# taz.de -- Kämpfen für Kurdistan: Tod für die gute Sache? | |
> Mit 21 Jahren verlässt Konstantin Gedig Kiel und zieht nach Kurdistan in | |
> den Krieg. Dort stirbt er. Zurück bleiben seine Eltern mit vielen Fragen. | |
Bild: Erinnerung an den getöteten Sohn im Elternhaus | |
Ute Ruß ist gerade im Garten ihres Reihenhauses in Kiel beschäftigt, als | |
sie am Nachmittag des 1. September 2016 eine Whatsapp-Nachricht von ihrem | |
Sohn erreicht. Ob die Eltern und der Bruder zu Hause seien, fragt | |
Konstantin. Ruß geht ins Haus. Zusammen mit ihrem Mann Thomas Gedig und dem | |
zweiten Sohn Benjamin starrt sie auf das Handy. Konstantin hat ihnen ein | |
Bild geschickt, darauf: Wolken und eine karge Landschaft, aufgenommen aus | |
einem Flugzeugfenster. Und der Text: „Ich bin im Irak und schließe mich der | |
kurdischen [1][YPG] an. In Rojava will ich versuchen denen zu helfen, die | |
nicht fliehen können, weil sie an der türkischen Grenze erschossen werden. | |
Und jenen, die beschlossen zu bleiben.“ YPG, das ist die Abkürzung für | |
„Volksverteidigungseinheiten“, eine kurdische Miliz, die ideologisch in der | |
Nähe der PKK angesiedelt ist. | |
Die Eltern antworten: „Bitte setz dich in den nächsten Flieger und komm | |
zurück!“ Doch zurück kommt der Anfang 20-jährige Kieler erst über ein Jahr | |
später – aber nur, um eine Kriegsverletzung operieren und heilen zu lassen. | |
Dann verlässt er seine Familie erneut und kehrt nie wieder. | |
Konstantin Gedig stirbt am 16. Oktober 2019 im syrisch-kurdischen | |
Serêkaniyê bei einem Bombenangriff. Deutschland und andere Staaten | |
verurteilen die türkische Attacke auf die kurdischen Truppen, die nur | |
wenige Monate vorher den IS geschlagen hatten, als völkerrechtswidrig. Die | |
genauen Umstände, wie auch die von Konstantins Tod, sind unbekannt. | |
## Mehr Fragen als Antworten | |
Heute, zweieinhalb Jahre nachdem ihr Sohn starb, haben seine Eltern viele | |
Fragen – auch an die deutschen Behörden. Starb Konstantin durch deutsche | |
Waffen, von denen Deutschland im Jahr 2019 eine Menge im Wert von 344,6 | |
Millionen Euro an den Nato-Partner lieferte? Oder durch islamistische | |
Terrortruppen, mit denen die Türkei möglicherweise kooperierte? Was geschah | |
mit seiner Leiche? | |
In ihrem Reihenhaus in Kiel serviert Ute Ruß Kaffee uns selbst gebackene | |
Linzer Torte. Draußen wird es langsam dunkel, drinnen auf dem Kaffeetisch | |
brennen Kerzen. „Unsere Aufklärungsmöglichkeiten sind begrenzt“, sagt die | |
schmale, aber hochgewachsene Frau mit grauen Locken. Vor ihrem Mann Thomas | |
Gedig auf dem Tisch liegt neben dem Kuchenteller nur ein Tablet, aber oben | |
im Arbeitszimmer habe er reihenweise Aktenordner und Dokumente aus der | |
Kommunikation mit den Behörden. Darunter befindet sich auch eine 80-seitige | |
Akte des Auswärtigen Amts über den Tod ihres Sohnes. Doch daraus ergäben | |
sich bloß weitere Fragen, sagt Gedig. | |
Ruß und Gedig haben alle Abgeordneten des Bundestags außer der AfD | |
angeschrieben und um Hilfe gebeten. Im Juni 2021 waren sie auf Einladung | |
