| # taz.de -- Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine: Albträume und Tatkraft | |
| > Unsere Autorin wohnt nahe dem Berliner Hauptbahnhof. Täglich kommen | |
| > Tausende Schutzsuchende mit Sonderzügen aus der Ukraine. | |
| Bild: Berliner:Innen bieten Unterkünfte für Geflüchtete am Hauptbahnhof | |
| Vier Marokkaner und eine Marokkanerin. Laufen jetzt. Sind sehr dankbar“, | |
| schreibt mein Freund um 23.46 Uhr. „Huch“, schreibe ich zurück, „okay“. | |
| Es ist die Nacht zum 4. März. Ich bin zu Besuch bei meiner Mutter in | |
| Leipzig, während seit dem Vortag immer mehr Sonderzüge mit Flüchtenden aus | |
| der Ukraine am Berliner Hauptbahnhof ankommen. Kurz zuvor – Mutter und ich | |
| probieren gerade einen neuen japanischen Burgerladen aus – verfolge ich mit | |
| halbem Auge ein Gespräch zwischen meiner Mitbewohnerin und meinem Freund in | |
| unserem WG-Chat. | |
| Nadia schrieb, sie habe Aufrufe gesehen, Flüchtende für eine Nacht | |
| aufzunehmen. Fiete schreibt, er fahre gerade zum Fußballtraining. Auf dem | |
| Rückweg schaue er am Hauptbahnhof vorbei. Unsere 3-Zimmer-Wohnung liegt nur | |
| zehn Minuten entfernt. Für uns war dieses unübersichtliche Nadelöhr bisher | |
| schlicht der nächstgelegene S-Bahn-Halt. | |
| ## Große Pappschilder | |
| Nadia postete einen Aufruf in unseren Chat: „Wenn Sie können, gehen Sie | |
| bitte zum Aufnahmezentrum im Untergeschoss des Berliner Hauptbahnhofs. Am | |
| besten bringen Sie ein großes Schild mit, auf das Sie gut sichtbar | |
| schreiben, für wie viele Personen Sie eine Schlafmöglichkeit für welchen | |
| Zeitraum anbieten können.“ Abends um 11 ruft Fiete an. Er sei gerade vor | |
| Ort gewesen, es sei viel los. Er habe sich entschlossen nach Hause zu | |
| gehen, kurz aufzuräumen, das Bett in meinem Zimmer frisch zu beziehen und | |
| dann mit einem Schild zum Bahnhof zu gehen. | |
| „Okay“, sage ich. Dann ruft er noch mal an, weil er keine Pappe findet. | |
| Dann höre ich eine Weile nichts. Bis zur Nachricht, er laufe jetzt mit fünf | |
| marokkanischen Student*innen nach Hause, die aus Charkiw geflohen sind. | |
| Sie wollen nichts essen, nur duschen und schlafen. Morgens beim Tee haben | |
| sie von ihrer [1][Flucht] erzählt. Über die Grenze nach Polen zu gelangen, | |
| sei ein Albtraum gewesen. | |
| Es gab zwei Schlangen, eine für Ukrainer*innen, eine für „andere“. Die | |
| Kapuzen tief ins Gesicht gezogen haben sie die Schlangen gewechselt und | |
| sich in den Windschatten von Müttern mit Kindern begeben. Einer von ihnen | |
| hat es zunächst nicht geschafft. Drei Tage musste er an der Grenze in der | |
| Kälte ausharren, ohne Essen. Sie hätten in Warschau auf ihn gewartet. Als | |
| er ankam, habe er kaum noch stehen können. | |
| ## Was wird aus dem Studium? | |
| Die Hauptsorge unserer Gäste gilt dem unabgeschlossenen Studium, das sie in | |
| Charkiw begonnen haben. Drei von ihnen brechen zur Technischen Universität | |
| auf, die anderen beiden, ein Geschwisterpaar, zur Kleiderspende am | |
| Hauptbahnhof, bevor sie zu ihrem Onkel nach Brüssel fahren. Die drei Jungen | |
| bleiben noch eine Nacht, bevor sie eine längerfristige Unterkunft in Berlin | |
| finden. | |
| Noch in derselben Nacht nimmt Fiete Mutter, Großmutter und ein fünfjähriges | |
| Mädchen aus dem Donbass auf. Der erste Satz der Mutter lautet: [2][„Das ist | |
| mein zweiter Krieg.“] Auch sie lehnen dankend sein Essensangebot ab. Nach | |
