# taz.de -- Freiwilligenhilfe in der Westukraine: Krisenstab am Küchentisch | |
> Tscherniwzi in der Westukraine blieb bisher von Angriffen verschont. Zu | |
> Besuch bei Menschen, die Lebensmittel und Material für die Armee | |
> beschaffen. | |
Bild: Die Sporthalle ist zu einem Verteilungszentrum für Hilfsgüter geworden | |
TSCHERNIWZI/CZERNOWITZ taz | Abends um kurz nach halb neun heulen die | |
Alarme los. Ein durchdringender Ton, erst tief, dann hoch, und wieder | |
zurück. Einmal, zweimal, acht Mal, zwanzig Mal – etwa die Hälfte der | |
Menschen in der riesigen Halle schaut auf ihre Mobiltelefone, die sich in | |
Sirenen verwandelt haben. | |
Es ist Montag der 7. März, Tag 12 des Krieges. Hier in der Ukraine kommt | |
der Luftalarm per App. Raketen könnten die Stadt treffen, Flugzeuge mit | |
Bomben auf dem Weg sein. Aber niemand rennt los. Alle bleiben, wo sie sind, | |
räumen weiter Kartons von links nach rechts, kramen zwischen kurzen Hosen | |
und Faltenröcken nach warmen Mänteln, rauchen an den großen Eingangstüren | |
Zigaretten. | |
„Sollten wir nicht in den Bunker?“, frage ich. Sascha schaut zu mir hoch, | |
das Licht der Neonlampen legt einen dunklen Ring um die graublaue Iris | |
ihrer Augen. „Hier gibt es keinen“, sagt sie, und zuckt mit den Schultern, | |
ihre riesige schwarze Jacke hebt und senkt sich leicht. „Willst du etwas | |
essen?“ Dann dreht sie sich um und läuft los. | |
So reagiert man in Tscherniwzi, dem ehemals Habsburger Czernowitz, ganz im | |
Westen der Ukraine, also auf einen möglichen Angriff Russlands. Dabei | |
wissen hier doch auch alle von den Raketen, die die [1][ostukrainische | |
Millionenstadt Charkiw] treffen, sie kennen die Bilder von brennenden | |
[2][Häusern in der Hafenstadt Mariupol], von den zerstörten Kleinstädten | |
rund um die Hauptstadt Kyjiw. | |
Wie viele Tote der Krieg bisher gefordert hat, ist schwer zu sagen, weil | |
nur die ukrainische Regierung regelmäßig Zahlen nennt. Die Vereinten | |
Nationen zählten bis zum 8. März über 500 tote Zivilist:innen, die | |
ukrainische Regierung hat allein 1.200 Tote als Folge des Beschusses und | |
der Belagerung von Mariupol angegeben. Klar ist aber, dass viele russische | |
Raketen, Granaten und Bomben Wohnhäuser treffen, und Kindergärten und | |
Kliniken. | |
Doch dieser Teil des Landes bleibt vom russischen Überfall auf die Ukraine | |
bisher weitgehend verschont. Der Flughafen der knapp 140 Kilometer weiter | |
nordöstlich gelegenen Stadt Iwano-Frankiwsk wurde in den ersten Kriegstagen | |
mit Raketen attackiert, in [3][Lwiw (Lemberg)] haben sie Statuen in der | |
ganzen Stadt mit feuerfesten Materialien eingewickelt, falls Russland auch | |
diese Stadt beschießt. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag waren | |
Explosionen in Luzk zu hören. | |
## Zentrales Verteilungszentrum | |
Hier in Tscherniwzi, knapp 40 Kilometer vor der Grenze zu Rumänien und | |
damit auch der Grenze zur Europäischen Union, ist es bisher ruhig. Aber | |
wenn die Stadt tatsächlich einmal angegriffen wird, wäre die große | |
Sporthalle, durch die ich Sasha hinterherdackele, ein strategisch wichtiges | |
Ziel. Sie ist zum zentralen Verteilungszentrum für Hilfsgüter in | |
Tscherniwzi geworden. | |
Sasha Zwetkova und ich kennen uns bereits seit einigen Jahren. Sie ist | |
gleich an dem Tag geflohen, als der Krieg ausbrach. Russische Truppen haben | |
