# taz.de -- 34. Jahrestag Tschernobyl-Katastrophe: Wenn die Heimat strahlt | |
> Noch heute sind Teile der Gegend um Tschernobyl stark verseucht. Trotzdem | |
> kehren immer mehr Menschen in die Nähe des Sperrgebiets zurück. Warum? | |
Bild: In das Dorf Selez ziehen immer mehr Menschen, die vor dem Krieg aus der O… | |
Hoffentlich hat mein Kind nur einen Kopf. Das war der erste Gedanke von | |
Jelena Juchimenko vor der Geburt ihres Sohnes im Jahr 1986. Sascha hatte | |
tatsächlich nur einen – zum Glück. Es hätte auch anders sein können. Jele… | |
Juchimenko war schwanger, als der Reaktor in Tschernobyl am 26. April 1986 | |
explodierte. | |
Damals lebte sie in Narodytschi, etwa 80 Kilometer von dem havarierten | |
Kernkraftwerk entfernt. Die Ärzte dort hatten sie gewarnt: Das Risiko, dass | |
ihr Kind mit Missbildungen auf die Welt kommen könne, sei hoch. Sie | |
entschied sich gegen einen Schwangerschaftsabbruch, obwohl sie viel von | |
Geburten zweiköpfiger Kinder in ihrer Umgebung gehört hatte. | |
Heute wohnt die 52-Jährige wieder in Narodytschi, seit fünf Jahren schon. | |
Einstöckige Gebäude säumen die zentralen Straßen der Siedlung, man sieht | |
noch die zerfallenen grauen Holzhäuser von früher. Doch in letzter Zeit | |
wurden immer mehr von ihnen durch neue Steinhäuser ersetzt. | |
Narodytschi ist eine kleine Stadt mit rund 3.000 Einwohnern im Norden der | |
Ukraine, nahe der Grenze zu Weißrussland. Die Stadt und die umliegenden | |
Dörfer gehören zur Zone 2. Das sind Gebiete, die direkt hinter der | |
30-Kilometer-Sperrzone liegen und stark verseucht wurden, als vor genau 34 | |
Jahren der Reaktor des Blocks 4 explodierte. Die Einwohner von Zone 2 | |
sollten danach umgesiedelt werden. Doch nicht alle haben ihre Häuser damals | |
verlassen. Und mittlerweile kehren nicht nur Alteingesessene wieder zurück; | |
auch Menschen etwa aus der von Russland besetzten Ostukraine finden hier | |
ein neues Zuhause. | |
## Ein Haus mit Raum für alle | |
Doch was haben sie an einem Ort wie diesem verloren? Warum sind die | |
radioaktiven Gebiete für viele Ukrainerinnen und Ukrainer so verführerisch, | |
dass sie womöglich sogar ihre Gesundheit in Gefahr bringen? Und welche | |
Auswirkungen hat die radioaktive Strahlung nach 34 Jahren tatsächlich noch? | |
Familie Juchimenko hat ein Grundstück am Ortsrand. Nicht weit von einem | |
riesigen Getreidefeld steht ihr Schieferhaus, dessen Hof gerade zu einer | |
Kampfarena geworden ist. Zwei weiße Puten stoßen wütende Laute aus und | |
hacken aufeinander ein. So gnadenlos, dass Jelena Juchimenko den | |
Futtereimer fallen lässt, nach ihnen greift und versucht, sie zu trennen. | |
Drei Hunde bellen um die Wette. Eine Katze versucht, Jagd auf die | |
Wellensittiche im Käfig zu machen, doch Juchimenko ist wieder schneller. | |
Seit fünf Jahren lebt Jelena Juchimenko mit ihrem Mann und den beiden | |
jüngeren Söhnen in diesem Haus. Ihre drei älteren Kinder und die | |
Enkelkinder sind in ihrer früheren Wohnung in Brussyliw geblieben, knapp | |
150 Kilometer von Narodytschi entfernt. Dort haben sie endlich mehr Platz. | |
