# taz.de -- Kiels erster Drogenkonsumraum: „Crack verändert alles“ | |
> Kiel soll dieses Jahr einen Drogenkonsumraum bekommen, den ersten in | |
> Schleswig-Holstein. Das allein wird die Probleme der Betroffenen aber | |
> nicht lösen. | |
Bild: Im Kieler Stadtteil Gaarden gibt es zwar eine offene Drogenszene aber der… | |
KIEL taz | Die Hecke schirmt in zwei Richtungen ab. An diesem Dezembertag | |
ist alles nass im Kieler Schützenpark, die schneelose Wiese, die wenigen | |
braungrauen Blätter an den Bäumen und die Hecke, die eine kleine Fläche | |
genau in der Mitte des Parks umgibt. Auf der steht ein Dutzend Leute | |
zusammen unter einem durchweichten Schirm mit dem Logo einer Biermarke. | |
Einige reiben sich die Hände warm, andere laufen auf und ab. Das ist die | |
offene Drogenszene vom Kieler Westufer. | |
Die Hecke schützt die Menschen in der Mitte vor den Blicken der | |
Passant*innen und diese vorm Anblick offen Drogen konsumierender | |
Menschen. Die Stadt hat sie vor Jahren gepflanzt. „Nachdem es immer mehr | |
Beschwerden über die Drogenkonsument*innen im Park gegeben hat, hat | |
sich Kiel gefragt: Wie können beide Seiten zufrieden sein?“, erklärt | |
Andreas Dehnke, Geschäftsführer vom Verein Odyssee, der mehrere | |
Einrichtungen der akzeptierenden Drogenhilfe in Kiel betreibt. | |
„Man kann sagen, dass Kiel eine relativ progressive Drogenpolitik | |
vertritt“, sagt Dehnke. Trotzdem gibt es in Kiel bisher noch keinen | |
Drogenkonsumraum, also einen Ort an dem man illegale Drogen unter | |
hygienischen Bedingungen und medizinischer Aufsicht konsumieren kann. | |
Deswegen treffen sich Menschen noch immer an Orten wie dem Schützenpark. In | |
diesem Jahr soll sich das aber ändern. 2024 will Kiel den ersten | |
Drogenkonsumraum im Land eröffnen. Schleswig-Holstein wäre damit das neunte | |
Bundesland mit Konsumraum. Die meisten gibt es in Nordrhein-Westfalen. Auch | |
in [1][Bremen] und [2][Hamburg] gibt es welche. | |
Andreas Dehnke begrüßt den Plan. „Wir fordern das schon seit 20 Jahren“ | |
sagt er. Sein Verein soll den Konsumraum betreiben, zusammen mit der | |
Drogenhilfe Kiel. Ein Raum mit sauberem Zubehör und medizinischer Hilfe für | |
den Notfall könne die Lebenssituation Drogen konsumierender Menschen | |
erheblich verbessern, ist sich Dehnke sicher. Die Wissenschaft bestätigt | |
ihn. Studien aus Frankfurt beispielsweise zeigen, dass Drogenkonsumräume | |
Leben retten können. | |
## Sauberes Besteck und etwas Warmes | |
Nur hundert Meter vom Schützenpark entfernt liegt der [3][Kontaktladen | |
Claro], der vom Verein Odyssee betrieben wird. Das Claro ist für Menschen | |
da, die illegale Drogen konsumieren oder substituiert sind und | |
Unterstützung suchen. Hier kann man sich treffen, kann sauberes | |
Konsumbesteck, Beratung oder für ein paar Euro was Warmes zu essen | |
bekommen. Drogenkonsum ist im Claro verboten. | |
Vor der Tür sitzt Arne auf einer hellen Holzbank. Er ist fertig mit der | |
Mahlzeit des Tages und legt den Löffel auf den Teller. Der 44-Jährige trägt | |
Cap, Jeans und Turnschuhe, ist ein bisschen hibbelig und bittet um konkrete | |
Fragen, „sonst spring ich von einer Sache zur anderen“. | |
Ins Claro komme er seit er 16 ist, sagt Arne. Er ist einer, den man einen | |
angenehmen Typen nennt und er spricht gerne über seine Geschichte. Er sagt, | |
