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# taz.de -- Hohe Inflation in Argentinien: „1.000 Peso mehr als gestern?“
> Die Geldentwertung in Argentinien ist derzeit in einem Monat so hoch wie
> in Deutschland in einem Jahr. Viele erinnert das an die Zeit der
> Hyperinflation.
Bild: Pesos mit immer weniger Kaufkraft: An einem Geldautomaten in Buenos Aires
Buenos Aires taz | Argentiniens Inflation ist nicht zu bremsen. Im Juli
betrug die Inflationsrate 7,4 Prozent im Vergleich zum Vormonat, teilte die
nationale Statistikbehörde Indec am Donnerstag mit. Vor 20 Jahren hatte es
letztmals einen höheren Preisanstieg in einem Monat gegeben. Zum Vergleich:
In Deutschland wird mit einer derartigen Preissteigerungsrate für das ganze
Jahr 2022 gerechnet.
Im Umgang mit [1][inflationären Tendenzen] sind die Argentinier*innen
gut geschult. Dennoch steht Mutter Mariel mit ihrer Tochter verblüfft vor
dem Schuhregal: „1.000 Peso mehr als gestern?“ Der Verkäufer zuckt mit den
Schultern. Ja, über Nacht habe es wieder Preisänderungen gegeben. Wie
Mariel geht es derzeit vielen. Die Preissprünge fallen immer heftiger aus
und kommen in immer kürzeren Abständen.
Seit der Jahrtausendwende pendelt die jährliche Inflationsrate zwischen 10
und 35 Prozent. Aber seit 2019 liegt sie über 50 Prozent. Für das laufende
Jahr wird jetzt mit einem Anstieg auf 90 Prozent gerechnet – also
verdoppeln sich die Preise binnen 12 Monaten. Durch den rasanten
Kaufkraftverlust drohen 20 Prozent der 47 Millionen Argentinier*innen
in die Armut abzurutschen. Deren monatliches Familieneinkommen pendelt
zwischen umgerechnet 350 und 500 Euro und liegt damit knapp über der
Armutsgrenze.
## Auch Mittelklasse leidet unter Inflation
Rund 30 Prozent der Bevölkerung leben seit Jahrzehnten unterhalb der
Grenze. Familien, deren monatliches Gesamteinkommen darunter liegt, gelten
als arm. Familien mit einem Einkommen zwischen 500 und 1.000 Euro gehören
bereits der vermeintlich abgesicherten Mittelklasse an. Zur ihr zählen etwa
30 Prozent der Bevölkerung.
Doch auch für sie sind die Inflationsaussichten finster. So will der neue
Wirtschaftsminister Sergio Massa mit der [2][Anhebung der Strom- und
Gastarife] jetzt Ernst machen. Im Gegenzug sollen die staatlichen
Subventionen, mit denen die Tarife seit zwei Jahrzehnten eingefroren sind
und inzwischen über 11 Milliarden Euro verschlingen, gekürzt werden. Wegen
der weltweit gestiegenen Energiepreise wird diese Summe im laufenden Jahr
sogar noch höher ausfallen. Argentinien muss Gas und Strom importieren.
Damit niemandem die Versorgung gekappt wird, garantiert der
Wirtschaftsminister Sozialtarife. Wer weiter subventionierten Strom und Gas
bekommen will, muss via Antrag die soziale Notwendigkeit begründen.
Dennoch, die Tariferhöhungen werden in den kommenden Monaten an der
allgemeinen Preisspirale drehen und so auch für die unteren
Einkommensschichten zu spüren sein.
Um die Inflation zu dämpfen, hatte die Zentralbank am Donnerstag den
Leitzins auf 69,5 Prozent angehoben. Während sie auf der einen Seite mit
der Ausgabe von Billionen Peso das chronische Defizit im Staatshaushalt
über die Notenpresse finanziert, versucht sie auf der anderen Seite, die
überbordende Pesomenge mit immer höheren Zinsen abzusaugen. Dass die
Finanzierung des Haushaltsdefizits mit der Notenpresse der stärkste
Inflationstreiber sein könnte, wird von Zentralbank und Regierung
heruntergespielt.
## Erinnerungen an die Zeit der Hyperinflation
Witze aus der Zeit der Hyperinflation machen bereits die Runde: „Als ich in
den Laden ging, kostete der Liter Milch 100 Peso. Als ich ihn aus dem
Kühlfach nahm, waren es 150 und an der Kasse habe ich dann 200 Peso
bezahlt.“ Ältere Argentinier*innen erinnern sich noch gut an die Jahre
1989 und 1990, als die Inflationsraten in den Tausenderbereich schossen. Um
die Rentner*innen zu beruhigen, hatte Minister Massa bereits am Mittwoch
einen Sonderbonus angekündigt. Zusätzlich zur gesetzlichen Mindestrente von
165 Euro werden in den kommenden drei Monaten jeweils 23 Euro
Inflationsausgleich ausgezahlt.
Die Gefahr einer Hyperinflation bestehe derzeit nicht, so der Tenor unter
den Wirtschaftsanalist*innen. Allerdings wird für die kommenden Monate mit
einer ähnlich hohen Inflationsrate gerechnet. Mit den Julizahlen hat
Argentinien nun die Führung in Südamerika noch vor [3][Venezuela]
übernommen, wo die Geldentwertung zuletzt bei 5,3 Prozent monatlich lag.
Welche Auswirkungen das auf die sozialen Proteste haben könnte, ist offen.
Eine Vorahnung davon konnte Wirtschaftsminister Sergio Massa in der Nacht
zum Donnerstag bekommen, als rund 1.000 Menschen aus Protest gegen
Inflation und Armut vor seinem Ministerium campierten und ein Gespräch mit
ihm verlangten.
12 Aug 2022
## LINKS
[1] /Inflation-in-Argentinien/!5811334
[2] /Argentinien-in-der-Wirtschaftskrise/!5871171
[3] /Waehrungskrise-in-Venezuela/!5828227
## AUTOREN
Jürgen Vogt
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