| # taz.de -- Freiwilligenhilfe in der Westukraine: Krisenstab am Küchentisch | |
| > Tscherniwzi in der Westukraine blieb bisher von Angriffen verschont. Zu | |
| > Besuch bei Menschen, die Lebensmittel und Material für die Armee | |
| > beschaffen. | |
| Bild: Die Sporthalle ist zu einem Verteilungszentrum für Hilfsgüter geworden | |
| Tscherniwzi/Czernowitz taz | Abends um kurz nach halb neun heulen die | |
| Alarme los. Ein durchdringender Ton, erst tief, dann hoch, und wieder | |
| zurück. Einmal, zweimal, acht Mal, zwanzig Mal – etwa die Hälfte der | |
| Menschen in der riesigen Halle schaut auf ihre Mobiltelefone, die sich in | |
| Sirenen verwandelt haben. | |
| Es ist Montag der 7. März, Tag 12 des Krieges. Hier in der Ukraine kommt | |
| der Luftalarm per App. Raketen könnten die Stadt treffen, Flugzeuge mit | |
| Bomben auf dem Weg sein. Aber niemand rennt los. Alle bleiben, wo sie sind, | |
| räumen weiter Kartons von links nach rechts, kramen zwischen kurzen Hosen | |
| und Faltenröcken nach warmen Mänteln, rauchen an den großen Eingangstüren | |
| Zigaretten. | |
| „Sollten wir nicht in den Bunker?“, frage ich. Sascha schaut zu mir hoch, | |
| das Licht der Neonlampen legt einen dunklen Ring um die graublaue Iris | |
| ihrer Augen. „Hier gibt es keinen“, sagt sie, und zuckt mit den Schultern, | |
| ihre riesige schwarze Jacke hebt und senkt sich leicht. „Willst du etwas | |
| essen?“ Dann dreht sie sich um und läuft los. | |
| So reagiert man in Tscherniwzi, dem ehemals Habsburger Czernowitz, ganz im | |
| Westen der Ukraine, also auf einen möglichen Angriff Russlands. Dabei | |
| wissen hier doch auch alle von den Raketen, die die [1][ostukrainische | |
| Millionenstadt Charkiw] treffen, sie kennen die Bilder von brennenden | |
| [2][Häusern in der Hafenstadt Mariupol], von den zerstörten Kleinstädten | |
| rund um die Hauptstadt Kyjiw. | |
| Wie viele Tote der Krieg bisher gefordert hat, ist schwer zu sagen, weil | |
| nur die ukrainische Regierung regelmäßig Zahlen nennt. Die Vereinten | |
| Nationen zählten bis zum 8. März über 500 tote Zivilist:innen, die | |
| ukrainische Regierung hat allein 1.200 Tote als Folge des Beschusses und | |
| der Belagerung von Mariupol angegeben. Klar ist aber, dass viele russische | |
| Raketen, Granaten und Bomben Wohnhäuser treffen, und Kindergärten und | |
| Kliniken. | |
| Doch dieser Teil des Landes bleibt vom russischen Überfall auf die Ukraine | |
| bisher weitgehend verschont. Der Flughafen der knapp 140 Kilometer weiter | |
| nordöstlich gelegenen Stadt Iwano-Frankiwsk wurde in den ersten Kriegstagen | |
| mit Raketen attackiert, in [3][Lwiw (Lemberg)] haben sie Statuen in der | |
| ganzen Stadt mit feuerfesten Materialien eingewickelt, falls Russland auch | |
| diese Stadt beschießt. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag waren | |
| Explosionen in Luzk zu hören. | |
| ## Zentrales Verteilungszentrum | |
| Hier in Tscherniwzi, knapp 40 Kilometer vor der Grenze zu Rumänien und | |
| damit auch der Grenze zur Europäischen Union, ist es bisher ruhig. Aber | |
| wenn die Stadt tatsächlich einmal angegriffen wird, wäre die große | |
| Sporthalle, durch die ich Sasha hinterherdackele, ein strategisch wichtiges | |
| Ziel. Sie ist zum zentralen Verteilungszentrum für Hilfsgüter in | |
| Tscherniwzi geworden. | |
| Sasha Zwetkova und ich kennen uns bereits seit einigen Jahren. Sie ist | |
| gleich an dem Tag geflohen, als der Krieg ausbrach. Russische Truppen haben | |
