# taz.de -- Märtyrertod in der Gesellschaft: Verstörende Romantisierung | |
> Ob im Kampf gegen Angriffskrieg oder Diktatur, Todesopfer werden oft als | |
> Held*innen gefeiert. Aber Tod darf nicht für Mobilisierung genutzt | |
> werden. | |
Bild: Protest gegen die Regierung 2013 in Kairo: „Ehre den Märtyrern“ steh… | |
Der Tod ist ein ständiger Begleiter von uns Menschen. Zu wissen, dass das | |
eigene Leben an einem gewissen, meist unvorhersehbaren Zeitpunkt vorbei | |
sein wird, prägte ganze Kulturen, Religionen, die menschliche Zivilisation | |
an sich. [1][Über den Tod zu sprechen, ist wichtig]. Ihn zu glorifizieren, | |
das wiederum finde ich mehr als nur fatal. Beim Phänomen Märtyrertum | |
passiert genau das. Ich verspüre einen Drang, zumindest hier kurz dazu | |
meine Gedanken zu teilen. | |
Denn ich empfinde immer häufiger ein tiefes Unbehagen, wenn ich diese | |
verstörende Romantisierung des Sterbens beobachte. Egal, wo es stattfindet | |
und selbst, wenn es für eine gerechte Sache ist: ob bei [2][der | |
Selbstverteidigung nach einem Angriffskrieg], dem Befreiungskampf gegen | |
eine Besatzungsmacht, in [3][der Opposition zu einem autoritären Regime] | |
oder beim Überlebenskampf verletzbarer Minderheiten. Es tauchen danach | |
Ikonen und Namen auf, Erzählungen, in denen die Opfer dieser Kämpfe nach | |
dem Motto „Sie sind nicht umsonst gestorben“ gefeiert (!) werden. | |
Jahrestage werden ausgerufen, Gedichte geschrieben und Reden gehalten. Ich | |
zucke immer wieder aufs Neue zusammen, wenn ich solche Geschichten | |
mitbekomme. Zum ersten Mal habe ich die Fatalität des Märtyrertums im Zuge | |
der [4][Revolutionen in Nordafrika] nach dem Jahr 2011 beobachtet. Die | |
Demonstrant*innen wurden in Ägypten mit Panzern (aus westlicher | |
Produktion) überrollt, in Tunesien erschossen, in Marokko eingesperrt. | |
Einige Überlebende und politische Kräfte haben sie im Kampf gegen die | |
Diktaturen zu Märtyrer*innen erklärt. Vor allem viele junge Menschen | |
sagten mir damals, dass sie für die Demokratie ebenfalls sterben wollen | |
würden. Das hat mich tief getroffen. Vielleicht habe ich keine | |
abschließende Antwort darauf, aber irgendwie muss es doch möglich sein, | |
diese wichtigen Kämpfe zu führen, ohne den Tod dabei zu glorifizieren und | |
darauf zu achten, dass vor allem junge Menschen ein positives Verhältnis | |
zum Leben finden. | |
## Verlust nicht überhöhen | |
Leider hatte ich in den vergangenen Jahren mehrere Gelegenheiten, andere | |
Spielarten des Märtyrertums zu beobachten. Nach Anschlägen zum Beispiel | |
oder in kriegerischen Auseinandersetzungen, egal ob in Syrien oder in der | |
Ukraine. Überall werden Märtyrer*innen gefeiert, manchmal sogar | |
gefordert: Wer nicht bis zum Tod für die Sache kämpfe, der*die kämpfe | |
nicht richtig. Ich bin hoffentlich nicht naiv in dieser Sache: Kämpfen | |
beinhaltet die Möglichkeit, sein Leben zu verlieren. Nur weigere ich mich, | |
diesen Verlust zu überhöhen und als gute, gangbare, erstrebenswerte Option | |
zu preisen. | |
Das, so vermute ich, soll die Botschaft dieser Kolumne sein. Ich kann | |
fühlen, dass beim Phänomen Märtyrertum meistens Trauer mitschwingt. Viele | |
Menschen versuchen dementsprechend, dem Tod einen Sinn zu verleihen. | |
Sinnlos bleibt es aber meiner ganz persönlichen Meinung nach, ihn als | |
Selbstzweck darzustellen oder gar für die Mobilisierung zu | |
instrumentalisieren. | |
28 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Mohamed Amjahid | |
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