eine Rakete auf ein Kraftwerk abgeschossen, das nicht weit weg von ihrem | |
Haus steht. | |
Sie ist Buchhalterin oder war es, in einem früheren Leben, das gerade | |
einmal ein bisschen mehr als zwei Wochen her ist. Ein Leben, das sie hatte, | |
bevor der russische Diktator Wladimir Putin mit seiner Armee die Ukraine am | |
24. Februar überfallen hat. | |
Sie hat früher für eine große Baufirma gearbeitet, in den vergangenen | |
Jahren arbeitete sie dagegen oft für Leute, die ständig pleite sind: | |
Regisseur:innen, Produzent:innen, irgendwas mit Film. Ihre Schwägerin Lizza | |
Smith ist eine dieser Regisseur:innen, auch sie schwirrt hier irgendwo in | |
der Halle herum. | |
Sie kommt aus dem gleichen Ort wie Sasha, einer Kleinstadt bei Kyjiw, wo | |
wir uns kennenlernten, als ich eine Geschichte über Schulkinder im Krieg | |
geschrieben habe. Ich bin hier um Lizza und Sasha zu besuchen, so lange es | |
noch geht, und um Medikamente mitzubringen, Schlafsäcke, Filmausrüstung für | |
Lizza und ihre Kolleg:innen, und Geld. | |
## Kugelsichere Westen, Schmerztabletten und Holzlatten | |
Am Tor zur Straße stehen Männer in Tarnuniformen und mit umgehängten | |
Kalaschnikows. Durch dieses Tor kommen Lkw und Minibusse, Menschen mit | |
Paketen auf dem Arm. Sie bringen Spenden aus dem In- und Ausland. | |
Teekannen, kugelsichere Westen, Schmerztabletten und Holzlatten. | |
Kommt eine neue Ladung, brüllt jemand irgendwas und Männer mit | |
Arbeitshandschuhen reißen die Kartons von den Ladeflächen, bilden Ketten, | |
reichen Helfer:innen Kisten oder Beutel, sortieren alles, stapeln es auf | |
Paletten, stopfen es in Beutel und tragen es dann raus in den | |
Schneegriesel, minus 4 Grad an diesem Montagabend, kalt genug, dass einem | |
die Finger beim Wischen auf dem Smartphone festkleben und sich der Akku so | |
schnell leert als würde ihn der Winter aussaugen. | |
Weiße Minibusse fahren vor, in die Männer mit den Arbeitshandschuhen so | |
viel Zeug stopfen, dass kaum noch der Fahrer Platz hat, und dann geht es | |
los Richtung Kyjiw, Zhytomyr, Koselez – in große und kleine Städte überall | |
im Land. Der Inhalt der Autos ist für Krankenhäuser bestimmt und für | |
Kindergärten, aber auch für einzelne Personen, auf Paletten voller | |
Konserven steht mit schwarzem Edding „Armiya“, also „Armee“, auf kleine… | |
Paketen auch Mascha Soundso und Wolodymyr Diesunddas, dann eine Adresse. | |
Von hier aus wird die Hilfe für Notleidende ebenso organisiert wie auch der | |
Nachschub für den Krieg gegen die der ukrainischen Armee an Mannstärke und | |
Feuerkraft weit überlegenen russischen Truppen. Waffen sehe ich keine, | |
genausowenig wie ein System, wer wann etwas anfasst, wegträgt, aufreißt | |
oder hinstellt. | |
## Die blau-gelbe Fahne weht | |
„Es gibt auch keins“, sagt Sasha und läuft durch eine Doppeltür, einen | |
langen Gang hinunter, „aber es funktioniert trotzdem, das ist ukrainische | |
Anarchie.“ Sie biegt nach links ab, und dann kommt noch einen langer Gang | |
und dann stehen wir in einer Cafeteria, auf einem Tresen stehen Wurstbrote, | |
Klopse aus gebratenem Hackfleisch und Teigteile, bei denen man nicht sieht, | |
was drin ist. Es riecht nach Kaffee. | |
An runden Tischen und auf langen an den Wänden aufgestellten Bänken sitzen | |
Männer in den gleichen Tarnklamotten wie draußen vor dem Tor, und Frauen, | |
die wie Sasha in ihren Mänteln fast verschwinden. Der Fernseher an der Wand | |