| eine Rakete auf ein Kraftwerk abgeschossen, das nicht weit weg von ihrem | |
| Haus steht. | |
| Sie ist Buchhalterin oder war es, in einem früheren Leben, das gerade | |
| einmal ein bisschen mehr als zwei Wochen her ist. Ein Leben, das sie hatte, | |
| bevor der russische Diktator Wladimir Putin mit seiner Armee die Ukraine am | |
| 24. Februar überfallen hat. | |
| Sie hat früher für eine große Baufirma gearbeitet, in den vergangenen | |
| Jahren arbeitete sie dagegen oft für Leute, die ständig pleite sind: | |
| Regisseur:innen, Produzent:innen, irgendwas mit Film. Ihre Schwägerin Lizza | |
| Smith ist eine dieser Regisseur:innen, auch sie schwirrt hier irgendwo in | |
| der Halle herum. | |
| Sie kommt aus dem gleichen Ort wie Sasha, einer Kleinstadt bei Kyjiw, wo | |
| wir uns kennenlernten, als ich eine Geschichte über Schulkinder im Krieg | |
| geschrieben habe. Ich bin hier um Lizza und Sasha zu besuchen, so lange es | |
| noch geht, und um Medikamente mitzubringen, Schlafsäcke, Filmausrüstung für | |
| Lizza und ihre Kolleg:innen, und Geld. | |
| ## Kugelsichere Westen, Schmerztabletten und Holzlatten | |
| Am Tor zur Straße stehen Männer in Tarnuniformen und mit umgehängten | |
| Kalaschnikows. Durch dieses Tor kommen Lkw und Minibusse, Menschen mit | |
| Paketen auf dem Arm. Sie bringen Spenden aus dem In- und Ausland. | |
| Teekannen, kugelsichere Westen, Schmerztabletten und Holzlatten. | |
| Kommt eine neue Ladung, brüllt jemand irgendwas und Männer mit | |
| Arbeitshandschuhen reißen die Kartons von den Ladeflächen, bilden Ketten, | |
| reichen Helfer:innen Kisten oder Beutel, sortieren alles, stapeln es auf | |
| Paletten, stopfen es in Beutel und tragen es dann raus in den | |
| Schneegriesel, minus 4 Grad an diesem Montagabend, kalt genug, dass einem | |
| die Finger beim Wischen auf dem Smartphone festkleben und sich der Akku so | |
| schnell leert als würde ihn der Winter aussaugen. | |
| Weiße Minibusse fahren vor, in die Männer mit den Arbeitshandschuhen so | |
| viel Zeug stopfen, dass kaum noch der Fahrer Platz hat, und dann geht es | |
| los Richtung Kyjiw, Zhytomyr, Koselez – in große und kleine Städte überall | |
| im Land. Der Inhalt der Autos ist für Krankenhäuser bestimmt und für | |
| Kindergärten, aber auch für einzelne Personen, auf Paletten voller | |
| Konserven steht mit schwarzem Edding „Armiya“, also „Armee“, auf kleine… | |
| Paketen auch Mascha Soundso und Wolodymyr Diesunddas, dann eine Adresse. | |
| Von hier aus wird die Hilfe für Notleidende ebenso organisiert wie auch der | |
| Nachschub für den Krieg gegen die der ukrainischen Armee an Mannstärke und | |
| Feuerkraft weit überlegenen russischen Truppen. Waffen sehe ich keine, | |
| genausowenig wie ein System, wer wann etwas anfasst, wegträgt, aufreißt | |
| oder hinstellt. | |
| ## Die blau-gelbe Fahne weht | |
| „Es gibt auch keins“, sagt Sasha und läuft durch eine Doppeltür, einen | |
| langen Gang hinunter, „aber es funktioniert trotzdem, das ist ukrainische | |
| Anarchie.“ Sie biegt nach links ab, und dann kommt noch einen langer Gang | |
| und dann stehen wir in einer Cafeteria, auf einem Tresen stehen Wurstbrote, | |
| Klopse aus gebratenem Hackfleisch und Teigteile, bei denen man nicht sieht, | |
| was drin ist. Es riecht nach Kaffee. | |
| An runden Tischen und auf langen an den Wänden aufgestellten Bänken sitzen | |
| Männer in den gleichen Tarnklamotten wie draußen vor dem Tor, und Frauen, | |
| die wie Sasha in ihren Mänteln fast verschwinden. Der Fernseher an der Wand | |