Bekommen haben die Juchimenkos das Haus in Narodytschi umsonst, die | |
Hoffnung war, dass es der Familie besser gehen würde, wenn jeder Raum für | |
sich hat. | |
Dabei weiß Jelena Juchimenko als ausgebildete Radiologin, welche Risiken | |
mit dieser Entscheidung verbunden sind. Damals, direkt nach der Explosion | |
des Reaktors, hatte sie selbst die Strahlung in der Umgebung gemessen und | |
bei der Evakuierung von Menschen und Haustieren geholfen. Doch Juchimenko, | |
selbst als Waise aufgewachsen, träumte schon immer von einem eigenen Heim | |
mit ausreichend Platz für sich und ihre Kinder – und das bekam sie nur | |
hier. | |
An ihre große Familie erinnert auch eine gerahmte Fotografie im Hausflur. | |
Darauf lächeln alle – Jelena Juchimenko, ihr Mann, die fünf Kinder, der | |
Schwiegersohn und die Schwiegertöchter sowie vier Enkel. Sie halten sich an | |
den Händen und in den Armen, ganz fest. Ihren fröhlichen Gesichtern sieht | |
man nicht an, dass sie von der Katastrophe in Tschernobyl unmittelbar | |
betroffen sind. | |
Aber fast die ganze Familie leidet an Erkrankungen der Schilddrüse, einige | |
haben Asthma oder chronisches Nasenbluten. „Das hängt sicher mit dem Unfall | |
von Tschernobyl zusammen“, sagt Juchimenko. Obwohl ihre Kinder und Enkel | |
hier nicht geboren seien, litten auch sie unter den Folgen der radioaktiven | |
Strahlung. „Unsere Kinder haben von uns die Krankheiten geerbt und werden | |
sie wohl auch an die nächste Generation weitergeben“, sagt sie. | |
Artjom, der jüngste Sohn, hat es am schwersten, wenn auch nicht nur wegen | |
der Strahlungsfolgen. Er ist teilweise gelähmt. Als er vor 13 Jahren zur | |
Welt kam, erlitt er bei der Entbindung per Kaiserschnitt eine | |
Hirnschädigung. Sein Bruder Denis ist 17 und wiegt 105 Kilogramm, aber auch | |
das ist keine Folge der Strahlung. „Ich fühle mich wohl“, sagt er. Seine | |
Hormonpillen gegen Fettleibigkeit nimmt er nicht mehr regelmäßig. Gute | |
Stimmung sei ihm wichtiger. Dazu haben seine Eltern etwas beigetragen – ein | |
Zimmer, ganz für ihn allein. Hier spielt er Bassgitarre und singt Songs von | |
Rammstein. | |
Oft sei es deshalb laut, beschwert sich sein kleiner Bruder. Aber nur am | |
Wochenende, unter der Woche ist Denis in Schytomyr, der nächstgelegenen | |
Großstadt, wo er studiert. Denis will Softwareentwickler werden. Er ist | |
sich sicher, dass diese Berufswahl es ihm ermöglichen wird, in Narodytschi | |
zu bleiben. IT-Spezialisten fänden in den Betrieben hier sofort einen Job. | |
„Hier ist es gemütlich, ruhig und direkt in der Natur“, sagt er. Im Sommer | |
gehe er baden und angeln. Mit Freunden und mit den Geschwistern, die zu | |
Besuch kommen. | |
Die Fischer von Narodytschi warten nicht auf den Sommer wie Denis. Sie | |
stehen am Usch, an einem Zufluss des Prypjat, der durch die Stadt | |
Tschernobyl fließt und in den Dnepr mündet, den drittlängsten Fluss | |
Europas. Sie angeln zu jeder Jahreszeit. Unter der Brücke am Stadtrand | |
halten zwei von ihnen seit mehreren Stunden nach einem guten Fang Ausschau. | |
Zwei weitere Angler stehen auf der Brücke und unterhalten sich. „Dieses | |