der schleswig-holsteinischen Bundestagsabgeordneten [2][Gyde Jensen] (FDP) | |
bei einer Anhörung zur Lage der Menschenrechte in der Türkei im Bundestag. | |
Konstantins Tod kam dort nicht zur Sprache. Auf zwei parlamentarische | |
Anfragen der ehemaligen Linken-Abgeordneten Ulla Jelkpe und Helin Evrim | |
Sommer antwortete die Bundesregierung knapp: Man stehe mit den Angehörigen | |
in Kontakt. „Das ist etwas übertrieben“, sagt Gedig. „Das Interesse ist | |
sehr überschaubar.“ | |
Im Wohnzimmer des Reihenhauses ist Konstantin präsent: An der Wand hängt | |
ein gezeichnetes Porträt von ihm im Militäroverall, daneben eine Fotografie | |
der kurdischen Miliz YPG und ein Plakat des deutsch-kurdischen Vereins, das | |
den Kämpfer ehrt: Andok Cotkar nannten sie ihn in bei der YPG. Für die | |
kurdische Community ist er ein [3][Held, ein Märtyrer]. Doch wie wurde | |
Konstantin Gedig zu Andok Cotkar? Und was bewegte den damals 21-jährigen, | |
aus Kiel in den Krieg zu ziehen? | |
Konstantin wird am 10. Februar 1995 in Göttingen geboren. Seine Mutter ist | |
Politologin und arbeitet für die Ratsfraktion der Göttinger Grünen. Sein | |
Vater ist Verwaltungswirt und SPD-Mitglied, er arbeitet als Assistent der | |
SPD-Ratsfraktion. Konstantin hat einen jüngeren Bruder. Als die beiden vier | |
und sechs Jahre alt sind, zieht die Familie nach Kiel. Als Kind und | |
Jugendlicher ist Konstantin ein Einzelgänger, er mag Tiere und liest gerne. | |
Als er beim Kinderarzt einmal sein eigenes Blut sehen muss, wird er vor | |
Schreck ohnmächtig. | |
## Konstantins Lehrerin erinnert sich | |
„Konstantin war schon immer sehr eigen“, erinnert sich seine | |
Grundschullehrerin Ilona Bischof. Die Pensionärin sitzt vor einer | |
Bücherwand in ihrem Arbeitszimmer, als sie per Videotelefonat von | |
Konstantin erzählt. Er sei ein sehr guter Schüler gewesen. Allerdings habe | |
er sich nichts sagen lassen, sondern eigensinnig sein Ding durchgezogen. | |
Als Bischof einmal die Sitzordnung im Klassenraum geändert habe, habe er | |
seinen Ranzen genommen und sich ins Treppenhaus gesetzt, wo er den ganzen | |
Vormittag geblieben sei, erinnert sich die Lehrerin. | |
In der 12. Klasse bricht Konstantin die Schule ab, weil er keinen Sinn mehr | |
darin sieht, und beginnt eine Ausbildung zum Landwirt. Cotkar, Konstantins | |
kurdischer Name, bedeutet übersetzt Bauer. | |
Seine Mitschüler*innen hätten oft kein Verständnis für Konstantin | |
gehabt, erzählt Bischof. Mit ihr und ihrem Mann hingegen habe er bis zu | |
seinem Tod ein freundschaftliches Verhältnis gepflegt. „Wir haben ihn | |
akzeptiert, wie er war“, sagt Bischof. Sie vermutet, dass er das auch in | |
Kurdistan gefunden hat: Akzeptanz, Anerkennung und einen Ort ohne für ihn | |
nicht akzeptierbare Regeln. | |
In der ersten Zeit, als Konstantin im Irak war, habe Ilona Bischof gedacht, | |
er würde bald zurückkommen. An seinem 24. Geburtstag, den er zwischen | |
seinen beiden Einsätzen in Deutschland feierte, sei ihr klar geworden, wie | |
fest entschlossen Konstantin war. Die Lehrerin und ihr Mann seien die | |
einzigen Geburtstagsgäste gewesen. „Sein Vater hatte ihm einen Kuchen mit | |