| gegenüber dem Tresen mit dem Essen zeigt Panzer, die durch Schlamm fahren, | |
| abgefeuerte Raketen, die blau-gelbe ukrainische Fahne weht, die | |
| Nationalhymne wird gespielt. Sasha nickt zu den Bergen von Essen hinüber: | |
| „Du kannst dir alles nehmen was du willst.“ | |
| Da gehen die Sirenen auf den Telefonen wieder los. Wieder Luftalarm. Wieder | |
| rührt sich niemand. „Wenn was passiert, sind wir hier am sichersten“, sagt | |
| Sasha, und ein Lächeln zuckt kurz über ihr blasses, schmales Gesicht, es | |
| ist nicht klar, was sie meint, was an den dünnen Wänden hier sicherer sein | |
| soll als in der Weite der Halle eben, aber sie antwortet nicht und holt | |
| sich einen Kaffee. Sie ist ständig müde. Zu wenig Schlaf. „Wir haben keine | |
| Zeit“, sagt sie, als sie zurückkommt, „wir müssen noch etwas schaffen.“ | |
| Eine Armee-Einheit hat um Medikamente gebeten, die sollen heute noch raus. | |
| Solche Bitten kommen zum Teil per offiziellem Schreiben mit Briefkopf und | |
| Stempel zu Sasha, viele auch per Internet, meistens per Telegram, manchmal | |
| per Facebook, WhatsApp oder auch per Signal-Messenger. Wer in der Ukraine, | |
| also im Krieg, gerade etwas braucht, der schickt ein Google Spreadsheet, | |
| also eine Tabelle, in der steht, was er sucht und wie viel davon, an seine | |
| Kontakte auf Social Media. Meistens mit der Bitte sie weiter zu verbreiten. | |
| Ich hatte die Grenze von Rumänien in die Ukraine noch nicht überquert, da | |
| klebte schon ein solches Spreadsheet in meinem Facebook-Messenger. | |
| Geschickt hatte es mir ein ehemaliger Schauspieler, der als Freiwilliger | |
| bei einem Hilfszentrum in Lwiw arbeitet, das sich neun Tage nach | |
| Kriegsbeginn gegründet hat. | |
| Er suchte unter anderem 50 Packungen Windeln und einhundert Helme. Und wer | |
| etwas von dem hat, was im Sheet gesucht wird, der meldet sich dann bei | |
| diesem Schauspieler. Der oder irgendwer in seiner Organisation sucht dann | |
| nach Fahrer:innen, die zumindest einen Teil der Strecke fahren. Auch die | |
| sind oft Freiwillige, sie lassen sich nur den Sprit bezahlen, trotz der | |
| Gefahr – russische Soldaten haben [4][laut Medienberichten schon mehrfach | |
| nicht-militärische Fahrzeuge beschossen] und die Insassen getötet. | |
| Wie die Hilfsgüter durchs Land bewegt werden, lässt sich am besten an einem | |
| Küchentisch beobachten. Bevor sie hier an diesem Montag gegen sieben Uhr | |
| abends in die große Halle gekommen ist, hat Sashaden ganzen Tag an so einem | |
| Tisch in einer hellen Küche verbracht, in einem Haus etwa 15 Minuten | |
| entfernt, wenn man mit dem Auto fährt. | |
| ## Ursprünge im Krieg von 2015 | |
| Sie hat an diesem Tisch gesessen, auf dem Laptop vor sich tippend und das | |
| Smartphone zwischen Schulter und Ohr geklemmt. Das Ding hat entweder | |
| ständig geklingelt, oder sie hat selbst jemanden angerufen und wenn beides | |
| gerade nicht passiert ist, schepperten die dunklen Stimmen von Männern und | |
| Nachrichten von müde klingenden Frauen blechern verzerrt aus dem | |
| Lautsprecher ihres Computers. | |
| „Sollen wir diese Gasmasken kaufen?“ | |
| Ein Anrufer aus Deutschland, er durchforstet deutsche Seiten nach günstigen | |
| Angeboten, Sasha hat ihm vorher ein Spreadsheet geschickt mit Dingen, um | |
| die jemand im Hilfszentrum sie gebeten hat. | |
| „Sind das die richtigen Schuhe?“ | |
| Gute wetterfeste Stiefel sind immer bei allen begehrt, bei Soldaten | |