Jahr beißen die Fische schlecht an“, sagt der eine. „Weil es in diesem | |
Winter keinen Schnee gegeben hat“, ergänzt der andere. | |
Gibt es eigentlich noch Radioaktivität im Fluss, will der taz-Reporter | |
wissen. „Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“, fragt einer der Fischer. | |
„Da kann ich nur lachen, das ist alles Quatsch!“ Über die Vergangenheit | |
will er nicht weiter reden und wirft stattdessen den Haken ins Wasser. | |
Doch so etwas nicht zu fragen fällt an diesem Ort nun einmal schwer. Bei | |
dem Wort „Tschernobyl“ entstehen Bilder im Kopf. Wenn es wie dieser Tage in | |
den Wäldern [1][rund um die Stadt brennt], ist die Sorge wieder einmal | |
groß, dass die Folgen weitreichend sein könnten. Dass strahlende Partikel | |
mit dem Rauch auch in andere Regionen getragen werden. Tatsächlich haben | |
sich die Strahlenwerte durch die Brände erhöht. | |
Grundsätzlich ist strittig, welche Auswirkungen die radioaktive Strahlung | |
nach 34 Jahren noch auf das Leben in Narodytschi hat. Etwa in der | |
Landwirtschaft. Nicht nur unter den Fischern, sondern auch bei | |
Wissenschaftlern und Politikern. Offiziell soll nichts angebaut werden. | |
Doch die Lokalbehörden fördern die Landwirtschaft. | |
Die Stadtverwaltung sitzt in einem alten sowjetischen Gebäude an der | |
Hauptstraße. Die großen Eingangstüren öffnen sich quietschend und knarrend, | |
wie eine Art Alarmanlage. Schon am Klang der Schritte erkennt seine | |
Sekretärin, dass Oleksandr Prokopenko gleich den Raum betritt. Er ist der | |
stellvertretende Bürgermeister von Narodytschi. Und überzeugt: Teilweise | |
seien die Flächen für die Bewirtschaftung geeignet und die angebauten | |
Produkte unbelastet. | |
„Die Verpächter der landwirtschaftlichen Flächen haben eigene | |
Untersuchungen durchgeführt und festgestellt, dass es keine Radioaktivität | |
gibt.“ Gibt es darüber irgendwelche Dokumente? Prokopenko wühlt in den | |
Schubladen seines Bürotischs. Er findet nichts, nur einen Atlas, in dem der | |
Grad der radioaktiven Belastung nach der Katastrophe markiert wurde. | |
„Das Leben geht weiter, und wir müssen uns nicht an diese Protokolle | |
klammern“, sagt Prokopenko. Ob die Erde kontaminiert sei, müsse der Staat | |
feststellen. Alle drei Jahre soll eine Untersuchung der Radioaktivität | |
durchgeführt werden. Jedoch fehlten die letzten Ergebnisse. Auch die der | |
vorherigen Untersuchungen habe er nicht gesehen. | |
Doch: „Wir haben hier Bildungseinrichtungen, medizinische Einrichtungen – | |
um rechtzeitig die Löhne für die Mitarbeiter zahlen zu können und eine | |
bessere Infrastruktur zu schaffen, brauchen wir Steuerzahler“, sagt | |
Prokopenko. | |
2014 begann in der Ukraine ein Prozess der Dezentralisierung. Diese | |
verhilft den Kommunen zu mehr Eigeneinnahmen. Die lokalen Behörden von | |
Narodytschi wollen deshalb, dass der Status der Region von Zone 2 auf Zone | |
3 geändert wird – dann wären Investitionen möglich, vor allem in der | |
Landwirtschaft. | |
## Den Ort ganz abdecken wie Fukushima? | |
An diesem Freitagabend ist in dem Krankenhaus aus der Sowjetzeit nicht viel | |
