# taz.de -- „Hygiene-Demonstrationen“ in Berlin: Lederkutte trifft Steppjac… | |
> 19 Demonstrationen waren angemeldet. Es traten auf: Esoteriker, | |
> Verschwörer, Neonazis – und die Antifa. Nach Freiheitsberaubung sah das | |
> nicht aus. | |
Bild: Auf dem Weg zur Kundgebung: Karneval hatte es in Berlin schon immer schwer | |
Am Samstagnachmittag sind viele Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz | |
unterwegs, allen voran Teenies mit OP-Masken und Einkaufstüten. Sie leben | |
die Freiheit aus, die ihnen einige Wochen lang wegen der Ausbreitung einer | |
Epidemie verwehrt blieb: Sie treffen einander, zeigen sich, gehen in | |
Geschäfte. Dass sie dafür in Warteschlangen anstehen müssen und zum Schutz | |
aller eine Maske tragen, hält sie weder davon ab, noch scheint es sie | |
großartig zu stören. Auch die Polizei, die sich dominant über den Platz | |
verteilt hat, ändert nichts daran. | |
Deren Präsenz gilt den Menschen, denen noch das letzte bisschen | |
Coronamaßnahme als Rahmen ihrer Erzählung der Freiheitsberaubung dient. Sie | |
wollen an diesem Tag Sichtbarkeit zeigen. Wofür oder wogegen, ist nicht | |
klar formuliert. Es gibt die böse Elite und das gute Wir – auf diesem Boden | |
lässt es sich stampfen, marschieren, aber auch meditieren. Doch ist es | |
wirklich der Querschnitt der Gesellschaft, oder sind es zumindest | |
politische Lager, die sich an diesem Tag eine Bühne erhoffen? Und wem gilt | |
ihre Inszenierung? | |
Ein junger Mann mit braunen Locken läuft quer über den Alexanderplatz. Er | |
sieht aus wie ein Sandwich zwischen den zwei braunen Pappschildern vor und | |
hinter seinem Oberkörper. „How to stay at home without home“, steht darauf | |
in neonorange Lettern. Zielgerichtet geht er durch eine Lücke der | |
aufgebauten Polizeiabsperrung Richtung Brunnen der Völkerfreundschaft. In | |
der letzten Woche trafen sich eben hier Verschwörungsideolog:innen, aber | |
auch Hooligans und Hippies. Heute nicht. | |
Der junge Mann bewegt sich zu Menschen, aus deren ausgewaschenen Basecaps | |
blondierte Haare herausschauen. An einem Lautsprecherwagen befestigen drei | |
Personen ein Transparent: „Hanau war kein Einzelfall“. Heute gehört dieser | |
Ort Antifaschist:innen, die sicht- und hörbar für eine offene Gesellschaft | |
demonstrieren. | |
Ein Polizist läuft mit einem Karton Doughnuts vorbei, ein anderer in | |
Warnweste stellt sich zu den Demonstrant:innen und sagt: „Sie machen das | |
schon ganz großartig, bleiben sie so weit auseinander stehen, dann wirkt | |
das auch etwas größer.“ Die Stimmung ist friedlich: Die Sonne kommt | |
zwischen den Wolken hervor und im Hintergrund läuft elektronische Musik mit | |
armenischem Gesang. Die Demonstrant:innen halten ein Absperrband, damit das | |
Ausmaß ihrer Versammlung für die Polizei berechenbar bleibt. „Alle, die mit | |
uns demonstrieren wollen, können hier mit reinkommen“, sagt ein Mann durch | |
ein Megafon. | |
## Die Lage ist mehr als unübersichtlich | |
Dies ist eine von 19 Demonstrationen, die unweit voneinander entfernt in | |
Berlins Mitte stattfinden. Die Lage ist unübersichtlich, besonders für | |
jene, die nicht gewillt sind, für Offenheit zu demonstrieren. | |
Es sind Glatzköpfe, die zwischen den Passant:innen auffallen. Aber auch | |
Menschen mit Bürstenschnitt, Seitenscheitel und geflochtenen Zöpfen | |
schütteln ihren Kopf ungläubig und suchen mit ihren Augen nach | |
Gleichgesinnten. Ein Mann sagt durch sein grünes Tuch zu seiner | |
Begleiterin: „So viele Demos, man weiß gar nicht, wo man sich einordnen | |
soll.“ Gerade wegen dieser Orientierungslosigkeit sind es eher die | |
Nebenschauplätze, an denen sich an diesem Samstag die einprägsamen Szenen | |
abspielen. | |