gegenüber dem Tresen mit dem Essen zeigt Panzer, die durch Schlamm fahren, | |
abgefeuerte Raketen, die blau-gelbe ukrainische Fahne weht, die | |
Nationalhymne wird gespielt. Sasha nickt zu den Bergen von Essen hinüber: | |
„Du kannst dir alles nehmen was du willst.“ | |
Da gehen die Sirenen auf den Telefonen wieder los. Wieder Luftalarm. Wieder | |
rührt sich niemand. „Wenn was passiert, sind wir hier am sichersten“, sagt | |
Sasha, und ein Lächeln zuckt kurz über ihr blasses, schmales Gesicht, es | |
ist nicht klar, was sie meint, was an den dünnen Wänden hier sicherer sein | |
soll als in der Weite der Halle eben, aber sie antwortet nicht und holt | |
sich einen Kaffee. Sie ist ständig müde. Zu wenig Schlaf. „Wir haben keine | |
Zeit“, sagt sie, als sie zurückkommt, „wir müssen noch etwas schaffen.“ | |
Eine Armee-Einheit hat um Medikamente gebeten, die sollen heute noch raus. | |
Solche Bitten kommen zum Teil per offiziellem Schreiben mit Briefkopf und | |
Stempel zu Sasha, viele auch per Internet, meistens per Telegram, manchmal | |
per Facebook, WhatsApp oder auch per Signal-Messenger. Wer in der Ukraine, | |
also im Krieg, gerade etwas braucht, der schickt ein Google Spreadsheet, | |
also eine Tabelle, in der steht, was er sucht und wie viel davon, an seine | |
Kontakte auf Social Media. Meistens mit der Bitte sie weiter zu verbreiten. | |
Ich hatte die Grenze von Rumänien in die Ukraine noch nicht überquert, da | |
klebte schon ein solches Spreadsheet in meinem Facebook-Messenger. | |
Geschickt hatte es mir ein ehemaliger Schauspieler, der als Freiwilliger | |
bei einem Hilfszentrum in Lwiw arbeitet, das sich neun Tage nach | |
Kriegsbeginn gegründet hat. | |
Er suchte unter anderem 50 Packungen Windeln und einhundert Helme. Und wer | |
etwas von dem hat, was im Sheet gesucht wird, der meldet sich dann bei | |
diesem Schauspieler. Der oder irgendwer in seiner Organisation sucht dann | |
nach Fahrer:innen, die zumindest einen Teil der Strecke fahren. Auch die | |
sind oft Freiwillige, sie lassen sich nur den Sprit bezahlen, trotz der | |
Gefahr – russische Soldaten haben [4][laut Medienberichten schon mehrfach | |
nicht-militärische Fahrzeuge beschossen] und die Insassen getötet. | |
Wie die Hilfsgüter durchs Land bewegt werden, lässt sich am besten an einem | |
Küchentisch beobachten. Bevor sie hier an diesem Montag gegen sieben Uhr | |
abends in die große Halle gekommen ist, hat Sashaden ganzen Tag an so einem | |
Tisch in einer hellen Küche verbracht, in einem Haus etwa 15 Minuten | |
entfernt, wenn man mit dem Auto fährt. | |
## Ursprünge im Krieg von 2015 | |
Sie hat an diesem Tisch gesessen, auf dem Laptop vor sich tippend und das | |
Smartphone zwischen Schulter und Ohr geklemmt. Das Ding hat entweder | |
ständig geklingelt, oder sie hat selbst jemanden angerufen und wenn beides | |
gerade nicht passiert ist, schepperten die dunklen Stimmen von Männern und | |
Nachrichten von müde klingenden Frauen blechern verzerrt aus dem | |
Lautsprecher ihres Computers. | |
„Sollen wir diese Gasmasken kaufen?“ | |
Ein Anrufer aus Deutschland, er durchforstet deutsche Seiten nach günstigen | |
Angeboten, Sasha hat ihm vorher ein Spreadsheet geschickt mit Dingen, um | |
die jemand im Hilfszentrum sie gebeten hat. | |
„Sind das die richtigen Schuhe?“ | |
Gute wetterfeste Stiefel sind immer bei allen begehrt, bei Soldaten | |
natürlich, aber bei allen anderen auch. | |
