# taz.de -- Heilmethode für Gelähmte: Endlich wieder laufen | |
> Dank einer neuen Technik können drei Männer plötzlich gehen. Dürfen sich | |
> Querschnittsgelähmte Hoffnungen machen? | |
Bild: Vor fünf Jahren hatte Michel Roccati einen schweren Motorradunfall. Nun … | |
BERLIN taz | Michel Roccati zittert. Es ist kalt, er trägt Handschuhe und | |
Mütze, mit den Händen umklammert er die Griffe seines Rollators. Sein Blick | |
ist konzentriert auf seine weißen Turnschuhe gerichtet. Dann geht er los. | |
Das linke Bein hebt sich mit einem Ruck, schwingt nach vorn, setzt etwas | |
schief wieder auf. Dann das rechte Bein: ruckartig hoch, nach vorn, wieder | |
runter. Die Jogginghose wackelt um Roccatis Beine, er stützt sich mit den | |
Armen ab, das Gesicht ist angespannt. Es wirkt, als ziehe jemand an seinen | |
Knien wie an einer Marionette, und ganz falsch ist das nicht. Roccatis | |
untere Körperhälfte ist komplett gelähmt. Er hat kein Gefühl in den Beinen, | |
kann sie nicht bewegen, könnte allein nicht einmal stehen. Doch dank einer | |
neuen Technik kann er jetzt sogar wieder laufen. | |
Ein Team um die Chirurgin Jocelyne Bloch und den Neurowissenschaftler | |
Grégoire Courtine von der Schweizer Universität Lausanne beschreibt [1][in | |
der aktuellen Ausgabe von Nature Medicine], was hinter Roccatis | |
wiedergewonnenen Fähigkeiten steckt: eine epidurale elektrische | |
Stimulation, kurz EES. Das Verfahren soll erlauben, dass Menschen mit einer | |
kompletten Lähmung der unteren Körperhälfte wieder stehen, gehen und sogar | |
sportliche Aktivitäten verfolgen können. | |
Neben Roccati haben noch zwei weitere Männer mit vollständiger | |
Querschnittslähmung an dem Experiment teilgenommen. Alle drei waren zu | |
unterschiedlichen Zeitpunkten vor der Studie mit dem Motorrad verunglückt. | |
Alle drei können dank eines Implantats nun manches, was sie zuvor nicht | |
mehr alleine konnten. „Ich kann jetzt einfach aufstehen und duschen gehen“, | |
sagt Roccati Und dabei soll es nicht bleiben. Der Italiener will mehr | |
erreichen, jeden Tag trainiert er und er strahlt, wenn er davon erzählt. | |
Die Hoffnung ist groß. | |
Ist sie vielleicht zu groß? Es sind nicht die ersten Arbeiten, mit denen | |
die Vision einer technisch assistierten Rehabilitation von so genannten | |
Paraplegikern, also in der unteren Körperhälfte Gelähmten, fassbar zu | |
werden scheint. Ebenjene Forscher aus Lausanne vermeldeten bereits vor vier | |
Jahren einen ersten Erfolg mit der Behandlung des Schweizers David Mzee. | |
Mzee war beim Sprung von einem Minitrampolin Jahre zuvor schwer gestürzt, | |
seine Verletzung führte zu einer kompletten Lähmung des linken und einer | |
unvollständigen Lähmung des rechten Beins. | |
## Elektroden im Rückenmark | |
Wie in der aktuellen Studie mit Roccati nahmen neben Mzee noch zwei weitere | |
Paraplegiker an dem damals völlig neuartigen Experiment teil. Allen drei | |
Patienten gelang es, mit den Prototypen der implantierten Elektroden wieder | |
zu stehen und zu gehen. Mzee konnte nach einigen Monaten Training sogar | |
ohne die elektrische Stimulation einige Meter laufen und die Beine teils | |
willkürlich, also vom eigenen Gehirn gesteuert, bewegen. Vor der Operation | |
