem heißt es dort, die | |
| Verteilung sei „ausgeschlossen, wenn sich das Kind oder der Jugendliche der | |
| Durchführung eines Verteilungsverfahrens verweigert und aufgrund seines | |
| seelischen Zustands zu befürchten ist, dass eine Durchführung der | |
| Verteilung entgegen dieser starken Ablehnungshaltung mit hoher | |
| Wahrscheinlichkeit zu einer (Re-)Traumatisierung führen kann“. Spätestens | |
| bei einer Überführung in Handschellen und Fußfesseln oder unter Anwendung | |
| anderer Zwangsmittel durch die Polizei sei davon auszugehen, dass das | |
| Kindeswohl gefährdet ist. | |
| [3][Dem DV gehören viele Träger der Freien Wohlfahrtspflege an], so auch | |
| das Diakonische Werk Bremen. Zu ihm wiederum gehört der „Verein für Innere | |
| Mission“ – und der betreibt die Bremer Erstaufnahmeeinrichtung. Laut | |
| Aussage der beiden Jugendlichen, sagt Oerter, sei bei beiden Abholungen der | |
| Einrichtungsleiter der EAE anwesend gewesen. Auf Nachfrage der taz sagt die | |
| zuständige Bereichsleiterin der Inneren Mission allerdings, ihr seien diese | |
| Fälle nicht bekannt. | |
| ## Transfer kann erzwungen werden | |
| Laut dem Sprecher der Bremer Sozialbehörde hat es bei der Verteilung von | |
| Jugendlichen „in den Jahren 2018 und 2019 zusammen in vier Fällen die | |
| Androhung oder Anwendung unmittelbaren Zwangs gegeben“. Komme ein | |
| Jugendlicher seinen Mitwirkungspflichten im Zuge des Verteilverfahrens | |
| nicht nach, und seien „alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die freiwillige | |
| Mitwirkung zu erwirken“, könne der Transfer erzwungen werden. | |
| Das werde vom Jugendamt angeordnet, von der Polizei in Amtshilfe umgesetzt | |
| und von einer Fachkraft aus dem Jugendamt begleitet. „Diese kann die | |
| Zwangsmaßnahme abbrechen, wenn sie das Kindeswohl gefährdet sieht“, sagt | |
| der Behördensprecher. „Die Zwangshandlung muss angemessen sein – also vor | |
| allem: erforderlich und angemessen.“ | |
| Auch bei den beiden Jugendlichen waren Mitarbeitende des Jugendamtes dabei. | |
| Dennoch: „Der Junge, der in der vergangenen Woche abgeholt wurde, durfte | |
| sich laut eigener Aussage nicht einmal etwas Vernünftiges anziehen“, | |
| berichtet Oerter. Seine Reise nach Brandenburg habe er in Shorts | |
| angetreten. | |
| Bei dem Jungen, der im Oktober „verteilt“ worden war, scheint das Bremer | |
| Jugendamt indes begriffen zu haben, dass dies nicht im Interesse des | |
| Kindeswohls gelegen hat: „Es hat seine Entscheidung wieder zurückgenommen – | |
| der Junge ist inzwischen zurück in Bremen“, sagt Oerter. „Das | |
| traumatisierende Erlebnis der Zwangsmaßnahme konnte damit aber | |
| selbstverständlich nicht geheilt werden.“ | |
| 16 Jan 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbviii/42b.html | |
| [2] https://www.socialnet.de/materialien/attach/358.pdf | |
| [3] https://www.deutscher-verein.de/de/mitglieder-2283.html | |
| ## AUTOREN | |
| Simone Schnase | |
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