# taz.de -- KGB-Dossier zu Tschernobyl: Agenten wussten viel, taten wenig | |
> Akten des sowjetischen Geheimdienstes zeigen: Ihm war bekannt, dass in | |
> dem AKW viel falsch lief. Am Montag jährt sich der Reaktorunfall zum 35. | |
> Mal. | |
Bild: Im ehemaligen Kontrollzentrum des Reaktors 4 in Tschernobyl | |
KIEW taz | So hat man die Geschichte der Nuklearkatastrophe von | |
[1][Tschernobyl] noch nicht gelesen. Und wenn man nicht wüsste, wer der | |
Verfasser ist, könnte man die Papiere für ein gemeinsames Projekt von | |
Greenpeace und Spionen im Atomkraftwerk halten. So nah dran, detailliert | |
und schonungslos werden hier die Schlampereien und die schlechte Qualität | |
des eingesetzten Materials beschrieben, wird vor katastrophalen Folgen | |
gewarnt. Unwillkürlich steigt die Frage auf, warum es erst am 26. April | |
1986 zur Explosion kam. | |
Die Dokumente stammen aus den Archiven des sowjetischen Geheimdienstes KGB. | |
Veröffentlicht hat sie der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU im | |
vergangenen Jahr. Das 688 Seiten umfassende Buch „Das Tschernobyl-Dossier – | |
vom Bau zur Katastrophe“ enthält 229 Akten, die zwischen den 1970er Jahren | |
und November 1986 angefertigt wurden. 190 davon sind nun erstmalig | |
zugänglich. | |
Sie zeigen, dass der KGB zwei völlig gegensätzliche Aufgaben zu bewältigen | |
hatte. Einerseits sollte er die Schwachstellen des Atomkraftwerks | |
Tschernobyl und die damit verbundenen Gefahren aufzeigen. Andererseits war | |
es an ihm, genau diese Gefahren geheim zu halten und schließlich auch die | |
Folgen der nuklearen Katastrophe zu vertuschen. | |
Um die Schwachstellen zu erkennen, unterhielt der Geheimdienst seit 1972 – | |
fünf Jahre bevor Reaktor 1 in Betrieb ging – ein Netz von Agenten und | |
sogenannten Vertrauensleuten unter den Arbeitskräften in Tschernobyl. Im | |
Katastrophenjahr 1986 standen 209 Personen auf seiner Liste. | |
Minutiös beobachten seine Leute, wer unter den Arbeitern in der | |
Atomwirtschaft Westkontakte hatte, wer „prozionistische Äußerungen“ | |
tätigte, wer Mitglied einer religiösen Sekte war und wie viele Ausländer | |
sich in der Ukraine aufhielten. | |
Die ersten Sicherheitsprobleme meldete der Kiewer KGB-Chef, Generalmajor | |
Nikolay Wakulenko, schon vor Betriebsbeginn des ersten Blocks. Im August | |
1976 erklärte er in einem internen Schreiben, man habe bei 182 Tonnen | |
geschweißten Rohren Risse entdeckt. „Deswegen waren die Rohre nicht | |
einsatzbereit und mussten an die Herstellerfirma zurückgeschickt werden.“ | |
Als Reaktor 1 lief, mussten zwischen Januar 1979 und Februar 1981 insgesamt | |
120 Brennstoffkassetten vorzeitig entnommen werden. Bei Reaktor 2 waren es | |
58 zwischen April und Ende 1980. „In jüngster Zeit kommt es immer häufiger | |
vor, dass man Brennstoffkassetten wegen des Verdachts auf undichte Stellen | |
herausholen muss. Die Rede ist von 25 bis 30%“, schrieb Wakulenko. | |
Inzwischen würden die Kapazitäten des Abklingbeckens knapp. Der Grund: Für | |
die maximale Stromausbeute sei die Produktion über die erlaubten Werte | |
hinaus erhöht worden. | |
Zwischen 1977 und 1981 mussten die Reaktoren in Tschernobyl insgesamt | |
29-mal notabgeschaltet werden, meist aus technischen Gründen, aber 8-mal | |
auch wegen menschlichen Versagens, meldete der ukrainische KGB am 16. | |
Oktober 1981. Und weiter: „Bei der Untersuchung der | |
Reaktorschnellabschaltungen zeigte sich, dass die Elektroausrüstung | |
einschließlich der Kontroll- und Messgeräte in ihrer Qualität nicht den | |
Sicherheitsanforderungen entsprechen.“ Nicht einmal ein Jahr später | |
berichtete die Dienststelle in der bei Tschernobyl gelegenen Stadt Pripjat | |
von einem Brand in einem Atomkanal, der am 9. September 1982 stattgefunden | |
habe, weil nicht genug Kühlwasser durchgeflossen sei: „Dieser Unfall wurde | |
als einer der schwersten in der Geschichte der Atomenergie eingestuft.“ | |
Die offensichtlich mangelhafte Ausbildung der Kraftwerksbeschäftigten fiel | |
dem Geheimdienst immer wieder auf. So heißt es in einem Schreiben des KGB | |
Pripjat an die vorgesetzte Dienststelle in Kiew vom 5. Januar 1983, man | |
habe „von Agent ʼOxanenkoʽ erfahren, dass bei einem Anfahren von Reaktor | |
Nr. 2 fahrlässigerweise vergessen wurde, das Notkühlsystem einzuschalten. | |
Dies hätte im Falle einer Havarie zu einem Totalausfall des Reaktors führen | |
können.“ Am 13. August 1984 warnte dieselbe Quelle, die sinkende Qualität | |