An einer Ampel auf dem Weg zum nahen Rosa-Luxemburg-Platz steht eine | |
orientierungslose Gruppe von neun, in der Mehrzahl älteren Menschen neben | |
ihren Fahrrädern. Auf den ersten Blick könnte man meinen, sie seien auf | |
einer Fahrradtour. Sie schauen abwechselnd auf ihre Telefone, dann in der | |
Gegend herum. Auf den zweiten Blick hat einer von ihnen, ein junger blonder | |
Mann in Trekkinghose, schwedische Nationalflaggen an seinem Fahrrad und die | |
neueste Ausgabe „Demokratischer Widerstand“ in der Hand – das wöchentlic… | |
Papier der Verschwörer:innen. | |
Er erklärt einem Passanten die Lage: „Da hinten ist die Antifa. Da habe ich | |
mich früher auch mal zugehörig gefühlt“ – „Also ist die Antifa gegen d… | |
Hygienedemos? Sind die unhygienisch oder was?“ – „Nee weil wir angeblich | |
rechts und Verschwörer sind“ – „Ich versteh die Leute nicht, und was ich | |
gar nicht verstehe, sind diese Regeln“ – „Richtig, das wollen viele nicht | |
mehr mitmachen“ – „Wir ja auch nicht, aber wir gehen einfach einkaufen“, | |
sagt der Passant und deutet auf seine Begleiterin und sein kleines Kind, | |
die sich bereits abwenden. Der Mann in der Trekkinghose referiert von der | |
Aushebelung des Grundgesetzes, grenzt sich immer wieder nach rechts ab, | |
behauptet aber auch, die Linken gebe es nicht mehr, was heute auf der | |
Straße sei, sei „institutionell aufgestellt“. | |
Die Radler:innengruppe ist zwar verschwörungsideologisch gefestigt, aber | |
unsicher, wo sie ihre Inhalte hintragen soll, denn auch auf dem | |
Rosa-Luxemburg-Platz sind Antifaschist:innen. „Bis letzte Woche konnte man | |
sich noch sicher sein, dass da die Gleichgesinnten sind, und heute kam ich | |
dahin und war richtig schockiert. Da ist alles voll mit Antifa“, sagt ein | |
Radler. Ob die rechten Hooligans der letzten Woche auch zu seinen | |
Gleichgesinnten zählten? – „Letzte Woche war ich ausnahmsweise mal spät | |
dran, das habe ich dann nicht gesehen“, sagt er. | |
Auf dem Weg zum Rosa-Luxemburg-Platz herrscht viel Unmut. Die Erzählung von | |
der „aggressiven Antifa“ und „kriegsähnlichen Zuständen“ wird | |
weitergetragen. An einer Kreuzung verteilen zwei junge Frauen in schwarzen | |
Jacken und mit Mundschutz rote Flugblätter. „Gates noch?“, steht darauf | |
über sehr viel Text. Die Reaktionen fallen verschieden, aber entschieden | |
aus. Eine blonde Frau bringt den Zettel hämisch lachend und sagt, sie | |
hätten sich die Druckertinte sparen können. Eine ältere Frau fragt, ob sie | |
noch ein paar Zettel haben könne, „für die, die sich heute nicht | |
hertrauen“. Ein Mann blickt auf den Zettel und hebt seinen rechten Arm | |
reflexartig zu einem Hitlergruß in die Luft. Als die Frauen daraufhin laut | |
werden, ruft er: „Ihr seid die Nazis!“ | |
Der Rosa-Luxemburg-Platz selbst ist an diesem Samstag der ruhigste Ort von | |
Berlin-Mitte. Vor der Volksbühne tanzen vereinzelt ein paar Menschen mit | |
Reptilienmasken aus Karton und einem Transparent, auf dem „Abstand halten | |
von rechten Ideologien und Verschwörungsmythen“ steht. Wer auf den Platz | |
möchte, scheitert an der Polizeiabsperrung. Die Aggressiveren bleiben | |
stehen und provozieren, die Ruhigeren begeben sich enttäuscht zurück auf | |
die Suche nach Gleichgesinnten. Eine Bewegung sieht anders aus. | |
Ein fester Treffpunkt ist der drei Kilometer entfernte Platz der Republik. | |
Wie auf allen angemeldeten Demonstrationen in Berlin sind auch auf der | |
Wiese vor dem Reichstag nur 50 Personen gestattet, und doch ist die | |
Grünfläche voll mit Menschen, darunter vielen Frauen. Sie sitzen vereinzelt | |
und in Kleingruppen im Schneidersitz und „meditieren“, das behaupten sie | |
jedenfalls, als Polizist:innen ihnen den Platzverweis aussprechen. | |