| natürlich, aber bei allen anderen auch. | |
| Um 11 Uhr fragt wieder jemand, dieses Mal aus der Ukraine: | |
| „Kriegen wir ein Problem mit der Steuerbehörde, wenn wir das kaufen?“ | |
| Sasha antwortet. „Nein, im Krieg doch nicht.“ | |
| Mit Steuern kennt sich Sasha als Buchhalterin sehr gut aus. | |
| Ihr gegenüber sitzt Lizza, große braune Augen, schwarze Locken und auf der | |
| Haut ein Anflug von Sommerurlaub, obwohl ihre Reise nach Kreta nun auch | |
| schon wieder Monate her ist. Lizza ist eine Regisseurin, die ich 2015 bei | |
| meiner Recherche im Donbass kennenlernte, Sashas Schwägerin. Sie gehört zu | |
| den Frauen, die dem ukrainischen Film in den vergangenen Jahren zu mehr | |
| internationaler Aufmerksamkeit verholfen haben. | |
| „Shkola Nomer 3“, eine Dokumentation über Schüler im Donbass und ihren | |
| Umgang mit dem Krieg im Osten der Ukraine, den russische Truppen und von | |
| ihnen gestützte Separatisten bereits 2014 begonnen haben, hat auf der | |
| Berlinale 2017 den Großen Preis der Kategorie 14plus gewonnen. | |
| Lizza starrt aus der dunklen Höhle ihrer Kapuze so gebannt auf ihren | |
| Bildschirm, dass man neben ihrem Ohr mit dem Fingern schnipsen muss, um sie | |
| ins Hier zurück zu holen. Die ukrainische Freiwilligenbewegung hat ihre | |
| Ursprünge in diesem ersten Krieg von 2015, schon damals haben die so | |
| genannten Volontär:innen all das getan, was der durch Korruption und | |
| Misswirtschaft geschwächte Staat nicht in der Lage war zu tun: Tarnnetze | |
| für die Armee flechten, Essen für Bedürftige kochen, zerstörte Schulen | |
| wieder aufbauen. Die Volontär:innen sind dabei nicht zu verwechseln mit | |
| den Kriegsfreiwilligen, die sich zur Armee meldeten oder in eigenen | |
| Bataillonen kämpften. | |
| „Wie ist gerade der Kurs Dollar in Zloty?“ – Lizza schaut aus ihrer | |
| Kapuzenhöhle zu Sasha. | |
| „1 zu 4,55“, sagt Sasha nach kurzem Tippen. | |
| „Das sind 450 Dollar pro Stück für die kugelsicheren Westen“. Lizza starrt | |
| wieder auf den Computer. | |
| Das ist ein wirklich guter Preis. In Deutschland hätte man für diese | |
| Variante schon in normalen Zeiten fast das Doppelte bezahlt. Und die Zeiten | |
| sind nicht normal. Kugelsichere Westen sind gerade schwer zu kriegen. | |
| Sowohl die Varianten in schwarz oder blau für Journalist:innen und | |
| Filmemacher:innen, die Lizza und Sasha gerade suchen, als auch die in | |
| Tarnfarben für das Militär. | |
| ## 83 Westen und 57 Helme | |
| Die Parteien im russisch-ukrainischen Krieg räumen den Markt leer. Das | |
| müsste die Preise eigentlich noch weiter nach oben treiben. „Das ist so | |
| billig, weil wir so viele kaufen“, sagt Lizza. Ein bisschen Solidarität mit | |
| der Ukraine sei vielleicht auch dabei. 83 Westen und 57 Helme stehen auf | |
| Lizzas Spreadsheet, die will sie für Männer und Frauen besorgen, die in den | |
| Einheiten der ukrainischen Territorialverteidigung kämpfen. | |
| Das Geld dafür kommt von verschiedenen Spendern, unter anderem aus den USA. | |
| Lizza sorgt dafür, dass es an eine polnische Stiftung geht, die wiederum | |
| die Westen und Helme kauft. | |
| Dieser Küchentisch, an dem wir hier sitzen, das ist neben den vom Staat und | |
| von Nichtregierungsorganisationen geführten Centern wie der Sporthalle der | |
| andere Ort, an dem ukrainische Freiwillige wie Lizza und Sasha Nachschub | |
| und Hilfe organisieren. | |
| An solchen Tischen telefonieren sie Apotheken im Süden nach Medikamenten | |