dem Logo der YPG darauf gebacken“, erinnert sich Bischof. Sie hätten | |
unbeschwert beisammengesessen, gelacht und viel diskutiert, auch über die | |
Frage: Darf man mit Waffen für den Frieden kämpfen? Bischof habe diese | |
Frage verneint. Konstantin habe erwidert: „Ihr redet nur und tut nichts.“ | |
Den „Islamischen Staat“ könne man nicht mit Worten besiegen. | |
„Uns war klar, dass Konstantin wieder losziehen würde“, sagt Thomas Gedig. | |
Sein Sohn habe gleich klargestellt, dass er nicht nach Deutschland gekommen | |
wäre, wenn die Operation wegen einer Schussverletzung an der Hüfte nicht | |
nötig gewesen wäre. „Das war traurig für uns, aber es war eben auch | |
konsequent“, sagt Ute Ruß, die Mutter. In ihrer Stimme schwingt Anerkennung | |
mit, auch Stolz. Als sie Kaffee nachschenkt, sieht man die Uhr an ihrem | |
Handgelenk: Ein grünes Zifferblatt mit rotem Stern, die YPG-Flagge. Thomas | |
Gedig hat die Gleiche, sie haben sie sich extra anfertigen lassen – nach | |
Konstantins Tod. | |
Erwachsener und reifer habe ihr Sohn gewirkt, als er 2017 nach Kiel | |
zurückgekommen sei. Über seinen Aufenthalt in Rojava, wie die kurdischen | |
Kämpfer ihr Land nennen, hätten sie während seines 15-monatigen Aufenthalts | |
nicht viel gesprochen. Sie hätten die wertvolle Zeit nicht mit schweren | |
Themen belasten wollen und zudem gewusst, dass sie ihn nicht davon abhalten | |
könnten, wieder loszuziehen. Thomas Gedig sagt: „Ein junger Mann, der den | |
IS bekämpft, kann seine Entscheidungen wohl alleine treffen.“ | |
## Der Bauer: „Ein zuverlässiger Mensch“ | |
Als die Kugel aus der Hüfte operiert war, suchte Konstantin sich Arbeit, 40 | |
Kilometer vom Elternhaus entfernt auf einem Bauernhof. Marko Voß ist seit | |
fünf Uhr morgens zwischen Kuhställen, Hof und Feldern unterwegs. Für ein | |
Telefonat über Konstantin setzt sich der Landwirt in sein Büro. „Er war ein | |
sehr zuverlässiger, fleißiger und hilfsbereiter Mensch“, beschreibt Voß | |
seinen ehemaligen Mitarbeiter. Von Herbst 2018 bis Frühjahr 2019 habe | |
Konstantin auf dem Landwirtschaftsbetrieb in Arpsdorf gearbeitet und | |
gewohnt. | |
Anfangs hätten Voß und er sich nicht über Privates unterhalten, aber mit | |
der Zeit hätten sie doch über persönliche Dinge gesprochen. Von Kurdistan | |
habe Konstantin nie erzählt. Oft habe er sich über die Weltpolitik | |
aufgeregt. Dass der junge Mann bei ihm die Zeit zwischen zwei | |
Kriegseinsätzen überbrückte, habe Voß nicht geahnt. Im Nachhinein aber habe | |
vieles darauf hingedeutet. | |
Konstantin habe immer alles picobello hinterlassen. An eine militärische | |
Disziplin und Ordnung habe Voß dabei nicht gedacht. Auch habe der Kieler | |
manchmal leicht gehinkt, aber eine Schusswunde in der Hüfte habe Voß | |
natürlich nicht vermutet. Zudem habe Konstantin immer sehr aufmerksam | |
zugeschaut, wenn der Tierarzt gekommen sei, und nachgefragt, welche | |
Medikamente der Doktor den Tieren verabreichte. In Rojava behandelte der | |
Kieler, der früher beim Anblick seines Blutes ohnmächtig geworden war, | |
verwundete Soldat*innen an der Front. | |
