| # taz.de -- Jazzdrummerin Carrington über Diversität: „Ich bevorzuge Gender… | |
| > US-Drummerin und Lehrerin Terri Lyne Carrington kämpft aktiv gegen | |
| > Diskriminierung, ungleiche Machtverhältnisse – und fördert gezielt Frauen | |
| > im Jazz. | |
| Bild: Schlagzeugerin und Kämpferin für die Gleichstellung: Terri Lyne Carring… | |
| taz: Frau Carrington, Sie leiten seit 2018 das Institute of Jazz and Gender | |
| Justice und haben 2022 Ihre Anthologie „New Standards – 101 Lead Sheets by | |
| Women Composers“ veröffentlicht. Warum braucht es Ihr Engagement? | |
| Terri Lyne Carrington: Ich unterrichte nun seit mehr als zwölf Jahren am | |
| Konservatorium in Berklee pro Semester etwa 20 Studierende am Schlagzeug. | |
| Darunter war im Schnitt jeweils nur eine Musikerin. Dieses Missverhältnis | |
| machte mich nachdenklich. Bei einem Treffen des Women Jazz Collective | |
| erzählten mir Musikerinnen von ihren schlechten Erfahrungen an | |
| Musikhochschulen. Viele berichteten von unangenehmen Situationen in von | |
| Studenten dominierten Klassen, die überwiegend von Lehrern geleitet wurden. | |
| Und irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich nicht genug dafür getan | |
| hatte, um an diesem Ungleichgewicht etwas zu ändern. | |
| Sind Ihre Kurse nur für Studentinnen? | |
| Nein, überhaupt nicht. Wir schaffen in unserem Institut lediglich ein | |
| Umfeld, in dem Parität herrscht. Inzwischen studieren etwa 50 Prozent | |
| Musikerinnen. Die meisten Lehrkräfte sind weiblich und dazu einige Lehrer. | |
| Das Institut ist mittlerweile auf zehn Ensembles angewachsen. Gaststars | |
| unterrichten, darunter waren etwa [1][Wayne Shorter] und Cassandra Wilson. | |
| Es gibt Kurse über „Jazz, Gender und Gesellschaft“ und einen Kurs zum Thema | |
| „Schwarze Musik“. Wir kooperieren dabei auch mit der Boston Arts-Academy, | |
| um auch Highschoolschülerinnen und -schüler zu integrieren. | |
| Wie viele Studierende sind derzeit an Ihrem Institut eingeschrieben? | |
| Wir haben insgesamt etwa 60 Studierende in den | |
| Instrumenten-Leistungsklassen. Im Ensemble müssen sie zusammen als Band | |
| funktionieren. | |
| Und die Hälfte davon ist weiblich? | |
| Es ist unmöglich, Parität in allen Ensembles zu schaffen. Manchmal sind es | |
| mehr Musikerinnen, manchmal mehr Musiker, aber insgesamt ist es relativ | |
| ausgeglichen. | |
| Für Ihre Liedersammlung „New Standards“ haben Sie 101 Kompositionen von | |
| Frauen ausgewählt. Wie haben Sie eine Auswahl getroffen? | |
| Ich habe Kompositionen von den Künstlerinnen ausgewählt, die ich persönlich | |
| oder von Aufnahmen kannte, und bat sie, etwas beizutragen. Mir war auch | |
| wichtig, dass [2][eine Vielzahl von unterschiedlichen Stilen] und | |
| Schwierigkeitsgraden vorkommt und Stücke von kubanischen und | |
| südamerikanischen Komponistinnen dabei sind. Außerdem eine Bandbreite von | |
| frühen bis zu zeitgenössischen Stücken des Jazz. | |
| Wie definieren Sie einen Standard? Glauben Sie, dass „New Standards“ Teil | |
| des zukünftigen Repertoires von Musikerinnen und Musikern wird? | |
| Das wird sich noch zeigen. Aber ich hoffe, dass viele junge Menschen diese | |
| Songs interpretieren und sich auch auf die Sammlung beziehen, besonders als | |
| Lehrmittel und als Alternative zum bisherigen Standardnachschlagewerk „The | |
| Real Book“. | |
| Wie definieren Sie einen Jazzstandard 2023? | |
| Meine Definition ist, dass ein Standard allgemeingültig und leicht spielbar | |
| ist. Wir haben viele solcher Songs in dem Buch, aber auch einige, die | |
| anspruchsvoller sind, denn auch die Art des Komponierens hat sich | |
| weiterentwickelt. Studierende sind heute an kompliziertere | |
| Kompositionsformen gewöhnt. Es wird Musiker:Innen geben, die anfangen, | |
| diese neuen Standards zu spielen und in ihr Repertoire aufzunehmen. Die | |
| nächste Generation entscheidet, ob es dann Standards werden. | |
| Würden Sie sagen, dass Musikerinnen anders komponieren als Musiker? | |
| Ich bin gerade offen für die Idee, dass es so ist, weil es unterschiedliche | |
| Erfahrungen gibt. Früher versuchten wir Musikerinnen meist, Kollegen | |
| nachzuahmen. Aber jede und jeder bringt eine eigene Lebenserfahrung ein und | |
| erschafft etwas Neues damit. | |
| Sie haben 2021 mit „Next Jazz Legacy“ auch ein Programm zur Unterstützung | |
| von Musikerinnen gestartet. Weshalb war dies nötig? | |
| Es ist ein dreijähriges Förderprogramm für Frauen und nichtbinäre | |
| Studierende, die das College bereits absolviert haben. Wir vergeben sieben | |