los. Maria Pastchjuk ist Chefärztin des Krankenhauses in Narodytschi. Sie | |
will den Patienten auf der Station für Unfallchirurgie noch schnell einen | |
guten Abend wünschen. Wer Pastchjuk durch die Korridore folgt, muss husten. | |
In den Behandlungsräumen hat man das Gefühl, zu ersticken. Die Quarzlampen, | |
die Keime abtöten sollen, strahlen sehr intensiv. | |
Pastchjuk findet klare Worte: „Aus Narodytschi hätten wir ein | |
Naturschutzgebiet machen sollen. Oder den Ort ganz abdecken, so wie die | |
Japaner Fukushima“, sagt sie. „Jetzt ist es zu spät, hier leben Menschen, | |
wir müssen uns um sie kümmern.“ Der Staat habe es nach der Katastrophe | |
nicht einmal geschafft, eine systematische Evakuierung zu organisieren; | |
viele seien geblieben, auch ihre Mutter. Deshalb habe auch sie den Ort | |
nicht verlassen. „Doch ich wollte nicht, dass meine Kinder zu lange hier | |
leben“, sagt Pastchjuk. Die beiden haben Narodytschi kurz nach ihrem 18. | |
Geburtstag verlassen. | |
Herzleiden, Krebs- und Schilddrüsenerkrankungen sind an diesem Ort die | |
häufigsten Diagnosen. „Offiziell dürfen wir nicht sagen, dass irgendeine | |
Krankheit eine Folge von Tschernobyl ist“, sagt Pastchjuk. „Doch es ist | |
klar, dass die onkologischen Krankheiten direkt damit zusammenhängen.“ | |
Statistiken hat sie nicht. Doch beobachtet sie einen weiteren Trend in | |
ihrer Praxis: „Wir dachten bis jetzt, dass hauptsächlich ältere Menschen an | |
Skoliose leiden. Doch jetzt steigt auch die Zahl von Minderjährigen mit | |
degenerativen Bandscheibenerkrankungen.“ | |
Doch nicht nur ehemalige Bewohner wie die Juchimenkos lassen sich durch die | |
Angst vor Krankheiten nicht abschrecken. Aus ganz verschiedenen Teilen der | |
Ukraine siedeln sich hier immer mehr Menschen an. Man trifft Jugendliche | |
aus Kirowohrad in der Zentralukraine und eine Familie aus der Nähe von | |
Odessa am Schwarzen Meer. Sie alle sind vor Kurzem hierhergezogen. Der | |
Grund war immer derselbe: Hier können sie sich ein Haus leisten. | |
In Zone 2 ist Privatisierung untersagt. Das bedeutet, man darf kein Haus, | |
keine Wohnung und kein Grundstück kaufen. Mieten oder pachten geht | |
allerdings. Für ein Haus wird eine symbolische Summe von nicht einmal einem | |
Euro monatlich fällig, man zahlt sie an die Lokalbehörde. Würde der Status | |
von Zone 2 auf 3 geändert, könnten die Mieter Eigentümer werden. | |
In Narodytschi gibt es schon nicht mehr viele leer stehende Häuser, aber in | |
den Dörfern ringsum. Selez ist eines davon. Ungefähr 15 Minuten dauert die | |
Autofahrt bis zu dem Dorf mit knapp 550 Einwohnern. | |
In Selez dominiert die Farbe Grau. Viele der Häuser mit Holzwänden und | |
Asbestplattendächern sind seit der Reaktorkatastrophe verriegelt und | |
verrammelt. Sie sehen aus wie verlassene Almhütten. Bäume wachsen so nah an | |
diese Hütten heran, dass sie sie mit ihren Zweigen beinahe verschlingen. | |
Galina und Valeri Kucharew haben ein solches Haus vor sechs Jahren aus den | |
Krallen der Bäume befreit. Rauch steigt aus dem Schornstein. Sie haben die | |