Nachts habe Voß Konstantin häufig auf Englisch telefonieren gehört. Es | |
seien lebhafte Gespräche gewesen, da sei Konstantin „mal aus sich | |
rausgekommen“, sagt der Landwirt. Gegenüber den anderen Auszubildenden und | |
Mitarbeitern auf dem Hof sei er hingegen zurückhaltend gewesen, „Grillen | |
und Cola-Korn trinken war nicht so seins.“ Dass Konstantin ein- bis zweimal | |
die Woche zum Schützenverein ging, habe Voß damals nicht einordnen können. | |
„So was war eigentlich gar nicht sein Ding“, habe sich der Landwirt | |
gewundert. | |
Im Frühjahr 2019 habe Konstantin seinem Chef gesagt, dass er den Hof bald | |
verlassen werde. Einen Grund habe er nicht genannt. Er wolle aber | |
wiederkommen und sie einigten sich, dass Voß ihm die Stelle für ein halbes | |
Jahr freihalte. „Kurz danach habe ich rausbekommen, was er vorhatte“, sagt | |
der Landwirt. Ein Auszubildender habe gesehen, dass in Konstantins Zimmer | |
eine große YPG-Flagge hing. Daraufhin habe Voß recherchiert. „Als ich | |
verstand, dass er nach Syrien wollte, habe ich ihn gefragt: ‚Musst du da | |
wirklich hin?‘“ „Ja, muss ich“, habe Konstantin geantwortet. | |
## Wer macht sich zum Kampf nach Kurdistan auf? | |
Konstantin war nicht der Einzige, der sich in den vergangenen Jahren | |
entschied, mit den Kurd*innen in den Krieg zu ziehen. Auch in England, | |
den USA, Frankreich, Griechenland und anderen Ländern schließen sich jedes | |
Jahr junge und ältere Menschen dem Kampf an. In Deutschland sind laut dem | |
[4][Bundesamt für Verfassungsschutz] seit 2013 rund 290 Personen in die | |
kurdischen Gebiete ausgereist. 150 von ihnen kamen zurück, mindestens 30 | |
starben. Die meisten von ihnen rechnet die Behörde dem linksextremen | |
Spektrum zu und warnt vor „Rekrutierungsversuchen durch die Arbeiterpartei | |
Kurdistans PKK“. | |
„Es gibt drei Typen von Menschen, die dorthin gehen“, sagt Johannis Berger. | |
Der Anfang 30-Jährige sitzt in einem Café in Berlin-Kreuzberg. Die | |
Frühlingssonne, die zwischen den Zweigen eines Baumes hindurchscheint, | |
wirft Lichtpunkte auf seinen schwarzen Parka. Berger war auch bei der YPG | |
in Syrien. Er heißt in Wirklichkeit anders, aber wer von der YPG | |
zurückkehrt, muss damit rechnen, überwacht zu werden. | |
Von den drei Typen, die Berger ausmacht, rechnet er sich selbst zu | |
Kategorie eins: gut vernetzte Linke, die schon in Deutschland mit | |
kurdischen Gruppen in Kontakt sind und sich auf den Einsatz vorbereiten. | |
Sie gehen zu mehreren dorthin. Typ zwei: Kriegsveteranen, die endlich mal | |
auf der richtigen Seite stehen wollen. Typ drei: Humanisten. Sie haben die | |
Bilder des barbarischen IS und der getöteten Jesiden im Fernsehen gesehen | |
und wollen helfen. Sie sind nicht organisiert und haben kein Netzwerk. „So | |
einer war Konstantin“, sagt Berger. | |
Die beiden seien sich im Herbst 2016 in Nordsyrien begegnet, wo alle | |
internationalen Neuankömmlinge ein sechswöchiges Training absolvieren. | |
Berger sei da schon eine Weile in der Region gewesen und habe dort die Zeit | |
zwischen zwei Einsätzen überbrückt. Konstantin sei gerade angekommen und | |
