# taz.de -- Jazz von Frauen: Bluenotes ohne Patriarchat | |
> US-Drummerin Terri Lyne Carrington behebt einen alten Missstand und | |
> veröffentlicht ein Notenbuch und Album mit Songs, die Jazzerinnen | |
> komponierten. | |
Bild: Terri Lyne Carrington tritt auf ihrem neuen Album auch als Texterin auf | |
An welchen Song denken Sie beim Thema Jazzstandard? Ist es „All of Me“, | |
„Fly me to the Moon“ oder doch lieber „Summertime“? Egal, denn all diese | |
Stücke – und auch so gut wie alle anderen Jazzstandards – stammen von | |
Männern. Das ist auch der US-Künstlerin Terri Lyne Carrington aufgefallen, | |
als sie die Jazz-Bibel, das sogenannte „Real Book“, eine Sammlung auf Noten | |
transkribierter Jazzsongs, nach Werken von Frauen durchsucht hatte und nur | |
selten fündig wurde. Nur, es gibt viel mehr Songs von Musikerinnen. | |
Carringtons ehrgeiziges neues Projekt „New Standards“ will diesen Missstand | |
ändern. Die 57-jährige US-Jazzdrummerin hat gerade dieses so betitelte | |
Notenbuch veröffentlicht – ausschließlich mit Werken von Komponistinnen. | |
Und das ist noch nicht alles: Daneben hat sie auch ein Album mit elf | |
Stücken aus dem Songbook herausgebracht, eingespielt von lauter Jazzstars, | |
und bis Ende November gibt es dazu auch eine Multimedia-Ausstellung im Carr | |
Center in Detroit. | |
Das von Carrington kuratierte Notenbuch „New Standards: 101 Lead Sheets by | |
Women Composers“ ist beim Verlag des Berklee-Konservatoriums erschienen. | |
Wie der Titel verspricht, enthält es 101 Kompositionen, die vielfältiger | |
kaum sein könnten: Darin versammelt ist die ganze Bandbreite anerkannter | |
Größen, aber auch junger Visionärinnen, vergessener Heldinnen und | |
Pionierinnen des Jazz. Die Stücke stammen aus beinahe einem ganzen | |
Jahrhundert: Sie wurden zwischen den Jahren 1922 und 2021 komponiert. | |
Elf Songs daraus hat Carrington für ihr Album „New Standards Vol. 1“ | |
eingespielt. Bei dieser Auswahl hat sie vor allem auf stilistische Vielfalt | |
geachtet. Die Stücke klingen sehr unterschiedlich. Einige sind eher | |
groovelastig wie „Respected Destroyer“ von Brandee Younger oder Gretchen | |
Parlatos „Circling“, andere eher verträumt und verspielt wie Anat Cohens | |
„Ima“ und „Moments“ von Eliane Elias. Mit Abbey Lincolns „Throw it Aw… | |
ist auch ein Klassiker aus der Zeit der Bürgerrechtsbewegung dabei. | |
Noch interessanter sind Fundstücke wie ein Song von Sara Cassey (geboren | |
1929). Die Jazzkomponistin aus Detroit war zwar zu Lebzeiten so bekannt, | |
dass etwa Hank Jones, Herb Ellis und Ron Carter ihre Musik aufgenommen | |
haben, allerdings geriet sie über Jahrzehnte in Vergessenheit. Ihr Stück | |
„Wind Flower“ ist bluesy, lyrisch, überraschend. Am Schlagzeug sitzt Terri | |
Lyne Carrington höchstpersönlich. Ihre Band komplettieren die Pianistin | |
Kris Davis, die Bassistin Linda May Han Oh sowie Trompeter Nicholas Payton | |
und Gitarrist Matthew Stevens. | |
Darüber hinaus hat Carrington unzählige Gäste für einzelne Tracks | |
eingeladen. Bei „Rounds“ von Marilyn Crispell ist das Trompeter Ambrose | |
Akinmusire. Die Liveaufnahme aus dem Berklee College of Music klingt sehr | |
nach improvisiertem Free Jazz, trotzdem ist die frotzelnde und klappernde | |
Musik komponiert. | |
## Slogan von Carringtons Institut: „Jazz without Patriarchy“ | |
Terri Lyne Carrington tritt auf ihrem neuen Album nicht nur als | |
Schlagzeugerin, Bandleaderin und Botschafterin auf, sondern auch: als | |
Texterin. Sie hat nämlich die Lyrics für den Carla-Bley-Song „Lawns“ | |
verfasst und ist stolz, dass die Pianistin ihren Text angenommen hat. Mit | |
weichgoldener Stimme singt Samara Joy über das traumhafte Leben und zwei | |
Herzen: „We play / Sweet smiles along the way / Under stars we gazed / | |
Under moons memories made good times“. Anschließend setzt Ravi Coltrane zu | |
einem smoothen Saxofonosolo an, ein Track zum Dahinschmelzen. | |
Das Songbook und das Album sind keine – wie leider so oft – Marketinggags, | |
keine Alibis, kein Aufspringen auf irgendwelche Trendzüge. Terri Lyne | |
Carrington meint es ernst. Nur weil sie als Schwarze im männerdominierten | |
Jazz Karriere gemacht hat, da sie selbst früh Förderung von ihrem Vater und | |
anderen erhalten hat, heißt das noch lange nicht, dass es anderen Schwarzen | |
Frauen besser ergeht. Im Gegenteil. Deswegen hat Terri Lyne Carrington 2018 | |
das Berklee Institute of Jazz and Gender Justice gegründet. Jetzt ist sie | |
dessen künstlerische Leiterin und engagiert sich im Kampf für | |
Gendergerechtigkeit und mehr Sichtbarkeit für marginalisierte | |
Musiker:innen. | |
Terri Lyne Carrington weiß, dass das Problem im System liegt. Der Slogan | |
ihres Instituts heißt „Jazz Without Patriarchy“. Mit ihrem neuen Projekt | |
möchte Carrington die etablierten Standards von der Wurzel her ändern. | |
Natürlich ist „New Standards Vol. 1“ ein politisches Album. Aber es allein | |
auf den gesellschaftlichen Aspekt zu begrenzen, wäre viel zu kurz gedacht. | |
Die enthaltene Musik ist vor allem ein Zeugnis von exzellenten | |
Künstlerinnen. Ihre technische Brillanz stellen sie nicht in den Dienst von | |
Perfektion, sondern von Atmosphäre und Lebendigkeit. Ein roter Faden ist – | |
außer den Komponistinnen – nicht klar zu erkennen, vielleicht braucht es | |
den auch gar nicht. Terri Lyne Carrington gelingt einmal mehr kontextreiche | |
Musik voller Unterschiede. Sie vereint Stilistiken, Zupackendes und | |
Dahinfließendes; und den Wunsch nach einer Zukunft, in der Jazzstandards | |
nicht mehr nur von Männern stammen. | |
28 Oct 2022 | |
## AUTOREN | |
Sophie Emilie Beha | |
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