„wenn ich damit irgendwelchen Leuten helfen kann, immer los“ und erzählt | |
von einer Spirale aus Sucht, Beschaffungskriminalität, Knast, Entgiftung, | |
Therapie und Rückfall. Seine Geschichte beginnt mit Gras, handelt von | |
Heroin, Kokain und Crack. Seit Jahren ist Arne substituiert, nimmt also | |
statt Heroin eine Ersatzsubstanz. | |
Damit ist er in Kiel nicht alleine. In Kiel gibt es im Verhältnis zur | |
Einwohner*innenzahl mehr Substituierte als etwa in Hamburg oder | |
Berlin. Das hat historische Gründe. Der [4][Arzt und Pionier der | |
Substitutionstherapie Gorm Grimm] hat hier schon in den 1980ern damit | |
angefangen, stark heroinabhängigen Menschen Codein und später Methadon zu | |
verschreiben. Beides hat kein vergleichbares High zur Folge, aber mildert | |
Entzugserscheinungen ab und kann Leben verlängern. Viele Menschen kamen | |
damals extra für die Substitution nach Kiel. Das wirkt bis heute nach. Zwei | |
Straßenecken vom Claro entfernt liegt eine der größten Drogenambulanzen | |
Deutschlands mit 600 Plätzen. | |
Die vielen Substitutionspraxen in der Nähe sind auch der Grund, wieso der | |
Schützenpark zum Konsumort geworden ist. „Ich geh da nicht mehr hin“, sagt | |
Arne. Anders als früher sei die Stimmung aggressiv und es werde viel | |
geklaut. „Hauptthema ist Steine – immer Steine, Steine, Steine“ sagt er u… | |
meint damit die Droge Crack. „Crack verändert alles.“ | |
## Crack ist vielen Städten ein Problem | |
Wie viele andere Städten in Deutschland erlebt auch Kiel [5][eine | |
Crackwelle]. „Konsumierende sind aufgekratzt, nehmen schnell viel ab und | |
sind körperlich nach kurzer Zeit richtig runter“, sagt Andreas Dehnke vom | |
Verein Odyssee. Das verändere die Stimmung in der Szene. Ob der | |
Drogenkonsumraum da Abhilfe schaffen kann, darauf will sich Dehnke nicht | |
festlegen. „Ein Konsumraum ist gut, aber alleine wird das nicht ausreichen“ | |
sagt er. | |
Eigentlich hat die Stadt Kiel schon Anfang 2021 beschlossen, dass der | |
Drogenkonsumraum kommen soll. Das Land hat daraufhin die rechtlichen | |
Voraussetzungen geschaffen, dann wurde die Realisierung Jahr für Jahr nach | |
hinten verschoben. | |
Florian Wrobel, drogenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke/Die | |
Partei in der Kieler Ratsversammlung wirft der Stadt vor, die Sache | |
verschleppt zu haben. „Wir haben von Anfang an das Gefühl, dass die Stadt | |
und das Sozialdezernat den Konsumraum nicht so richtig wollen“ sagt Wrobel. | |
In seinen Augen bremst vor allem die SPD. | |
Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD) widerspricht. „Wir arbeiten vielleicht | |
nicht mit Lichtgeschwindigkeit, aber verschleppt wird hier nichts“ sagt | |
Kämpfer. Er betont, dass ein Konsumraum teuer ist. Rund 1,2 Millionen Euro | |
im Jahr werden es sein, die Stadt trägt die Kosten allein. „Für eine | |
Kommune wie Kiel ist das nicht leicht zu stemmen“ sagt Kämpfer. | |
Zudem sei es nicht einfach, einen geeigneten Ort zu finden. „Finden Sie mal | |
einen Vermieter, der dem zustimmt.“ Trotzdem ist der Bürgermeister | |
optimistisch, dass es mit der Eröffnung 2024 klappt. Aktuell sei man mit | |
dem Eigentümer einer Immobilie im Gespräch, „wahrscheinlich wird der | |
Konsumraum auf dem Kieler Westufer entstehen“, sagt Kämpfer. | |