der Reparaturarbeiten an den Reaktoren führe zu Ausfällen der Technik und | |
könne sogar zu Notabschaltungen führen. | |
Mindestens genauso wie die Sicherheitsmängel fürchtete der KGB, dass der | |
Klassenfeind im Westen diese Mängel gegen die Sowjetunion nutzen könne. | |
Entsprechend gezielt wurden Bürger anderer Staaten in der Ukraine | |
beobachtet. Am 9. Juli 1976 berichtete der KGB Tschernobyl an den KGB Kiew, | |
von den 9.294 auf der Baustelle Beschäftigten seien „31 Personen | |
deutschstämmig; vier haben eine Vorstrafe wegen eines schweren | |
Staatsverbrechens; eine Person war im Untergrund der [nationalistischen] | |
OUN; zwei sind Chinesen; elf Personen haben Briefkontakt mit | |
kapitalistischen Ländern“. | |
Nach der Katastrophe wurde aus der Beobachtung verdächtiger Personen eine | |
regelrechte Vertuschungsoffensive. Am 18. Juli 1986 warnte der KGB die | |
Kommunistische Partei der Sowjetunion, dass ausländische Geheimdienste | |
versuchten, etwas über die Folgen der Katastrophe zu erfahren, und | |
berichtete, dass man Versuche von US-Diplomaten verhindert habe, | |
Bodenproben zu entnehmen. | |
Auch die eigenen Staatsbürger wurden überwacht. Am 8. Mai 1986 vermeldete | |
der ukrainische KGB, man habe durch eine Überwachung von Telefongesprächen | |
und Briefen sechs Fälle einer unerwünschten Weitergabe von Informationen | |
aufgedeckt. Am 19. Mai 1986 hieß es aus derselben Quelle, man habe | |
herausgefunden, dass drei hochrangige Polizisten und Militärs „vor ihren | |
Untergebenen panische Gespräche zugelassen haben“. Als Gegenmaßnahme habe | |
man den Telefonbetrieb von der automatischen auf manuelle Vermittlung | |
umgeschaltet. Am 21. Mai 1986 wurde es direkter: Mit mehreren Personen, die | |
„verleumderische Hirngespinste über die Katastrophe verbreiten“, schrieben | |
die Geheimdienstler, habe man „klärende Gespräche geführt und sie | |
verwarnt“. | |
## Forscher warnten vor Nebenwirkungen | |
Obwohl seine Leute die angebliche Panikmache verfolgen, war der KGB selbst | |
offenbar bestens über die ökologischen Folgen der Katastrophe informiert. | |
In einer als streng geheim eingestuften ersten Analyse der Katastrophe | |
beschrieb eine bei der ukrainischen Akademie der Wissenschaften | |
angesiedelte Kommission am 14. Mai 1986, was die Katastrophe für die | |
Bevölkerung bedeutet: „Was uns beunruhigt, sind die Nebenwirkungen der | |
Radioaktivität auf das Immunsystem und das Knochenmark. Eine Schwächung des | |
Immunsystems kann zu einer Häufung von Infektionskrankheiten führen, kann | |
chronische Entzündungsprozesse verschärfen. Betroffen davon sind vor allem | |
Kinder zwischen 10 und 12 Jahren und ältere Menschen. In der Folge der | |
Wirkung auf das Knochenmark kann es zu einer Anämie kommen, in 1 bis 3 | |
Jahren zu vermehrt auftretenden Leukämien.“ Davon ausgehend könne man | |
„schlussfolgern, dass sich die Krebserkrankungen in den nächsten 5–6–8�… | |
Jahren verdoppeln oder verdreifachen werden. Man kann ebenfalls davon | |
ausgehen, dass die Lebenserwartung in der Ukraine um 1–2 Jahre sinken | |
wird“. Auch von absehbaren Missbildungen und einer gestörten Entwicklung | |
von „Kindern, die jetzt 5–12 Jahre alt sind,“ ist die Rede. | |
Innerhalb der Geheimdienste zeigen sich deshalb Unstimmigkeiten: „In der | |
Kommission ist man der Auffassung, dass die Führung die Situation nicht | |
richtig eingeschätzt hat, die Havarie aus irgendeinem Grund anfangs | |
verschwiegen hat. Und das hat die Lage noch verschlimmert, was zu vermeiden | |
gewesen wäre.“ | |
Dass der ukrainische Geheimdienst die Dossiers veröffentlicht, ist eine | |
deutliche Kritik an der Informationspolitik des sowjetischen KGB zum | |
Reaktor von Tschernobyl. Doch wirklich transparent arbeiten die | |
Verantwortlichen auch heute nicht, auch nicht ihre europäischen Geldgeber: | |
Im Gespräch mit der taz berichtet die grüne Bundestagsabgeordnete Sylvia | |
Kotting-Uhl, Vorsitzende des Umweltausschusses, dass die Situation in | |
Europas größtem AKW in Saporischja sie sehr sorge. Dort funktionierten | |
Berichten von vor Ort zufolge nicht alle Notstromaggregate. Seit 27. Januar | |
warte sie auf eine Antwort der Europäischen Entwicklungsbank EBRD, die die | |
sogenannten Modernisierungsmaßnahmen der ukrainischen AKWs mitfinanziert. | |
Doch die Angeschriebenen schweigen. | |
26 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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