habe die meiste Zeit des Tages mit der Ausbildung verbracht. Das Programm | |
sei hart, sagt Berger: Aufstehen um 4.45 Uhr, um 5 Uhr Appell, dann Sport, | |
Frühstück, Kurdischunterricht oder militärisches Training, Mittagspause und | |
am Nachmittag noch mal vier Stunden politische Schulung oder militärisches | |
Training. Nach dem Abendessen gebe es manchmal noch ein Seminar. Nachts | |
habe man regelmäßig Nachtwache. „Disziplin ist wichtig im Krieg“, sagt | |
Berger. | |
Konstantin habe im Kurdischunterricht manchmal geschlafen, trotzdem sei er | |
hoch motiviert gewesen. Berger beschreibt ihn als rücksichtsvollen, | |
bescheidenen Menschen, der seine Meinung nicht in den Vordergrund stellte. | |
Einmal habe Konstantin eine Kuh gerettet, die in ein Schlammloch gefallen | |
war. Cotkar, der Landwirt, habe es mit stundenlanger Geduld geschafft, sie | |
da herauszuholen. Abends beim Essen hätten sie darüber zusammen gelacht. | |
War es auch die Gemeinschaft, die Konstantin in Deutschland vermisste und | |
ihn dazu bewegte, ins Kriegsgebiet zu ziehen? Berger nickt. „Auch die | |
gesellschaftliche Anerkennung wird eine Rolle gespielt haben.“ Die | |
kurdischen Familien in den Dörfern empfingen die internationalen | |
Kämpfer*innen mit offenen Armen. Die Rückkehr in die deutsche | |
Gesellschaft sei nicht einfach. | |
Konstantin habe schnell angefangen, sich für das politische Projekt Rojava | |
zu interessieren, sagt Berger – für den Versuch, eine antikapitalistische, | |
gleichberechtigte Gesellschaft unabhängig von Nationalstaaten aufzubauen. | |
Dabei habe er sehr wohl gewusst, worauf er sich einlasse. „Man setzt sich | |
zwangsläufig mit dem eigenen Tod auseinander“, sagt Berger. Gleich in den | |
ersten Tagen seines Einsatzes seien drei Kämpfer von Konstantins Einheit | |
bei einem türkischen Luftangriff getötet worden. | |
## Ein Foto aus dem Flugzeug, eine unklare Nachricht, der Tod | |
Als Konstantin im Frühjahr 2019 zum zweiten Mal im Kriegsgebiet ankommt, | |
wird er zunächst einer jesidischen Einheit im nordirakischen Shingal | |
zugeteilt. Von seinen Eltern hat er sich auch dieses Mal nicht | |
verabschiedet, sondern ein Foto aus dem Flugzeug geschickt, als sie ihn | |
noch bei Landwirt Voß glaubten. Aber dieses Mal geht er nicht, ohne ihnen | |
seine Login-Daten für Facebook zu geben und eine Generalvollmacht, damit | |
sie im Falle seines Todes seine Angelegenheiten regeln können. | |
Als die Türkei im Herbst 2019 die systematischen Luftangriffe auf die | |
Kurd*innen im syrisch-türkischen Grenzgebiet startet, habe Konstantin bei | |
seinem Kommandanten „richtig Stress gemacht“, sagt Berger, um sich an die | |
Front versetzen zu lassen. Nicht viele Internationalist*innen hätten | |
dorthin gewollt. Es sei jedem klar gewesen, dass es weitaus gefährlicher | |
sei, gegen die hochgerüstete Armee des Nato-Mitglieds Türkei zu kämpfen als | |
gegen die Bodentruppen des „Islamischen Staats“. | |
[5][Videoaufnahmen zeigen Konstantin Gedig] alias Andok Cotkar wenige | |
Stunden oder Minuten vor seinem Tod. Das Gesicht des hellhäutigen und | |