| fünf Stunden Schlaf trinken sie in unserer Küche noch zusammen Kaffee, | |
| bevor sie nach Hamburg weiterreisen. | |
| In gutem Englisch habe die Mutter ihn gefragt, wer seiner Meinung nach am | |
| Krieg schuld sei, berichtet er mir später am Telefon, während ich im Zug | |
| nach Berlin sitze. „Ich habe gesagt, dass es ja wohl kaum zwei Meinungen | |
| dazu geben kann“. Wie sich herausstellte, war die Frau anderer Meinung. | |
| Selenskyj sei derjenige gewesen, der mit [3][der Atombombe] gedroht habe, | |
| weshalb Putin alle militärischen Stützpunkte der Ukraine zerstören musste, | |
| behauptete sie. Und: Seitdem bombardiere die Ukraine ihre eigenen Städte. | |
| ## Bettlaken waschen | |
| Als ich zu Hause ankomme, ist niemand da. Ich räume auf, wasche die Laken, | |
| beziehe das Bett in meinem Zimmer neu. Ich spüre eine befreiende Tatkraft, | |
| für die ich mich im nächsten Moment schäme, weil ich bisher lediglich aus | |
| der Ferne zugeschaut habe, wie mein Freund Flüchtende aufgenommen hat. Am | |
| Abend sitzen wir mit Freunden in der Küche und trinken Bier. Gegen 23 Uhr | |
| gehen wir zum Hauptbahnhof. Fiete ist mittlerweile einer Telegram-Gruppe | |
| beigetreten, in der Hilfe koordiniert wird. | |
| Hier werden auch Ankunftszeiten von Sonderzügen durchgegeben. Es ist voll. | |
| Im Untergeschoss, neben dem Fanshop von Hertha-BSC, hängen viele bunte | |
| Zettel und Pappen mit Hinweisen auf Ukrainisch, Russisch, Deutsch oder | |
| Englisch, chaotisch übereinandergeklebt. Pfeile nach links, Pfeile nach | |
| rechts. | |
| Anlaufstellen für LGBTQ- und BiPoC-Flüchtende sind eingerichtet. Menschen | |
| stehen in kleinen Gruppen beieinander, trinken Tee, essen Stullen. Kinder | |
| schlafen auf Koffern. Alte Frauen mit Kopftüchern lehnen mit geschlossenen | |
| Augen an den Wänden. „Eine Mutter mit drei Töchtern. Weiterreise morgen | |
| früh“, tönt es durch ein Megafon. Wir melden uns und folgen einem jungen | |
| Mann. | |
| ## Infos für die Weiterreise | |
| Eine kleine Frau, ein junges Mädchen und zwei Kinder stehen um einen Haufen | |
| von Plastiktüten und Kuscheltieren und lächeln uns an. Sie kommen aus | |
| Charkiw, sprechen kein Englisch. Der Mann übersetzt die wichtigsten Infos. | |
| Sie wollen morgen früh nach Stuttgart weiterreisen, er würde sie am Bahnhof | |
| wieder abholen und ihnen beim Kauf von Tickets und SIM-Karten helfen. Jetzt | |
| müssten sie schlafen, das haben sie seit drei Nächten nicht mehr. | |
| Wir laufen gemeinsam nach Hause, Fiete ächzt unter den erstaunlich schweren | |
| Plastiktüten. Reden können wir nicht, aber wir lächeln uns immer wieder an, | |
| wenn sich unsere Blicke kreuzen. Zu Hause angekommen streckt mir die | |
| älteste Tochter die Hand entgegen: „Hello. My name is Diana.“ Ich schütte… | |
| ihre Hand und sage meinen Namen. Sie deutet auf ihre Schwestern: „Karina, | |
| Marina.“ Ich deute auf meine Mitbewohner: „Fiete, Nadia.“ Wir freuen uns. | |
| Dann schickt die Mutter ihre Töchter nacheinander in die Dusche. In dieser | |
| Nacht schlafe ich unruhig, mein Herz klopft unangenehm. Paradoxerweise | |
| ertappe ich mich immer wieder bei der Sorge, unsere Nachbarn könnten sich | |
| beschweren, obwohl ich noch nie stillere Gäste hatte. Noch nie stillere | |
| Kinder. Morgens kochen wir Kaffee. Die Mutter bittet um Zucker für den Tee | |
