# taz.de -- Hildesheim will Kulturhauptstadt werden: Stadthistorische Sorgfalt | |
> Hildesheim bewirbt sich als Europäische Kulturhauptstadt 2025. Überzeugen | |
> soll die Jury auch die stadtgeschichtliche Ausstellung „Kunstvoll! | |
> Hildesheim in Malerei und Grafik“. | |
Bild: Blick auf Hildesheim vom Galgenberg: Lithografie des Malers Johann Jacob … | |
Hildesheim taz | Kulturelle Schwergewichte, Orte mit Strahlkraft: Das waren | |
die Kulturhauptstädte Europas einmal; ein Titel, der jährlich und nach | |
genauem Rotationsprinzip von der Europäischen Union vergeben wird: Athen, | |
Florenz, Paris, West-Berlin vor und Weimar nach der Wiedervereinigung – das | |
passte schon. Wer aber 2012 ins slowenische Maribor stolperte, fand wenig, | |
was solchen Status rechtfertigte. | |
Dieses Jahr sind das friesische Leeuwarden und das maltesische Valetta an | |
der Reihe, 2019 dann Matera und Plowdiw. Hier muss man schon nachschauen, | |
in welchen Ländern die beiden Städte überhaupt liegen, so unbekannt sind | |
sie. | |
Wenig verwunderlich ist es entsprechend, dass sich nur die zweite Garde | |
hiesiger Städte um den Titel bewirbt, wenn Deutschland 2025, nach 2010, | |
wieder die Ehre hat. Damals konnte sich Essen mit der Region Rhein-Ruhr | |
gegen Bewerbungen aus Görlitz, Bremen oder Braunschweig durchsetzen, die | |
Kreativität postindustriellen Strukturwandels punktete vor | |
geschichtsträchtiger Hochkultur. | |
Mit sechs Jahren Vorlaufzeit muss der ausrichtende EU-Staat ein nationales | |
Auswahlverfahren durchführen. Das Ergebnis wird in mehreren Runden juriert, | |
vier Jahre vor Beginn soll der Europäische Rat seine Nominierung treffen. | |
## Nur die zweite Garde niedersächsischer Städte | |
Hannover und Hildesheim steigen nun für den Norden ins Bewerbungsboot 2025, | |
man ist geneigt, auch Magdeburg geografisch noch dazuzurechnen. Chemnitz, | |
derzeit nicht mit weltoffenem Spirit beseelt, Halle an der Saale, Zittau | |
und Dresden vertreten den Osten, Nürnberg den Süden. Koblenz hätte doch | |
lieber die Bundesgartenschau 2031, und Kassel hat nach der | |
Documenta-14-Pleite eine Bewerbung aus Kostengründen verworfen. Insgesamt | |
scheint ein aktuelles Interesse eher verhalten bis zaudernd, denn | |
euphorisch rüberzukommen. | |
Unter dem Kurt-Schwitters-Kalauer „vorwärts nach weit“ tritt Hannover an. | |
Bürgerschreck Schwitters las den Namen seiner Heimatstadt ja gerne von | |
hinten nach vorn, aus „revonnaH“ leitete er dann die Handlungsaufforderung | |
ab: „Hannover strebt vorwärts und zwar ins Unermessliche“ | |
Das trifft für die Intensität der Hannoverschen Bewerbung noch nicht recht | |
zu. Man denkt in verwaltungskonformen Schritten, hat pragmatisch, | |
vielleicht auch kalkulierend, den niederländischen Kulturmanager Oeds | |
Westerhof als Berater verpflichtet. Der ist noch Chefmanager der | |
Kulturhauptstadt Leeuwarden. Bei ersten Abstechern nach Hannover sprang | |
ihm eine bemerkenswerte Kioskkultur ins Auge. „Aber wir brauchen mehr“, | |
ließ er die Hannoversche Allgemeine wissen. | |
## Hildesheim gibt sich jugendlich | |
Hildesheim gibt sich jugendlich, studentisch. Die bunte Website „Hi2025“ | |
ging im Februar online, im Mai wurde das Projektbüro „Mittendrin“ eröffne… | |
Dies organisiert im Herbst eine Jugendkonferenz sowie die „Tour de | |
Landkreis“, einen symbolischen Staffellauf über 20 Stunden und 25 Minuten, | |
in dem Stadt und beteiligte Kommunen „Gemeinsam zum Titel“ eilen wollen. | |
Man darf also gespannt sein auf die „Bid-Books“, die im Herbst 2019 von | |
jedem Bewerber vorgelegt werden müssen. Sie sollen eine erkennbare | |
Programmlinie skizzieren und eine Kulturstrategie europäischer Dimension, | |
so die Ausschreibungskriterien. | |
