# taz.de -- Hitler-Biografie von Volker Ullrich: Auf die Eliten konnte er sich … | |
> Ab 1939 schlüpfte Hitler in die Rolle des Kriegsherrn. Aus dieser | |
> Perspektive betrachtet Volker Ullrich den Diktator im zweiten Band seiner | |
> Biografie. | |
Bild: Hitler im Gespräch mit den Offizieren Werner von Fritsch und Werner von … | |
Die Diagnose des Historikers Norbert Frei – „So viel Hitler war nie“ – … | |
60. Jahrestag der Befreiung Deutschlands von der Nazi-Diktatur zielte nicht | |
auf das Treiben von Neo-Nazis, Geschichtsrevisionisten oder Ewiggestrigen, | |
sondern auf die Präsenz Hitlers auf dem Buchmarkt, in Fachzeitschriften und | |
Zeitungen bis hin zur Unterhaltungsindustrie. | |
Dieser Befund kontrastiert aber mit der wissenschaftlichen, im engeren | |
Sinne biografischen Beschäftigung mit dem Diktator. Erst zur | |
Jahrtausendwende erschien die zweibändige Hitler-Biografie von Ian Kershaw, | |
die schnell als Standardwerk galt. | |
Es gehörte daher viel Mut dazu, als sich der Historiker und Zeit-Redakteur | |
Volker Ullrich vor fast zehn Jahren entschloss, eine Hitlerbiografie zu | |
schreiben, [1][deren erster Band vor fünf Jahren] und deren zweiter eben | |
erschienen ist. Bereits im Vorwort zum ersten Band stellte sich Ullrich der | |
Frage, ob nach Kershaws „monumentaler Hitler-Biografie überhaupt noch ein | |
Bedarf an einer neuen“ existiere. Nach dem Vorliegen des zweiten Bandes | |
seiner eigenen Hitler-Biografie kann man Ullrichs Frage nur bejahen. Volker | |
Ullrichs 2.000 Seiten starke Biografie ist gut zu lesen und argumentiert | |
präzis. | |
Allein die von Ullrich verarbeitete neuere Literatur, die Biografien zu | |
weit über einem Dutzend wichtiger Exponenten der NS- Führungselite sowie | |
umfangreiche Quelleneditionen und ein Gebirge von Monografien über die Zeit | |
von 1933 bis 1945 haben das Wissen vermehrt und vertieft. Wie nur Kershaw | |
vor ihm hat Ullrich über die Literatur hinaus in sechs Archiven die | |
Nachlässe von rund 70 prominenten und weniger prominenten Funktionären des | |
Regimes ausgewertet und dabei viel Aufschlussreiches entdeckt. | |
## Die Wahl der Perspektive | |
Außer der wissenschaftlichen Sorgfalt, mit der Ullrich das Forschungs- und | |
Quellenmaterial sortiert, interpretiert, subtil bewertet und souverän | |
darstellt, ist es vor allem die Wahl der Perspektive, die dem zweiten Band | |
zugrunde liegt, die das Buch auszeichnet. Ullrichs Perspektive auf die | |
Darstellung von Hitlers letzten sechs Lebensjahren beruht auf einer ebenso | |
einfachen wie fruchtbaren Überlegung. | |
Ab 1939 war Hitler nicht mehr primär Partei- und Machtpolitiker, Agitator | |
und Propagandist, sondern schlüpfte in die Rolle des Kriegsherrn, der in | |
dieser Funktion seine Talente als Politiker, Redner, Schauspieler und | |
Agitator nicht an der Garderobe abgab. | |
Wie wichtig Hitler die Rolle des Kriegsherrn war, betonte er bereits in | |
seiner Rede zum Kriegsbeginn am 1. September 1939: „Ich will nichts anderes | |
sein als der erste Soldat des Deutschen Reiches! Ich habe damit wieder | |
jenen Rock angezogen, der mir selbst der heiligste und teuerste war. Ich | |
werde ihn nur ausziehen nach dem Sieg – oder – ich werde dieses Ende nicht | |
mehr erleben!“ | |
Auch in Fragen militärischer Strategie und Taktik blieb Hitler, was er in | |
der Politik war – ein Hasardeur, der immer aufs Ganze ging, va banque | |
spielte, sich dabei ebenso gründlich verrechnete wie danach die Schuld und | |
Verantwortung für katastrophale Fehler notorisch anderen zurechnete und | |
über deren Versagen stundenlang tobte und lamentierte. | |
## Ein Vernichtungskrieg | |
Ullrich belegt aber mit vielen Beispielen auch, dass Hitler über „ein | |
großes Wissen an rüstungstechnischen und kriegsgeschichtlichen Fakten“ | |
verfügte und sich gelegentlich zu Recht darüber beklagte, „meine Generale | |
verstehen nichts von Kriegswirtschaft“. Hitler bezichtigte seine Generäle, | |
den Krieg nicht aus der Erfahrung des Ersten Weltkriegs, sondern nur aus | |
gemütlichen Offizierskasinos und geheizten Generalstabsquartieren zu | |
kennen. | |
Als Kriegsherr behielt Hitler während des ganzen Kriegs das Heft in der | |
Hand. Die Transformation des Kriegs in einen rassistisch motivierten und | |
geführten Vernichtungskrieg gegen Polen, Juden, Bolschewisten und Russen | |
ist ohne Hitlers Wahn aus „Antibolschewismus, Antislawismus, | |