| Stipendien pro Schuljahr bei weit mehr als 100 Bewerbungen. Ich wünschte, | |
| wir hätten mehr Geld, um allen zu helfen, es gibt so viel Talent in diesem | |
| Pool, aber zu wenig Stipendien. Studierende bekommen darin Unterstützung, | |
| um ihre eigene Band zu gründen und zu leiten. | |
| Empfinden Sie als Schwarze Frau eine doppelte Diskriminierung? Ist diese | |
| Intersektion auch ein Aspekt Ihres Projekts? | |
| Ja, in den USA und im Jazz ist die Schnittmenge von Race und Gender real. | |
| Ich könnte niemals über Geschlechtergerechtigkeit sprechen und den Aspekt | |
| von Hautfarbe dabei ausklammern. Deshalb steht auf unserer Homepage, dass | |
| wir die Leitprinzipien von Race- und Gendergerechtigkeit anwenden. | |
| Wie ist es an US-Hochschulen um Diversität bestellt? | |
| Viele Studienprogramme in den Vereinigten Staaten legen nicht genug Wert | |
| auf Vielfalt. Das liegt daran, dass Highschool- oder Communityprogramme | |
| nicht mehr existieren. Eine Mehrheit der weißen Studierenden profitiert von | |
| besseren Voraussetzungen, weil sie Schulen in wohlhabenderen Städten | |
| durchlaufen haben, in denen besser finanzierte Musikförderprogramme | |
| aufgelegt wurden. Es gibt also ungleiche Wettbewerbsbedingungen, auch | |
| dieses Verhältnis müssen wir bewerten. | |
| Sie galten als Wunderkind, ihr Talent wurde sehr früh entdeckt. Haben Sie | |
| selbst in Ihrer Karriere Diskriminierung erfahren? | |
| Sexismus war immer latent, besonders im Jazz, in dem sowohl weiße als auch | |
| Schwarze Männer die Musikerinnen diskriminiert haben und es zum Teil noch | |
| heute tun. Die Schnittmenge ist immer noch da, weil die alten | |
| Machtverhältnisse noch immer existieren. Noch 2016 nahm mich [3][der | |
| Jazzdrummer Max Roach] mit zum Manager Bruce Lundvall und bat ihn, dass | |
| er mich bei seinem Label Blue Note unter Vertrag nimmt. Lundvall sagte erst | |
| zu und am Ende wieder ab. Es fällt mir schwer, diesen Vorfall nicht als | |
| sexistisch motiviert zu beurteilen. | |
| Spielen Sie lieber mit Kolleginnen? Ist der Konkurrenzkampf unter | |
| Musikerinnen ähnlich ausgeprägt, oder spielt beim Musikmachen Geschlecht | |
| keine Rolle? | |
| Ich bevorzuge ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis. Musikalisch, aber | |
| auch gesellschaftlich. [4][Wir verbringen viel mehr Zeit jenseits der Bühne | |
| als auf der Bühn]e. Mir wurde klar, dass ich mich im Laufe der Jahre daran | |
| gewöhnt hatte, ständig mit Männern unterwegs zu sein. Wenn ich in einem | |
| Tourbus gereist bin, habe ich nicht wirklich auf solche Dinge geachtet, | |
| aber inzwischen reflektiere ich auch das Backstage-Verhalten. | |
| Haben Sie bei der Zusammenstellung der „New Standards“ bewusst darauf | |
| geachtet, dass gleich viele Schwarze und weiße Komponistinnen dabei sind? | |
| Ja, ich habe bis zu einem gewissen Grad auf Gleichberechtigung geachtet, | |
| indem ich so viele People of Color wie möglich dabeihaben wollte, darunter | |
| auch asiatische Komponistinnen. | |
| War für Sie der Mangel an Diversität durch den Kampf der Frauenbewegung | |
| gegen Diskriminierung ausgeräumt? | |
| Ich denke, dass die Frauenbewegung in den Vereinigten Staaten und der | |
| Feminismus im Allgemeinen traditionell sehr weiß geprägt war. Ich selbst | |
| hatte gegenüber dem Feminismus gemischte Gefühle. Wenn man sich die | |
| Geschichte der Sklaverei anschaut, ist es für die Leute einfacher zu | |
| vergessen, dass Schwarze Frauen von weißen Frauen und Männern unterdrückt | |
| wurden und keine Kontrolle über ihren Körper hatten. Zwar hat man mehr | |
| gelynchte Schwarze Männer an Bäumen hängen sehen als Schwarze Frauen, aber | |
| das heißt nicht, dass sie nicht auch ermordet wurden. | |
| Selbst als 1920 das Wahlrecht für Frauen in den USA eingeführt wurde, gab | |
| es Schwarze Frauen, die die Suffragetten unterstützten und sich für | |
| Gleichberechtigung einsetzten, aber es galt damals nur für weiße Frauen. | |
| Schwarze haben in den USA erst 1965 das Wahlrecht erhalten. Ich will damit | |
| nur sagen, dass es eine komplizierte Geschichte gibt, mit Race und Gender | |
| und all diesen Dingen. Aus meiner Sicht ist Intersektionalität bei dem | |
| Thema wichtig, und ich versuche, die Gleichberechtigung im Jazz immer im | |
| gesamtgesellschaftlichen Kontext zu betrachten, nicht nur als eine | |
| isolierte Sache im männlich dominierten Musikbiz. | |
| 11 May 2023 | |
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