alten Holz- gegen neue Kunststofffenster getauscht. Die breiten Holzrahmen | |
um die Fenster herum sind blau gestrichen. | |
Galina und Valeri Kucharew, beide 37 Jahre alt, flohen mit ihren zwei | |
Kindern aus der Ostukraine, nachdem prorussische Kämpfer ihr Haus | |
bombardiert hatten. Als der Krieg 2014 im Donbass begann, war Galina mit | |
ihrem zweiten Sohn schwanger. Zu Hause in Makijiwka war die Lage so | |
gefährlich wie in den Nachbarstädten Donezk und Lugansk. Galina suchte | |
Schutz in einem Kellerraum, dann fuhr sie mit ihrem ältesten Sohn Jaroslav | |
zu ihrer Cousine in die Zentralukraine. Dort kam Bogdan auf die Welt. Ihr | |
Mann blieb die ganze Zeit in Makijiwka. | |
„Ich dachte, der Krieg würde bald vorbei sein und ich könnte mit meinen | |
Kindern zu meinem Mann zurückkehren“, sagt Galina Kucharewa. Doch es | |
hagelte weiter Granaten. Ihr Haus wurde zerstört. Ihre Cousine brachte sie | |
auf die Idee, in das Tschernobyl-Gebiet zu ziehen. | |
Viele Dörfer boten leer stehende Häuser an. Ein ganzes Gartenhaus, nur für | |
die eigene Familie und weit weg vom umkämpften Osten – das wäre doch gar | |
nicht so schlecht. Nun galt es, eine Entscheidung zu treffen: Krieg oder | |
Strahlung. Sie entschieden sich für Letzteres. | |
„Wir hätten nie gedacht, dass wir länger hierbleiben würden“, sagt Galina | |
Kutscharewa. In den ersten zwei Jahren investierte die Familie nur wenig in | |
ihr Haus. Mittlerweile haben sie zwei Zimmer tapeziert und komplett | |
eingerichtet. Nur noch die Küche muss saniert werden. Bald soll es auch ein | |
Bad geben, damit sie nicht mehr das riesige Kunststoffbecken ins Wohnzimmer | |
tragen müssen, um sich zu waschen. | |
„Wir kommen aus dem Kohlerevier Donbass, deswegen macht uns Tschernobyl | |
keine Angst“, sagt Galina Kucharewa. „Wir sind mit Steinkohle im | |
Industriegebiet groß geworden, direkt zwischen Kohleminen und | |
Kohlefabriken, die unsere Stadt krank machten. Wir wussten nicht, dass der | |
Himmel irgendwo anders blau ist und die Luft, die man atmet, nicht schwarz. | |
Es kann hier nicht schlimmer sein als dort.“ Ihr Mann Valeri Kucharew | |
nickt. „Das Wasser schmeckt hier besser. Auch der Boden ist fruchtbarer“, | |
sagt er. „Kartoffeln wachsen in dieser sandigen Erde besser als in den | |
staubigen Böden im Osten“, meint Galina Kucharewa. | |
Mit dem Beginn der Heidelbeersaison im Juni macht sich Galina Kucharewa auf | |
in den Wald. „Ich sammle Beeren, daraus mache ich Konfitüre“, sagt sie. | |
Meist esse nur die Familie davon, manchmal versuche sie aber auch, ein paar | |
Gläser auf dem Markt zu verkaufen. | |
Beerenpflückerinnen verdienen nicht schlecht. Viele Frauen gehen oft in den | |
Wald, doch ob ihre Beeren radioktiv belastet sind, erfahren sie erst, wenn | |
sie ihre Ernte an kleine Unternehmen geben. Die Zwischenhändler prüfen die | |
Ware mit einem Dosimeter. Wenn das Gerät ausschlägt, nehmen sie die Beeren | |
nicht. Galina Kucharewa kennt jedoch Betriebe, die auch radioaktiv | |
verseuchte Beeren nehmen, jedoch zu sehr niedrigen Preisen. | |
Um die Messungen zu umgehen, versuchen manche, ihre Ernte direkt nach Kiew | |