## Kiel, die zweigeteilte Stadt | |
Über Kiel muss man wissen, dass es zweigeteilt ist, in ein West- und ein | |
Ostufer. Getrennt durch Wasser, die Hörn und die Kieler Förde. In der Mitte | |
ist der Hafen, da liegen die dicken Pötte, wie Ortskundige | |
Kreuzfahrtschiffe nennen, die dort ankern. Auf dem Westufer, wo auch das | |
Claro und der Schützenpark sind, ist die Innenstadt und damit der Großteil | |
der Infrastruktur. | |
Auf der anderen Seite, am Ostufer liegt der ehemalige | |
Arbeiter*innen-Stadtteil Gaarden. Kiel-Gaarden hat es in letzter Zeit | |
ziemlich oft in die Presse geschafft. „Anwohner schlagen Alarm“, | |
„Drogenszene besorgt Sozialarbeiter“, „Leben im Brennpunkt“ war zu lese… | |
In der Lokalpresse, den Kieler Nachrichten, steht fast täglich was über | |
Gaarden. Gemeint ist dann eigentlich nur ein Teil des großen Viertels, | |
Gaarden-Ost, dort gibt es seit Jahren eine Drogenszene, sagt auch die | |
Polizei. Anders als am Westufer registriere man in Gaarden schon lange | |
nicht nur Drogenkonsum im öffentlichen Raum, sondern auch organisierten | |
Handel mit Betäubungsmitteln. | |
Mira Arwan kennt die Straßen von Gaarden. Die Sozialarbeiterin ist eine | |
große Person mit knallrot gefärbten Dreadlocks und lässigem Gang. „Die | |
Situation in Gaarden wird nicht besser, nur weil es jeden Tag in der | |
Zeitung steht“ sagt sie. Es fängt an zu regnen und sie klappt einen | |
gepunkteten Schirm auf. | |
Mit ihrer Kollegin ist sie fünf Tage die Woche am Hauptbahnhof und auf den | |
Straßen von Gaarden-Ost unterwegs. „Wir machen schon so unsere elf | |
Kilometer am Tag“, sagt Arwan. Seit 2020 bieten die beiden als aufsuchende | |
Sozialarbeiterinnen Menschen Unterstützung an. „Mal bringen wir wen in eine | |
Notunterkunft, mal helfen wir beim Amt.“ | |
Die Sozialarbeiterin kennt viele Leute auf der Straße mit Namen, ihre | |
Standardfrage ist: „Wie geht’s?“ Sie und ihre Kollegin beobachten, dass | |
sich die Lage auf den Straßen verändert, nicht nur, aber vor allem in | |
Gaarden. „Den Leuten geht es schlechter“, sagt Arwan. „Wir sehen offene | |
Beine, Borkenflechte, Leute im Rollstuhl mit nur einem Bein.“ Dazu komme | |
Crack. Durch die kurzen Highs und den geringen Preis der Droge nehme der | |
Konsum im öffentlichen Raum zu. „Der Beschaffungsort wird direkt zum | |
Konsumort“, sagt Arwan. | |
## Drogenszene trifft sich auch in Gaarden | |
Einer dieser Orte ist in Gaarden ein Supermarkt Ecke Karlstal, | |
Elisabethstraße. Er gilt als einer der Haupttreffpunkte der Drogenszene in | |
Gaarden. Das Gebäude ist eingerüstet, ein paar Leute stehen in Kleingruppen | |
im Dunkel unter dem Gerüst. „Hier war es deutlich aggressiver im Sommer, | |
mittlerweile ist weniger los“, sagt Mira Arwan. Das liege an der | |
Jahreszeit, „es ist einfach zu kalt“. Im Sommer sei die Bushaltestelle vor | |
dem Supermarkt fast durchgängig besetzt gewesen von konsumierenden | |
Menschen. | |
Das habe auch daran gelegen, dass im Sommer ein andere Treffpunkt der | |
Szene, direkt um die Ecke geräumt worden war. Ein Garten neben einem leer | |
stehenden Haus am Steinmarderweg 34 hatte als alternatives Gartenprojekt | |
angefangen und sich über Jahre zu einem Aufenthaltsort konsumierender | |
Menschen entwickelt. „Am Ende war das ein selbst gebauter Konsumraum, ein | |