Eine Institution internationaler, besonders: wissenschaftlicher Reputation | |
war das Roemer- und Pelizaeus-Museum in Hildesheim. Es konnte dank der | |
naturkundlichen und vor allem, laut Eigenangaben, einer der weltweit | |
wichtigsten Altägypten-Sammlungen in den 1970er- und 1980er-Jahren immer | |
wieder renommierte Häuser zu großen gemeinsamen Ausstellungen bewegen. | |
„Echnaton, Nofretete, Tutanchamun“, aber auch archäologische Projekte zu | |
den alten Kulturen Perus, Mexikos oder Chinas wurden Meilensteine | |
internationaler Ausstellungskultur. | |
## Zeitreise durch 500 Jahre Stadtgeschichte | |
Mit solch einem Haus welterklärerischen Verständnisses ließe sich in einer | |
Bewerbung wuchern. Seit 2000 muss sich das Roemer- und Pelizaeus-Museum | |
aber auch um die Stadtgeschichte kümmern, zusätzlich das rekonstruierte | |
Knochenhauer-Amtshaus bespielen. Das den beiden namensgebenden Sammlern | |
geschuldete spezifische Profil scheint zugunsten eines eher | |
populärkulturellen Ausstellungsbetriebes ins Hintertreffen zu geraten. | |
Eine aktuelle Sonderausstellung, „Kunstvoll! Hildesheim in Malerei und | |
Grafik“ heißt sie, versteht sich nun als institutioneller | |
Diskussionsbeitrag zur Bewerbung als Kulturhauptstadt und versammelt | |
insgesamt etwa 140 Artefakte. Dafür sind auch unbekanntere Ressourcen des | |
Hauses aktiviert worden, die Museumssammlung verfügt auch über 19.000 | |
Gemälde und Grafiken aus diversen Schenkungen, von denen jetzt einige zum | |
allerersten Mal das öffentliche Tageslicht erblicken. | |
Zu sehen sind historische Stadtansichten, eine Zeitreise durch fünf | |
Jahrhunderte, so das Museum. Das schmucke Fachwerkstädtchen, 815 gegründet | |
als römisch-katholische Diözese, war oft Ziel von Künstlern. Die | |
Schweizerin Gertrud Escher etwa unternahm 1905 auf ihrer Deutschlandreise | |
einen Abstecher, fertigte sechs Radierungen. Die örtliche „Meisterschule | |
des deutschen Handwerks“ und die Baugewerkeschule ließen Aufmaße und | |
Architekturzeichnungen „nach der Natur“ anfertigen, und bereits um 1580 hat | |
der „Helmstedter Meister des Dreiecks“ für eine „Chronica“ zum Holzsch… | |
gegriffen. | |
Hinzu kommen Objekte: zwei vermutlich gotische Straßenlaternen in | |
Metallblech, verzierte „Füllbretter“, Schmuckelemente aus Fachwerkhäusern, | |
die Kriegskasse, aber auch ein zweischneidiges Richtschwert „mit | |
doppelseitig schwach angedeuteten Blutrinnen“. | |
Natürlich fehlt das Trauma des Zweiten Weltkriegs nicht. Hildesheim wurde | |
ab 1944 Ziel alliierter Bombenangriffe, wie eine Sprengbombe „mit Zünder“ | |
dokumentiert. Auch eine Stabbrandbombe aus dem letzten, verheerenden | |
Angriff vom 22. März 1945 liegt im Schaukasten. In nur 15 Minuten warfen | |
englische und kanadische Bomber insgesamt 438,8 Tonnen Spreng- und 624 | |
Tonnen Brandbomben ab. Mehr als 1.600 Menschen starben, 75 Prozent aller | |
Gebäude wurden zerstört oder beschädigt, darunter fast die gesamte | |
Altstadt, so die Statistik. Aquarelle zeigen die verwüstete | |
Stadtlandschaft. | |
Aber es gab auch „Endphaseverbrechen“: Im März 1945 wurden Zwangsarbeiter | |
aus Italien und Osteuropa wegen angeblicher Plünderungen auf dem | |
Hildesheimer Marktplatz erhängt, Leichen zur Schau gestellt, im April 1945 | |
alle Gefangenen des Polizei-Ersatzgefängnisses von der Gestapo | |
hingerichtet. | |
Hildesheim: Das ist nicht nur aufwendig inszeniertes Unesco-Welterbe mit | |
Dom, Schatz und St. Michaelis – ein Rundgang nach der Ausstellung sei | |
empfohlen –, sondern angesichts erlittener Katastrophen die Aufforderung zu | |
stadthistorischer Sorgfalt und Sensibilität. | |
1 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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