Antisemitismus, Sozialdarwinismus“ als „ideologischer Grundausstattung“ f… | |
die konformistische Armeeführung im Krieg gegen den Osten nicht denkbar. | |
Diese folgte dem verbrecherischen Kurs des Diktators während des Krieges | |
fast widerspruchslos. | |
Bereits Monate vor Beginn [2][des Vernichtungskriegs im Sommer 1941] schwor | |
Hitler hundert Generäle mit offenen Worten auf Kriegsziele ein, die mit | |
soldatischem Kodex, Kriegsrecht und Kriegsgerichten nichts, mit Vernichtung | |
und Härte alles gemein hatten. So wurde die Generalität zu Höchstleistungen | |
an Selbstverblendung fähig. Alfred Jodl etwa, Chef des | |
Wehrmachtführungsstabs im Oberkommando der Wehrmacht, beteuerte noch neun | |
Monate nach der Niederlage von Stalingrad (2. 2. 1943), „dass wir siegen | |
werden, weil wir siegen müssen“. | |
In der Bevölkerung und unter einfachen Soldaten kursierten zu dieser Zeit | |
längst Witzfragen wie die nach dem Unterschied zwischen Hitler und der | |
Sonne. Antwort: „Die Sonne geht im Osten auf, Hitler geht im Osten unter.“ | |
## Die Eliten dachten ähnlich | |
Überzeugend arbeitet Ullrich die Kontinuitätslinien vom Kaiserreich zur | |
nationalsozialistischen Herrschaft heraus: Hitlers fanatischer | |
Antisemitismus war ebenso anschlussfähig an den Antisemitismus in den | |
deutschen Eliten in Wirtschaft, Wissenschaft, Militär und Politik, wie man | |
dort seine Obsession für „Lebensraum im Osten“ teilte. Diese Obsession | |
bildete schon den Kern des kaiserlichen Diktatfriedens von Brest-Litowsk im | |
Jahr 1918, der das Zarenreich um 26 Prozent seines Territoriums | |
verkleinerte (der doppelten Fläche des Kaiserreichs!) und 75 Prozent der | |
Kohleproduktion sowie 100 Prozent der Baumwoll- und Erdölproduktion | |
abpresste. | |
Beflügelt von der Erinnerung an diesen „Frieden“ und berauscht von den | |
Blitzkriegen gegen Polen, Dänemark, Norwegen und Frankreich, folgten die | |
Wehrmachtsgeneräle Hitlers Traum vom „Lebensraum im Osten“ und seinen | |
„unermesslichen Reichtümern“ nur zu gern. | |
Dabei zeigte sich der Pferdefuß der optimistischen Strategie des schnellen | |
Siegens im Osten, die Hitler und seine Generäle teilten, schon ein halbes | |
Jahr, nachdem der Russlandfeldzug („Unternehmen Barbarossa“) am 22. Juni | |
1941 begonnen hatte: Hitler und die Wehrmachtführung unterschätzten in | |
ihrem völkisch-rassistisch imprägnierten Wahn die Widerstandskraft und | |
Anpassungsfähigkeit der Roten Armee sträflich und permanent. | |
So geriet Hitlers Wehrmacht nach anfänglichen Erfolgen – „Erfolg macht | |
erfolgreich!“, frohlockte Marianne von Weizsäcker, die Frau des | |
Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes, Ernst von Weizsäcker, über die | |
Wiedergewinnung des Memellandes – schnell in eine militärische Sackgasse. | |
Am 8. 12. 1941 befahl Hitler die Einstellung „aller größeren | |
Angriffsoperationen“. Der Vorstoß nach Osten hatte aber auch Folgen für | |
Hitlers Politik. Deutsche Truppen eroberten in wachsender Zahl „Feinde“, | |
die Hitler und die Nazis unter seinen Beamten und Militärs zu den | |
„Todfeinden des Reiches“ rechneten: Juden. | |
## Lizenz zum Töten | |
Phantastische Ideen wie die Umsiedlung von Millionen von Slawen und Juden | |
ins asiatische Russland („Generalplan Ost“) oder nach Madagaskar | |
scheiterten schnell an den militärischen Realitäten und einer geeigneten | |
Transportinfrastruktur. Den Weg aus diesem selbst geschaffenen Dilemma nach | |
dem Scheitern der mit einer „Lizenz zum Töten“ ausgestatteten vier | |
Einsatzgruppen, eigenhändig-manufakturmäßig zu morden, bildete schließlich | |
„eine Gesamtlösung der Juden“ (Hermann Göring, 31. 7. 1941), also die | |
„Evakuierung“ der Juden „aus deutschen Einflussgebieten in Europa“ in | |
industriemäßig funktionierende Vernichtungslager in Ostpolen. | |
Auch für den größeren Teil von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen | |
fehlte es an Transportmitteln, um sie als Zwangsarbeiter nach Deutschland | |
zu verschieben. Rund drei Millionen Soldaten wurden dem Hungertod | |
überlassen. Der Mord an Juden und das Aushungern sowjetischer Soldaten | |
gehören zu den „größten und schrecklichsten Verbrechen der Deutschen“ | |
(Ulrich Herbert). | |
23 Jan 2019 | |
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## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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