Um 11 Uhr fragt wieder jemand, dieses Mal aus der Ukraine: | |
„Kriegen wir ein Problem mit der Steuerbehörde, wenn wir das kaufen?“ | |
Sasha antwortet. „Nein, im Krieg doch nicht.“ | |
Mit Steuern kennt sich Sasha als Buchhalterin sehr gut aus. | |
Ihr gegenüber sitzt Lizza, große braune Augen, schwarze Locken und auf der | |
Haut ein Anflug von Sommerurlaub, obwohl ihre Reise nach Kreta nun auch | |
schon wieder Monate her ist. Lizza ist eine Regisseurin, die ich 2015 bei | |
meiner Recherche im Donbass kennenlernte, Sashas Schwägerin. Sie gehört zu | |
den Frauen, die dem ukrainischen Film in den vergangenen Jahren zu mehr | |
internationaler Aufmerksamkeit verholfen haben. | |
„Shkola Nomer 3“, eine Dokumentation über Schüler im Donbass und ihren | |
Umgang mit dem Krieg im Osten der Ukraine, den russische Truppen und von | |
ihnen gestützte Separatisten bereits 2014 begonnen haben, hat auf der | |
Berlinale 2017 den Großen Preis der Kategorie 14plus gewonnen. | |
Lizza starrt aus der dunklen Höhle ihrer Kapuze so gebannt auf ihren | |
Bildschirm, dass man neben ihrem Ohr mit dem Fingern schnipsen muss, um sie | |
ins Hier zurück zu holen. Die ukrainische Freiwilligenbewegung hat ihre | |
Ursprünge in diesem ersten Krieg von 2015, schon damals haben die so | |
genannten Volontär:innen all das getan, was der durch Korruption und | |
Misswirtschaft geschwächte Staat nicht in der Lage war zu tun: Tarnnetze | |
für die Armee flechten, Essen für Bedürftige kochen, zerstörte Schulen | |
wieder aufbauen. Die Volontär:innen sind dabei nicht zu verwechseln mit | |
den Kriegsfreiwilligen, die sich zur Armee meldeten oder in eigenen | |
Bataillonen kämpften. | |
„Wie ist gerade der Kurs Dollar in Zloty?“ – Lizza schaut aus ihrer | |
Kapuzenhöhle zu Sasha. | |
„1 zu 4,55“, sagt Sasha nach kurzem Tippen. | |
„Das sind 450 Dollar pro Stück für die kugelsicheren Westen“. Lizza starrt | |
wieder auf den Computer. | |
Das ist ein wirklich guter Preis. In Deutschland hätte man für diese | |
Variante schon in normalen Zeiten fast das Doppelte bezahlt. Und die Zeiten | |
sind nicht normal. Kugelsichere Westen sind gerade schwer zu kriegen. | |
Sowohl die Varianten in schwarz oder blau für Journalist:innen und | |
Filmemacher:innen, die Lizza und Sasha gerade suchen, als auch die in | |
Tarnfarben für das Militär. | |
## 83 Westen und 57 Helme | |
Die Parteien im russisch-ukrainischen Krieg räumen den Markt leer. Das | |
müsste die Preise eigentlich noch weiter nach oben treiben. „Das ist so | |
billig, weil wir so viele kaufen“, sagt Lizza. Ein bisschen Solidarität mit | |
der Ukraine sei vielleicht auch dabei. 83 Westen und 57 Helme stehen auf | |
Lizzas Spreadsheet, die will sie für Männer und Frauen besorgen, die in den | |
Einheiten der ukrainischen Territorialverteidigung kämpfen. | |
Das Geld dafür kommt von verschiedenen Spendern, unter anderem aus den USA. | |
Lizza sorgt dafür, dass es an eine polnische Stiftung geht, die wiederum | |
die Westen und Helme kauft. | |
Dieser Küchentisch, an dem wir hier sitzen, das ist neben den vom Staat und | |
von Nichtregierungsorganisationen geführten Centern wie der Sporthalle der | |
andere Ort, an dem ukrainische Freiwillige wie Lizza und Sasha Nachschub | |
und Hilfe organisieren. | |
An solchen Tischen telefonieren sie Apotheken im Süden nach Medikamenten | |
ab, die im Norden des Landes gebraucht werden, hier lesen sie von | |