| ab, die im Norden des Landes gebraucht werden, hier lesen sie von | |
| Freund:innen im Telegram-Chat, dass jemand Windeln zu einer | |
| pflegebedürftigen Frau in die Stadt Saporischja bringen muss, außerdem hat | |
| sich eine Frau gemeldet, die selbst schon nach Bayern geflohen ist, deren | |
| Tochter mit ihrem Hund aber noch in einer Metro-Station in Kyjiw festsitzt. | |
| „Kannst du die Tochter mitnehmen, auf dem Rückweg?“, fragt Lizza ins | |
| Telefon. 3.000 Grywna lassen sich die Fahrer:innen üblicherweise für die | |
| Tour ins gefährliche Kyjiw und zurück nach Tscherniwzi bezahlen, das sind | |
| knapp 93 Euro, die sollen die Kosten für das Benzin abdecken. Dieses Mal | |
| soll der Fahrer aber noch eine andere Frau mitnehmen, die hat ebenfalls | |
| einen Hund und das sind ihm zu viele Tiere. Lizza sagt: „Wir reden heute | |
| Abend nochmal.“ | |
| Neben dem Tisch, an dem Lizza und Sasha sitzen, stapelt sich auf einer | |
| braunen Anrichte neben der Spüle benutztes Geschirr, in einer Schale | |
| trocknet noch das übrig gebliebene Kascha. Ab und an kommen Menschen in die | |
| Küche, kochen sich einen Tee, machen sich etwas zu essen, eher selten | |
| wäscht mal jemand ab. | |
| Das Haus, zu dem die Küche gehört, hat zwei Etagen, zwei Bäder und viele | |
| große Zimmer, es gehört Freund:innen von Lizzas Eltern, die Geld haben. | |
| Es ist selbst ein kleines Hilfszentrum, im Flur hinter der Küchentür | |
| stapeln sich Kartons mit Antibiotika und Schlafsäcken, manchmal übernachten | |
| Menschen hier für ein, zwei Tage, auf der Flucht vor dem Krieg im Osten und | |
| Süden, Freund:innen von Sasha und Lizza kommen vorbei, um hier zu | |
| arbeiten und zu helfen. | |
| „Jede ukrainische Küche ist ein Krisenzentrum“, sagt Darya Bassel. Sie | |
| lacht laut und tief, ihr schmaler Körper biegt sich dabei nach hinten über | |
| die Lehne des Stuhls. | |
| ## „Größerer Stab“ und „Kleinerer Stab“ | |
| Darya ist Filmproduzentin, sie organisiert unter anderem ein bekanntes | |
| Festival. Sie wohnt hier nicht, aber sie arbeitet gern hier, dann kann der | |
| Sohn ihres Partners mit dem Sohn von Lizza spielen. Wenn sie ein Stockwerk | |
| höher über das Parkett rennen, klingt es, als würde da eine Pferdeherde | |
| durchtraben. Darya sagt, sie kenne ein paar solcher Hilfsgruppen wie die | |
| von Sasha und Lizza, „in meiner Bubble machen das viele.“ | |
| Ihre Bubble, das sind die Leute vom Film. Die müssen auch in Friedenszeiten | |
| oft mit wenig Geld und Ressourcen auskommen, Ausrüstung teilen, Fahrer | |
| kennen, die möglichst wenig verlangen. | |
| Sie haben selbst im seit acht Jahre dauernden Krieg im Donbass gearbeitet | |
| und kennen Händler:innen in Osteuropa, die ihnen noch Schutzwesten und | |
| -helme verkaufen, wenn die Regale anderswo bereits leer sind. Durch | |
| Zusammenarbeit bei Filmen kennen sie Kolleg:innen im Ausland. Nun setzen | |
| sie ihr Wissen und ihre Verbindungen im Krieg ein. | |
| Wie viele gibt es von ihnen, wie viele Küchentische? Lizza und Sasha zählen | |
| 21 Kontakte in ihrem Telegram-Chat, der „Größerer Stab“ heißt, dort woll… | |
| sich verschiedene Gruppen aus der ganzen Ukraine koordinieren, die Gruppe | |
| „Kleinerer Stab“, die sich vor allem um Tscherniwzi kümmert, umfasst zehn | |
| Leute, in „Kaufen im Ausland“ machen wiederum 14 Menschen mit. | |
| Wie viele solcher Küchentisch-Gruppen es insgesamt im Land gibt, weiß | |
| niemand, wer sollte sie auch zählen? Es gibt keine landesweite | |
