# taz.de -- Interessen der jungen Generation: Staatsmacht gegen Jugend | |
> Junge Menschen werden im derzeitigen Machtsystem nicht nur | |
> vernachlässigt, die Politik richtet sich direkt gegen sie. Zeit für | |
> entschlossenen Protest. | |
Bild: Bei einer „Black Lives Matter“-Demo in Hamburg geht die Polizei hart … | |
Kinder an die Macht war mal ein grotesker Witz. Als der Slogan nach dem | |
Ersten Weltkrieg im surrealistischen Drama geprägt wurde, war er noch nicht | |
aufgeladen mit kitschig-klebriger Deutschpop-Utopie, sondern diente als | |
Symbol einer totalen und total unmöglichen Revolte: Die Kinder, so die | |
unerfüllbare Hoffnung, würden es durch bösartige Intelligenz und Unvernunft | |
schaffen, die verhassten Institutionen des vergreisten Staates, Kirche, | |
Militär und Familie, so richtig in die Scheiße zu reiten. | |
Natürlich hat das in Wirklichkeit nicht stattgefunden! In Wirklichkeit ist | |
das genaue Gegenteil passiert. Das gerontokratische System zwingt die | |
Kinder dazu, ohnmächtig zuzusehen, wie es die Welt zerstört, die einmal | |
ihre sein sollte. Es gilt als ausgemacht, dass die bevorstehende Wahl daran | |
nichts ändert, wie könnte sie auch: Anders als vor 100 Jahren gäbe es keine | |
Möglichkeit, eine juvenile Herrschaft demokratisch zu legitimieren. Die | |
Demografie steht dem entgegen: Diejenigen, die aktuell als | |
Vertreter*innen der Jugend gelten könnten, stellen eine verschwindende | |
Minderheit der Wahlberechtigten dar. Kinder haben keine Stimme. Und selbst | |
wenn sie eine hätten: Sie fiele zahlenmäßig kaum ins Gewicht. | |
## Wahlberechtigung ab Geburt? | |
Die Mehrheit ist also gegen sie. Und entsprechend macht sie – das ist ja | |
nur recht und billig – Politik. Bloß: Sie verbaut der Minderheit die | |
Zukunft. Das machen Rentenprognosen, klimakatastrophale Wetterereignisse, | |
galoppierendes Artensterben und explodierende Wohnungslosigkeit schon jetzt | |
sichtbar. Das weiß auch jeder: Während Gerechtigkeit nur synchron | |
betrachtet worden war, als Frage, wie Konflikte in der und für die | |
Gegenwart zu lösen sind, hat auch das Bundesverfassungsgericht das Recht | |
auf einen diachronen Lastenausgleich anerkannt und es der Politik | |
aufgegeben. Jetzt müsste es halt nur noch jemand wollen. | |
Ein sympathischer, aber demografisch betrachtet letztlich untauglicher | |
Impuls, das Problem anzugehen, ist, das Wahlalter auf 16, 14, null zu | |
senken – und die Stimmen von weder lese- noch schreibfähigen Kids auf ihre | |
Erziehungsberechtigten zu delegieren: Das würde die lieben Kleinen nicht in | |
ihrer Würde stärken, sondern instrumentalisieren. Sie würden eine Waffe | |
zumal im Kampf darum, Wertvorstellungen jener durchzusetzen, die nach | |
biblischem Imperativ fruchtbar sind und sich mehren. | |
Viele Jugendliche mucken auf. Das reicht von den Fridays for Future über | |
die diversen autonomen Klimacamps in Oldenburg, Bremen, Hamburg, Hannover, | |
über Braunkohle-Blockaden bis hin zur „Kidical Mass“-Fahrradtour an diesem | |
Wochenende, die einen menschen-, also auch kindergerechten, klimaneutralen | |
Verkehr fordert, oder den Aktionen der Generationen-Stiftung bei fossilen | |
Wahlkampfveranstaltungen. | |
Und tatsächlich scheint ein starrsinniger Protest hier der politisch | |
sinnvollere Weg als nur pragmatische Forderungen: Er lässt sich nicht durch | |
kleine Maßnahmen beschwichtigen. Wenn ein Systemwechsel notwendig ist – und | |
dafür spricht viel –, reicht es nicht, wenn ein Herr in Anzug ein paar | |
Bonbons und Kugelschreiber verteilt. Und während dieser Protest viele | |
ältere, die guten Willens sind, mitreißt – die Omas gegen rechts, die | |
Scientists for Future treibt ja die Sorge um ihre Kinder und Enkel um –, | |
ruft er oft genug brachiale Reaktionen hervor: Der maßlose Polizeieinsatz | |
an der [1][Hamburger Ida-Ehre-Schule] ist ebenso ein Symptom davon wie das | |
aggressive Vorgehen der hannoverschen Polizei gegen [2][Transparente des | |
örtlichen Klimacamps], die den Sonntagsfrieden gestört hätten. | |
## Der Staat wirkt nervös | |
Der Staat wirkt insgesamt recht nervös, wenn es um junge Menschen geht: | |
Mediale Eliten dreschen mit erbarmungslosem Unverständnis auf Lapsus von | |
Newcomer*innen unter 50 ein, während Menschen mit | |
Steuerhinterziehungsbeihilfe-Erfahrung die selbst zugeschriebene Kompetenz | |
gern zugetraut wird. Zu Hass und Unverständnis wird aufgerufen, wenn Teens | |
nach Wochen des Stubenarrests open air feiern. Nein, das darf auf keinen | |
Fall passieren, wo kämen wir denn da hin. Die Häufung der Überreaktionen | |
aber ergibt eine Frontstellung von exekutiver Macht und jungen Menschen. | |
Aus ihr scheint vor allem das schlechte Gewissen einer Politik zu sprechen, | |
die Kindern in der Coronakrise bedenkenlos bedingungslose Solidarität mit | |
älteren und vulnerablen Menschen abverlangt, [3][keine Maßnahmen für eine | |
sichere Beschulung] ohne heftige Einschränkungen auf den Weg bringt – jede | |
Lüftung eines modernen Schweinestalls ist besser, flexibler und leiser, als | |
das, was in niedersächsischen Klassenräumen aktueller Standard ist – und | |
sie dann vergisst, wenn es darum geht, gesellschaftliche Teilhabe möglichst | |
infektionssicher neu zu organisieren. | |
Aus der Wucht des Vorgehens gegen Jugendliche, die einfach hier sind und | |
laut, spricht die unterdrückte Einsicht, dass der Vorwurf, man klaue ihnen | |
die Zukunft, zutrifft. Auch ein Slogan, der eine groteske Situation | |
beschreibt, die aber nicht lustig ist und nicht utopisch. Sondern leider | |
real. | |
Lesen Sie mehr über die Entwicklung der Hotelbranche – und den Widerstand | |
dagegen – in der Wochenendausgabe der taz nord oder am [4][E-Kiosk]. | |
17 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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