Freund:innen im Telegram-Chat, dass jemand Windeln zu einer | |
pflegebedürftigen Frau in die Stadt Saporischja bringen muss, außerdem hat | |
sich eine Frau gemeldet, die selbst schon nach Bayern geflohen ist, deren | |
Tochter mit ihrem Hund aber noch in einer Metro-Station in Kyjiw festsitzt. | |
„Kannst du die Tochter mitnehmen, auf dem Rückweg?“, fragt Lizza ins | |
Telefon. 3.000 Grywna lassen sich die Fahrer:innen üblicherweise für die | |
Tour ins gefährliche Kyjiw und zurück nach Tscherniwzi bezahlen, das sind | |
knapp 93 Euro, die sollen die Kosten für das Benzin abdecken. Dieses Mal | |
soll der Fahrer aber noch eine andere Frau mitnehmen, die hat ebenfalls | |
einen Hund und das sind ihm zu viele Tiere. Lizza sagt: „Wir reden heute | |
Abend nochmal.“ | |
Neben dem Tisch, an dem Lizza und Sasha sitzen, stapelt sich auf einer | |
braunen Anrichte neben der Spüle benutztes Geschirr, in einer Schale | |
trocknet noch das übrig gebliebene Kascha. Ab und an kommen Menschen in die | |
Küche, kochen sich einen Tee, machen sich etwas zu essen, eher selten | |
wäscht mal jemand ab. | |
Das Haus, zu dem die Küche gehört, hat zwei Etagen, zwei Bäder und viele | |
große Zimmer, es gehört Freund:innen von Lizzas Eltern, die Geld haben. | |
Es ist selbst ein kleines Hilfszentrum, im Flur hinter der Küchentür | |
stapeln sich Kartons mit Antibiotika und Schlafsäcken, manchmal übernachten | |
Menschen hier für ein, zwei Tage, auf der Flucht vor dem Krieg im Osten und | |
Süden, Freund:innen von Sasha und Lizza kommen vorbei, um hier zu | |
arbeiten und zu helfen. | |
„Jede ukrainische Küche ist ein Krisenzentrum“, sagt Darya Bassel. Sie | |
lacht laut und tief, ihr schmaler Körper biegt sich dabei nach hinten über | |
die Lehne des Stuhls. | |
## „Größerer Stab“ und „Kleinerer Stab“ | |
Darya ist Filmproduzentin, sie organisiert unter anderem ein bekanntes | |
Festival. Sie wohnt hier nicht, aber sie arbeitet gern hier, dann kann der | |
Sohn ihres Partners mit dem Sohn von Lizza spielen. Wenn sie ein Stockwerk | |
höher über das Parkett rennen, klingt es, als würde da eine Pferdeherde | |
durchtraben. Darya sagt, sie kenne ein paar solcher Hilfsgruppen wie die | |
von Sasha und Lizza, „in meiner Bubble machen das viele.“ | |
Ihre Bubble, das sind die Leute vom Film. Die müssen auch in Friedenszeiten | |
oft mit wenig Geld und Ressourcen auskommen, Ausrüstung teilen, Fahrer | |
kennen, die möglichst wenig verlangen. | |
Sie haben selbst im seit acht Jahre dauernden Krieg im Donbass gearbeitet | |
und kennen Händler:innen in Osteuropa, die ihnen noch Schutzwesten und | |
-helme verkaufen, wenn die Regale anderswo bereits leer sind. Durch | |
Zusammenarbeit bei Filmen kennen sie Kolleg:innen im Ausland. Nun setzen | |
sie ihr Wissen und ihre Verbindungen im Krieg ein. | |
Wie viele gibt es von ihnen, wie viele Küchentische? Lizza und Sasha zählen | |
21 Kontakte in ihrem Telegram-Chat, der „Größerer Stab“ heißt, dort woll… | |
sich verschiedene Gruppen aus der ganzen Ukraine koordinieren, die Gruppe | |
„Kleinerer Stab“, die sich vor allem um Tscherniwzi kümmert, umfasst zehn | |
Leute, in „Kaufen im Ausland“ machen wiederum 14 Menschen mit. | |
Wie viele solcher Küchentisch-Gruppen es insgesamt im Land gibt, weiß | |
niemand, wer sollte sie auch zählen? Es gibt keine landesweite | |
Koordination, keine Dachorganisation, die meisten Gruppen wissen gar nichts | |