hatte Mzee jahrelang intensive Rehabilitation betrieben, ohne nennenswerte | |
Erfolge. Nun ging alles scheinbar auf einmal. In einem Begleitartikel zur | |
in 2018 in Nature publizierten Studie schrieb der US-Neuroingenieur Chet | |
Moritz von der University of Washington von einem „gigantischen Sprung“ in | |
der Behandlung von Lähmungen. | |
Schon damals stellte sich allerdings die Frage, ob nach diesem Sprung noch | |
Verbesserungen möglich sein würden. Und tatsächlich gibt es sie, obwohl | |
sich an der Technik selbst wenig geändert hat: Auf einer wenige Zentimeter | |
langen, schmalen Folie sind 16 Elektroden angeordnet, die so in den | |
Rückenmarkskanal eingebracht werden, dass sie die Beinmuskulatur über die | |
noch vorhandenen Nervenwurzeln mit elektrischen Impulsen stimulieren können | |
– anstelle des Gehirns, das die Verbindung zu diesen Nerven verloren hat. | |
Ausgelöst werden die Impulse über einen per Kabel angeschlossenen | |
Minicomputer, der wiederum kabellos bedient werden kann. Jede Bewegung der | |
Beine muss vorab über den Computer initiiert werden, die Software des | |
Systems bestimmt dann die zeitliche Abfolge der Muskelbewegungen. Da jeder | |
Teil dieser Bewegungen programmiert ist und es keine Rückmeldung durch | |
Sinnesleistungen gibt, sieht das Ganze recht ruckartig aus. Allerdings | |
funktioniert es ab dem ersten Tag nach der Operation. Das unterscheidet die | |
EES aus Lausanne von anderen Systemen. Die meisten erfordern monatelanges | |
Training, bevor erste Gehbewegungen möglich werden. | |
Auch in der aktuellen Studie wurden 16 Elektroden auf einer etwas | |
verlängerten Folie ins Rückenmark gebracht, gesteuert wird das System nach | |
wie vor von außen. Allerdings stimulieren die Elektroden nicht mehr nur die | |
Beinmuskulatur, sondern auch einen Teil der Muskelfasern im unteren Rumpf | |
der Patienten, um deren Haltung zu verbessern. Courtine und Bloch haben die | |
Folie und ihre Lage im Rückenmark außerdem sehr viel genauer an die Körper | |
ihrer Patienten angepasst. Und schließlich wurde die Software optimiert, um | |
natürliche Bewegungen besser nachahmen zu können – und um das | |
Bewegungsspektrum der Patienten zu erweitern. So können die Probanden | |
zumindest perspektivisch sogar schwimmen oder auf einem | |
Stand-up-Paddle-Board sitzen und paddeln. | |
## Experten warnen vor Hoffnungen | |
Und: Es soll nicht dabei bleiben, dass Roccati und die anderen sich | |
programmiert per Software bewegen. Die Stimulation der Nervenwurzeln | |
könnte, das hat der Fall von Mzee gezeigt, auf längere Sicht auch wieder | |
willkürliche Bewegungen ermöglichen. Wie weit diese Regeneration gehen | |
wird, ist allerdings noch völlig offen. Sogar David Mzee, der weniger | |
schwer verletzt war als die Teilnehmer der aktuellen Studie, nutzt bis | |
heute noch immer hauptsächlich seinen Rollstuhl – die wiedergewonnenen | |
Fähigkeiten reichen längst nicht aus, um auf ihn zu verzichten. Und die EES | |
ist für alltägliche Bewegungen, zum Beispiel in der eigenen Wohnung, oft zu | |
umständlich. | |
Experten zweifeln daran, dass die bisherigen Ergebnisse größere Hoffnungen | |
rechtfertigen. Insbesondere ist fraglich, ob ein substanzieller Teil der | |
Patienten von einer EES profitieren kann. „Trotz der positiven | |