Safe Space“, sagt Arwan. Es sei allerdings auch problematisch gewesen, vor | |
allem, da direkt gegenüber vom Garten eine Kita ist. Im Juli wurde dann | |
geräumt. Heute ist der Garten umzäunt, die Wiese leer. | |
„Der Bürgermeister hat sich das angeguckt und direkt die Räumung | |
angeordnet, wollte wohl die Sache in die Hand nehmen“, sagt Arwan. Sie und | |
ihre Kollegin kritisieren, dass die Räumung des Gartens überstürzt | |
geschehen sei. „Das große Problem ist, dass die Stadt keine Alternative | |
geschaffen hat. Wo sollen die Leute hin?“, sagt Arwan. | |
Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD) kennt die Kritik am Vorgehen im | |
Steinmarderweg. Trotzdem hält er an der Entscheidung fest. „Die Zustände | |
waren nicht mehr vertretbar“ sagt er. | |
Gaarden liege ihm am Herzen, betont Kämpfer. Er weist auf den Neubau einer | |
Grundschule und die Förderung von Kulturprojekten hin. Ihm schwebe eine | |
„sanfte Gentrifizierung“ vor, Aufwertung ohne rasant steigende Mieten und | |
Verdrängung. | |
## Polizeipräsenz ist erhöht worden | |
Zum Plan für Gaarden gehört aber auch verstärkte Polizeipräsenz. Seit der | |
Räumung des Gartens fährt die Polizei öfter Streife, es gibt regelmäßig | |
Razzien und Kontrollen, das bestätigt ein Sprecher der Polizeidirektion | |
Kiel der taz. Auch auf dem Westufer am Schützenpark wird mehr kontrolliert. | |
„Ziel ist keine Strafverfolgung von Konsumenten“, sagt der Sprecher. Es | |
gehe um Dealer*innen und organisierte Kriminalität, die Kontrollen seien | |
Teil einer Strategie. | |
Zu der gehört auch die Schaffung von acht zusätzlichen Stellen des | |
Kommunalen Ordnungsdiensts, in Gaarden. Zudem soll die Polizeiwache in | |
Gaarden ab Anfang 2024 als erste in Schleswig-Holstein mit Elektroschockern | |
ausgerüstet werden, das hat allerdings das Land entschieden. | |
Nicht zum Plan für Gaarden gehört dagegen ein Drogenkonsumraum. „Wir | |
glauben nicht, dass Gaarden das stemmen kann“, sagt Bürgermeister Kämpfer. | |
Man wolle den ohnehin belasteten Stadtteil nicht überfordern. | |
Florian Wrobel von der Partei findet das falsch. „Drogenkonsumräume müssen | |
eigentlich da hin, wo die Szene ist“, sagt er. Das sieht auch Andreas | |
Dehnke von Odyssee e.V. so. „Szenen gibt es in Kiel zwei. Es macht also auf | |
jeden Fall Sinn, perspektivisch zwei Konsumräume zu haben.“ Einig ist man | |
sich aber über eines: Die zunehmende Verelendung vieler konsumierender | |
Menschen im öffentlichen Raum wird ein Drogenkonsumraum allein nicht | |
abwenden können. Es fehle insgesamt an Räumen sagt Sozialarbeiterin Mira | |
Arwan. Notunterkünfte seien überfüllt, wie andernorts fehle es in Kiel an | |
Wohnraum. „Es gibt einfach keine einfachen Antworten“, sagt sie. | |
Arne sieht das ähnlich. Er befürwortet einen Konsumraum, „auch wenn ich | |
selbst nicht hingehen würde“. Er konsumiere lieber zuhause. „Für die | |
anderen braucht es dringend mehr Räume, Kiel ist schlimm geworden“ sagt er. | |
Dann streckt er seinen Kopf noch einmal durch die Tür zum Kontaktladen | |
Claro, das an diesem Tag wie ein kleiner Hafen wirkt. „Hat gemundet, | |
danke“, sagt er, reibt sich den Bauch und macht sich wieder auf ins Grau | |
von Kiel. | |
13 Jan 2024 | |
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Amira Klute | |
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