voneinander. Manchmal versuchen sie tagelang dasselbe zu besorgen oder | |
schicken Fahrer an die gleichen Orte. Ukrainische Anarchie. Lizza sagt | |
hinter ihrem Laptop: „Russland wird uns niemals besiegen, wenn eine Gruppe | |
ausfällt, machen die anderen einfach weiter.“ | |
Die ukrainische Anarchie, das ist eine Geschichte, die Ukrainer:innen | |
gern über sich selbst erzählen, es gibt sie als gesellschaftliche | |
Erklärung, mit der man begründen will, warum so vieles nicht funktioniert | |
im Land, es gibt sie aber auch als individuelle Ausschmückung, wenn jemand | |
einfach keine Lust hat, auf die Anweisungen seines Chefs zu hören. | |
Wie bei allen solchen Selbsterzählungen ist schwer zu sagen, was da | |
wirklich dran ist, aber die von der ukrainischen Anarchie hat gerade jetzt | |
im Krieg ihre Wirkung entfaltet. Sie ist auch ein Mittel, um sich von den | |
Angreifern abzugrenzen, den Russen, deren Präsident den Ukrainer:innen | |
Eigenständigkeit abspricht. „Uns verbindet gar nichts“, sagt Lizza, „wenn | |
ich die Russen sehe, auch wie sie diesen Krieg führen, wie ferngesteuerte | |
Zombies, die ducken sich nur vor Angst, die sind gar nicht in der Lage sich | |
so selbst zu organisieren wie wir.“ | |
Da ertönt von irgendwoher über der Küche ein lautes Schreien und Weinen. | |
Lizza springt so schnell vom Tisch auf, dass sie sich stößt, sie sagt zu | |
Sasha: „Wir brauchen die Geheimwaffe, die Überraschungseier, dann weint er | |
nicht mehr.“ Mit den Süßigkeiten in der Hand hören wir sie die Treppe nach | |
oben poltern. | |
Um sechs Uhr abends fahren Sasha und Lizza dann mit dem Auto ins | |
Hilfszentrum in der Sporthalle, sie beide würden eigentlich lieber ins Bett | |
gehen. „Aber so lange dieser Krieg dauert, können wir uns nicht ausruhen.“ | |
Das ist so ein Satz, den beide gerne sagen. Hinten im Auto haben sie | |
Kartons mit Festplatten, Kabeln und Medizin für Journalist:innen und | |
Filmemacher:innen in Kyjiw, die dort den Krieg dokumentieren wollen. | |
Bei eisigem Wind und Schnee schneiden sie mit der Klinge eines | |
Tapetenmessers lange Stücke Klebeband ab und befestigen selbst geschriebene | |
Schilder mit Adressen auf ihren Paketen. Ein weißer Minivan hält hinter | |
ihrem Auto, es fährt der Mann, der keine zwei Hunde mitnehmen wollte. | |
Nachdem sie ihre Ladung in sein Auto gequetscht haben, überredet Lizza ihn | |
doch noch, die Tochter mit ihrem Haustier aus der Kyjiwer U-Bahn-Station | |
mitzunehmen, sie gibt ihm dafür etwas mehr als die üblichen 3.000 Grywna | |
Spritgeld. Dann kommt wieder der Luftalarm, den niemand ernst nimmt. | |
Fast niemand. Da ist der noch der Mann, der alle Lieferungen, die aus dem | |
Hilfezentrum rausgehen, am Ende noch einmal absegnen muss. Er ist der | |
Abgesandte des Staates in diesem Chaos aus Freiwilligen und ohne ihn | |
passiert hier gar nichts, ukrainische Anarchie hin oder her. Sasha und | |
Lizza wollten eigentlich unbedingt noch ein Medizinpaket an eine Einheit | |
der Armee verschicken, die sie dringend darum gebeten hat, aber der Mann, | |
der ihr Paket absegnen muss, hat auf den Luftalarm hin seinen Posten | |
verlassen. Also fahren Sasha und Lizza nach Hause. | |
Natürlich nicht um zu schlafen. Sondern um zu arbeiten. Bis drei Uhr | |
nachts. Am Küchentisch. | |
12 Mar 2022 | |
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Daniel Schulz | |
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