| ihrer Kinder. Zu viert sitzen sie am kleinen Küchentisch. Auf dem Weg zum | |
| Bahnhof scheint mittags die Sonne. Das jüngste Mädchen nimmt meine Hand. | |
| Diana fragt uns nach unserem Instagram. | |
| ## Fernsehturm auf Russisch | |
| An der Spree angelangt übersetzt Fiete die Wörter „Parlament“ und | |
| „Fernsehturm“ auf Russisch. Nadia zeigt auf das Kanzleramt und sagt „Ange… | |
| Merkel“. Die vier nicken und lachen. „Beautiful“, sagt die Mutter. Am | |
| Bahnhof umarmen wir uns zum Abschied. Auf dem Rückweg kaufen wir | |
| Zahnbürsten, Minztee und Müsliriegel. Zu Hause ziehen wir die Betten ab. | |
| Dann gehe ich wieder zum Hauptbahnhof, diesmal um zur Grimm-Bibliothek zu | |
| fahren. | |
| Gerade ist wieder ein Sonderzug angekommen, und Freiwillige in Warnwesten | |
| schleusen den Strom an Flüchtenden mit ihren Tüten, Koffern und vielen | |
| Katzen und Hunden zwischen den Kaffee to go trinkenden Pendler*innen ins | |
| Untergeschoss. Das Nebeneinander von Ausnahmezustand und Pendleralltag | |
| stößt mir auf. Vor einer Stunde habe ich noch die Hand eines kleinen | |
| Mädchens aus Charkiw gehalten, jetzt gehe ich frisch geduscht in die | |
| Bibliothek. | |
| Am Abend schreibt uns Diana – Fiete und ich sitzen gerade beim Essen –, sie | |
| seien jetzt in München an einem [4][sehr kalten Ort mit vielen fremden | |
| Leute]n. Sie wüssten nicht, was sie tun sollen, es gebe niemanden, der | |
| ihnen helfe. Ob wir Bekannte hätten, die sie aufnehmen können? „Aber warum | |
| sind sie denn nach München gefahren?“, fragt meine Mutter am Telefon. „Wei… | |
| ich auch nicht. Wir konnten uns nicht unterhalten, Mama.“ Nachdem wir unser | |
| Bier ausgetrunken haben, gehen wir wieder zum Bahnhof. | |
| ## Strenge Kontrollen | |
| Wir fragen eine Freiwillige nach der Ankunftszeit des nächsten Sonderzugs. | |
| Sie erzählt uns, dass diese momentan immer größere Verspätungen hätten, | |
| weil sie wegen Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze aufgehalten | |
| würden. Wir kommen mit Andreij, einem 16-Jährigen mit langen Haaren, sowie | |
| einer Mutter mit zwei Kindern zurück zur Wohnung. Das sei die Schwester | |
| seiner Stiefmutter, erzählt Andreij in gutem Englisch. | |
| Seine eigene Mutter sei Psychiaterin beim Militär, sein Vater ist 50, er | |
| dürfe nicht ausreisen. Seine Schwester und ihren Freund hat er in Lwiw | |
| zurückgelassen, nachdem sie im Bus auf der Flucht ihren ersten | |
| epileptischen Anfall hatte. Es gehe ihr aber wieder gut, sie wollen bleiben | |
| und helfen. | |
| Er redet aufgeregt, stottert beinah, lacht nervös an jedem Satzende. Das | |
| seien Geschichten, die er noch seinen Enkeln erzählen werde – ob wir sie | |
| hören wollen? Gegen 3 Uhr nachts gehen wir ins Bett. Am nächsten Morgen | |
| sagt Andrej, er habe mehr geschlafen, als er dachte. Seit Kriegsbeginn habe | |
| er Schlafstörungen. Er spricht ruhiger. | |
| Wir begleiten sie zur U-Bahn-Haltestelle, wo sie von Andrejs Stiefmutter | |
| abgeholt werden, die bereits in einer brandenburgischen Stadt eine | |
| Unterkunft bekommen hat. Fiete und Andrej tauschen Nummern aus. Abends | |
| schreibt Andrej, er sei gut angekommen. „Sieht so aus, als würde ich hier | |
| im nächsten Jahr zur Schule gehen, falls ich hierbleibe.“ | |
| 14 Mar 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marlene Militz | |
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