rotbärtigen Mannes deutet ein Lächeln an, als er mit einer Hand in die | |
Kamera grüßt. In der anderen Hand hält er eine Kalaschnikow. Ein helles | |
Tuch ist um seinen Kopf gewickelt, darüber trägt er Ohrenschützer gegen den | |
Lärm der Schüsse und Bomben. Mit dem Militärrucksack auf dem Rücken und der | |
Munition am Gürtel wendet er sich ab und läuft mit schwingenden Schritten | |
in die Kampfzone. | |
Vom Tod ihres Sohnes erfahren die Eltern drei Wochen später, nachts bei | |
Twitter. Zu dem Zeitpunkt haben sie seit vier Wochen nichts von Konstantin | |
gehört, was sie aber nicht beunruhigt, sie haben sich mittlerweile daran | |
gewöhnt. Am Nachmittag hatte sich ein kurdischer Bekannter aus Kiel bei | |
Gedig und Ruß gemeldet und von Gerüchten erzählt, ein Deutscher sei in | |
Serêkaniyê gestorben. Die Eltern wähnen ihren Sohn im irakischen Shingal | |
und nicht an der Front mit der Türkei in Syrien. Dennoch recherchieren sie. | |
Nachts findet Thomas Gedig den Twitter-Post eines türkischen Nationalisten, | |
der den Tod des „kurdischen Terroristen“ Andok Cotkar bejubelt. | |
Sie fragen bei der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava und bekommen nach | |
zwei Tagen die Bestätigung, dass ihr Sohn tot ist. Auch das Auswärtige Amt | |
informiert sie darüber, allerdings erst Mitte Dezember. Da hat in Kiel | |
schon eine Trauerfeier mit dem kurdischen Verein und Hunderten Gästen | |
stattgefunden. Ein Päckchen mit Konstantins persönlichen Sachen und einem | |
Abschiedsbrief erreicht die Eltern erst ein halbes Jahr später. Der | |
deutsche YPG-Kämpfer, der es hätte überbringen sollen, wird am Flughafen | |
vom Bundesgrenzschutz festgenommen, die Sachen werden konfisziert. Erst | |
nach mehrfacher Intervention ihres Anwalts leiten die Behörden den Nachlass | |
an die Hinterbliebenen weiter. Dabei ist auch ein Abschiedsbrief: „Trauert | |
meiner nicht“, schreibt Konstantin. „Ich wäre viel lieber mit euch als tot. | |
Aber müsste ich diese Entscheidung noch mal treffen, würde ich wieder | |
kämpfen gehen. Ich möchte, dass ihr wisst: Ich bin fröhlich in den Kampf | |
gezogen.“ | |
Kürzlich erreicht die Eltern noch ein anderes Päckchen, ebenfalls aus | |
Rojava. Eine Kurdin schickte ihnen zwei getrocknete Blumen mit buschigen, | |
helllilafarbenen Blüten. Die Samen wollen sie im Garten aussäen. Irgendwann | |
wollen Ruß und Gedig nach Kurdistan reisen, um endlich richtig Abschied zu | |
nehmen – dort, wo Konstantin glücklich war. Sie hoffen, dass das bald sein | |
wird – wenn die Pandemie und der Krieg es zulassen. Aktuell fallen in | |
Nordsyrien wieder türkische Bomben. | |
26 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Journalist-ueber-die-Kurdenmiliz-in-Syrien/!5479898 | |
[2] https://gjensen.abgeordnete.fdpbt.de/ | |
[3] https://internationalistcommune.com/held-unserer-zeit-andok-cotkar-konstant… | |
[4] https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/auslandsbezoge… | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=N0uELdDioDE | |
## AUTOREN | |
Katharina Schipkowski | |
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