Während die Esoteriker:innen größtenteils vor dem Reichstag bleiben, ziehen | |
andere durch den Tierpark zurück zum Brandenburger Tor. Schon auf dem Weg | |
dahin herrscht beschwingte Volksfeststimmung, inklusive Bier. Drei ältere | |
Frauen mit Bürstenhaarschnitt stoppen kurz vor dem Brandenburger Tor, um | |
sich fotografieren zu lassen. „Was sollen die machen?“, fragt die eine und | |
zeigt auf einige Polizist:innen. „Das ist genial! Das ist keine Demo. Wir | |
gehen einfach umher!“, sagt sie, während sie das Foto auf ihrem Smartphone | |
betrachtet. Ein Erinnerungsbild an die euphorische Freude, dass es nun | |
endlich loszugehen scheint. Doch was eigentlich? | |
## Nazikader beobachten lächelnd die Lage | |
Auf der anderen Seite des Tores treffen Lederkutten mit Totenköpfen auf | |
adrette Steppjacken. Nazikader beobachten die Lage lächelnd vom Rand her. | |
Wer hier dabei ist, wird später nicht behaupten können, das nicht gesehen | |
zu haben. | |
Von der Polizei unbegleitet machen sich einige Hundert Menschen auf dem | |
Fußweg unter den Linden entlang zum Alexanderplatz. Der Strom ist zwischen | |
den Passant:innen leicht erkennbar, da niemand von ihnen einen Mundschutz | |
trägt. Ansonsten fehlt es an optischen Alleinstellungsmerkmalen: Da sind | |
Männer und Frauen, jüngere und ältere. Einige tragen Plakate mit Herzen | |
darauf gemalt, andere verspiegelte Sonnenbrillen. Manche haben Steppjacke | |
an, andere Lederkutten. Es wäre schwer zu sagen was ihnen optisch gemein | |
ist. Ein Querschnitt der Gesellschaft sind sie dennoch nicht. Dazu genügt | |
es, sich vor Augen zu führen, wie viele Glatzköpfe es wohl in Deutschland | |
gibt – im Verhältnis deutlich weniger – und wie viele People of Color – … | |
Verhältnis deutlich mehr. | |
Ginge es hier tatsächlich um die Befreiung von Maßnahmen, müssten sich die | |
Demonstrant:innen eingestehen, dass sie woanders spazieren oder sogar | |
vor ihrem Lieblingscafé sitzen könnten. Als die ersten von ihnen den Marx & | |
Engels Park erreichen, kommen Einsatzfahrzeuge der Polizei und zerteilen | |
den Strom schrittweise in kleine Teile. Auf allen Seiten der Polizei stehen | |
nun wetternde Demonstrant:innen. | |
Eine junge Frau in feiner roter Anzughose und schwarzem Mantel lässt sich | |
von einem Mann zurückhalten. Sie ruft: „Jetzt kesseln die uns ein, tun so, | |
als wären wir weiß ich wer.“ Auf der anderen Seite der Polizeigrenze | |
springt ein sportlicher Mann mit roter Pudelmütze herum und versucht, durch | |
Rufe zu provozieren. Wieder ein paar Meter weiter brüllt ein Mann | |
zusammenhanglose Sätze. Die Worte sind laut, die Gesten groß – einen Inhalt | |
aber sucht man bei diesen Demonstrant:innen vergebens. Ob diese zur | |
weiteren Mobilisierung reichen werden, bleibt abzuwarten. Völlig | |
ausgeschlossen ist es aber nicht. | |
## „Wir gehen nur spazieren“ | |
Denn anstatt Inhalte nach außen zu transportieren, richten sich die meisten | |
Teilnehmenden selbstvergewissernde Aussagen nach innen: „Wir gehen nur | |
spazieren.“ „Ja, ja, wir Verschwörungstheoretiker.“ „Wo sind sie denn,… | |
Nazis?“ Es bräuchte nur wenige Schritte zur Seite, um die offensichtlichen | |
Nazis zu sehen. Es bräuchte nur wenige Schritte zurück, um den Irrsinn der | |
Situation zu begreifen. Aber die Menschen bleiben in ihren | |
selbstvergewissernden Kleingruppen, umspült von einem Sound aus Bob Marleys | |
„Get up, stand up“, Gebrüll, Hundebellen und Sirenen. Sie betrachten ihre | |
Mitstreiter:innen mit dem gleichem Maß an filternder Ignoranz, das sie | |
wissenschaftlichen Fakten entgegenbringen. | |
17 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Pia Stendera | |
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