zu bringen. Doch oft werden sie von der Polizei auf dem Weg dorthin | |
erwischt. Ukrainische Medien berichten jährlich über Dutzende solcher | |
Fälle. | |
## Schulkameraden aus Donezk und Lugansk | |
Galina Kucharewa ist stolz auf ihren Garten, in dem Tomaten, Gurken und | |
Paprika wachsen. „Jetzt gehen wir nicht mehr weg“, sagt sie, „wir sind hi… | |
zu Hause.“ Einige Nachbarn haben ihrem Mann Valeri Kucharew anfangs | |
vorgeworfen, dass er geflohen sei. Er hätte an der Front bleiben und die | |
Heimat verteidigen sollen. | |
„Welche Heimat?“, fragt Galina Kutscharew, „unsere Heimat wurde uns | |
genommen. Wir haben uns entschieden, auf die ukrainische statt auf die | |
russische Seite zu ziehen, wie es Tausende andere gemacht haben. Darauf | |
sollte unser neues Heimatdorf eigentlich stolz sein.“ | |
37 Menschen sind seit 2014 aus den okkupierten Gebieten im Osten in die | |
Region Narodytschi umgesiedelt. | |
Jaroslav Kutscharew hat Schulkameraden aus Donezk und Lugansk. Der | |
15-Jährige Sohn der Kutscharews besucht die 9. Klasse der einzigen Schule | |
in Narodytschi. Jaroslav redet nicht gerne. Lieber streichelt er die Katze | |
in seinem Schoß. In der Schule in Narodytschi hatte er am Anfang vor allem | |
wegen der ukrainischen Sprache Schwierigkeiten. Aus dem Osten der Ukraine | |
war er es gewohnt, Russisch zu sprechen. | |
Galina und Valeri Kucharew war es wichtig, hier nicht auf Staatskosten zu | |
leben. Einen Job zu bekommen ist zwar nicht einfach. Doch die beiden haben | |
es geschafft. Galina Kucharewa arbeitet als Verkäuferin in einem | |
Lebensmittelgeschäft, Valeri Kucharew hat eine Stelle in der türkischen | |
Holzfabrik Orange Wood. | |
## Messungen im Garten | |
Auch in seinem Garten hat Valeri Kucharew große Baumstämme gelagert, da er | |
sein Haus mit Holz heizt. Ob das Holz radioaktiv belastet ist, hängt davon | |
ab, in welchem Teil des Waldes es geschlagen wurde, die Fläche ist nicht | |
gleichmäßig kontaminiert. „Es ist wie beim Glücksspiel“, sagt er. | |
Ihn kümmert es nicht, ob das Brennmaterial radioaktiv verseucht ist und die | |
ganze Familie möglicherweise Schadstoffe einatmet, deren Partikel in die | |
Lunge gelangen, er nimmt die ganze Sache nicht so ernst. Die Asche entsorgt | |
er im Garten. Ob sie Dünger oder Gift für den Boden ist, weiß er nicht. | |
Wäre er denn auch dagegen, in seinem Garten jetzt die Strahlung zu messen? | |
Er selbst brauche das nicht, aber nur zu, sagt er. Mit einem Dosimeter | |
sucht also der taz-Reporter an verschiedenen Stellen nach Spuren von | |
Radioaktivität. Valeri Kucharew steht in seiner Jacke und mit glimmender | |
Zigarette vor der Haustür. Die gute Nachricht, dass das Dosimeter keinen | |
erhöhten Messwert anzeigt, nimmt er ohne eine Regung zur Kenntnis. | |
In der Nachbarschaft steht ein Haus an einem Teich mit klarem Wasser. Das | |
Messgerät rast – Alarmstufe rot. Der Rost an dem Schloss verrät, dass das | |
Haus vor langer Zeit verlassen wurde. Doch ob auch hier bald jemand | |
einzieht? | |
26 Apr 2020 | |
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