| Koordination, keine Dachorganisation, die meisten Gruppen wissen gar nichts | |
| voneinander. Manchmal versuchen sie tagelang dasselbe zu besorgen oder | |
| schicken Fahrer an die gleichen Orte. Ukrainische Anarchie. Lizza sagt | |
| hinter ihrem Laptop: „Russland wird uns niemals besiegen, wenn eine Gruppe | |
| ausfällt, machen die anderen einfach weiter.“ | |
| Die ukrainische Anarchie, das ist eine Geschichte, die Ukrainer:innen | |
| gern über sich selbst erzählen, es gibt sie als gesellschaftliche | |
| Erklärung, mit der man begründen will, warum so vieles nicht funktioniert | |
| im Land, es gibt sie aber auch als individuelle Ausschmückung, wenn jemand | |
| einfach keine Lust hat, auf die Anweisungen seines Chefs zu hören. | |
| Wie bei allen solchen Selbsterzählungen ist schwer zu sagen, was da | |
| wirklich dran ist, aber die von der ukrainischen Anarchie hat gerade jetzt | |
| im Krieg ihre Wirkung entfaltet. Sie ist auch ein Mittel, um sich von den | |
| Angreifern abzugrenzen, den Russen, deren Präsident den Ukrainer:innen | |
| Eigenständigkeit abspricht. „Uns verbindet gar nichts“, sagt Lizza, „wenn | |
| ich die Russen sehe, auch wie sie diesen Krieg führen, wie ferngesteuerte | |
| Zombies, die ducken sich nur vor Angst, die sind gar nicht in der Lage sich | |
| so selbst zu organisieren wie wir.“ | |
| Da ertönt von irgendwoher über der Küche ein lautes Schreien und Weinen. | |
| Lizza springt so schnell vom Tisch auf, dass sie sich stößt, sie sagt zu | |
| Sasha: „Wir brauchen die Geheimwaffe, die Überraschungseier, dann weint er | |
| nicht mehr.“ Mit den Süßigkeiten in der Hand hören wir sie die Treppe nach | |
| oben poltern. | |
| Um sechs Uhr abends fahren Sasha und Lizza dann mit dem Auto ins | |
| Hilfszentrum in der Sporthalle, sie beide würden eigentlich lieber ins Bett | |
| gehen. „Aber so lange dieser Krieg dauert, können wir uns nicht ausruhen.“ | |
| Das ist so ein Satz, den beide gerne sagen. Hinten im Auto haben sie | |
| Kartons mit Festplatten, Kabeln und Medizin für Journalist:innen und | |
| Filmemacher:innen in Kyjiw, die dort den Krieg dokumentieren wollen. | |
| Bei eisigem Wind und Schnee schneiden sie mit der Klinge eines | |
| Tapetenmessers lange Stücke Klebeband ab und befestigen selbst geschriebene | |
| Schilder mit Adressen auf ihren Paketen. Ein weißer Minivan hält hinter | |
| ihrem Auto, es fährt der Mann, der keine zwei Hunde mitnehmen wollte. | |
| Nachdem sie ihre Ladung in sein Auto gequetscht haben, überredet Lizza ihn | |
| doch noch, die Tochter mit ihrem Haustier aus der Kyjiwer U-Bahn-Station | |
| mitzunehmen, sie gibt ihm dafür etwas mehr als die üblichen 3.000 Grywna | |
| Spritgeld. Dann kommt wieder der Luftalarm, den niemand ernst nimmt. | |
| Fast niemand. Da ist der noch der Mann, der alle Lieferungen, die aus dem | |
| Hilfezentrum rausgehen, am Ende noch einmal absegnen muss. Er ist der | |
| Abgesandte des Staates in diesem Chaos aus Freiwilligen und ohne ihn | |
| passiert hier gar nichts, ukrainische Anarchie hin oder her. Sasha und | |
| Lizza wollten eigentlich unbedingt noch ein Medizinpaket an eine Einheit | |
| der Armee verschicken, die sie dringend darum gebeten hat, aber der Mann, | |
| der ihr Paket absegnen muss, hat auf den Luftalarm hin seinen Posten | |
| verlassen. Also fahren Sasha und Lizza nach Hause. | |
| Natürlich nicht um zu schlafen. Sondern um zu arbeiten. Bis drei Uhr | |
| nachts. Am Küchentisch. | |
| 12 Mar 2022 | |
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