Fallbeispiele muss betont werden, dass sich leider keine baldige Lösung für | |
alle von Querschnittlähmung Betroffenen abzeichnet“, sagt Winfried Mayr von | |
der Universität Wien, der ebenfalls Stimulationsmethoden zur Behandlung von | |
Gelähmten entwickelt und eindringlich vor zu großen Hoffnungen warnt. „Die | |
drei Personen hatten besonders günstige Voraussetzungen, die in der | |
überwiegenden Mehrzahl der Fälle fehlen.“ Mayr nennt etwa die Fähigkeit, | |
über unverletzte Nerven nach einiger Zeit auch wieder willentlich | |
Bewegungen ausführen zu können – so wie es bei Mzee der Fall ist. In der | |
aktuellen Studie wurde dies nicht beobachtet. | |
Der Forscher weist außerdem darauf hin, dass Patienten mit der Methode | |
selbst unter optimalen Voraussetzungen nicht sofort nach der OP laufen oder | |
schwimmen könnten – anders, als es aus den Formulierungen in der Studie | |
abgeleitet werden könnte. „Auch mit der EES bleibt der weitere | |
Rehabilitationsprozess aufwendig, zeitraubend, und im Erreichbaren | |
limitiert.“ | |
Es ist wohl kein Zufall, dass es sich bei den zwei vorgestellten | |
Teilnehmern der beiden Studien um junge, sehr sportliche und hochmotivierte | |
Patienten handelt. Michel Roccati etwa sagte der BBC, er habe noch im | |
Moment seines Unfalls vor fünf Jahren, als er seine Beine nicht mehr | |
spürte, beschlossen, jeden nur möglichen Fortschritt zu machen. Er besuchte | |
sogar Fachkonferenzen. Auf einer davon traf er auf die Forscher aus | |
Lausanne. | |
Zwei Jahre, nachdem der damals 29-Jährige das Implantat erhalten hat, ist | |
Roccati noch immer begeistert von der Methode: Ich stehe auf, gehe wohin | |
ich will, ich kann Treppen steigen – es ist fast ein normales Leben.“ Für | |
2022 hat er sich vorgenommen, statt wie bisher 500 Meter, einen ganzen | |
Kilometer am Stück zu gehen. | |
14 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nature.com/articles/s41591-021-01663-5 | |
## AUTOREN | |
Kathrin Zinkant | |
## TAGS | |
Gesundheit | |
Wissenschaft | |
Operation | |
GNS | |
wochentaz | |
Klinische Studien | |
IG | |
Biodiversität | |
Teilhabegesetz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Hilfe für gelähmte Menschen: Strom für die Muskeln | |
Kraft, Beweglichkeit, Gefühl – all das könnten Betroffene deutlich | |
verbessern, wenn diese nichtinvasive Methode in Therapiepläne Einzug hält. | |
Biologin über klinische Studien: „Sicherheit hat höchste Priorität“ | |
Wer kann an Studien teilnehmen? Denise Olbrich vom Lübecker Zentrum für | |
klinische Studien über wissenschaftliche Standards, Hoffnungen und Risiken. | |
Unterleibskrankheit bei Frauen: Endlich Endometriose ernst nehmen | |
Die Ampel will zwar Gendermedizin stärken, gegen eine der häufigsten | |
Frauenkrankheiten tat sich bisher jedoch nichts. Eine Petition macht nun | |
Druck. | |
Digitale Sequenzinformationen: Wem gehört die Vielfalt? | |
Dank öffentlich zugänglicher Erbgutdatenbanken werden Wirkstoffe wie | |
Antibiotika hergestellt. Forscher haben nun untersucht, wer davon | |
profitiert. | |
Sportlerin der Extraklasse: Die Alleskönnerin | |
Bei den Paralympics in London holte sie Gold, in Rio Silber. Dazwischen | |
wechselte die Hamburgerin Edina Müller vom Rollstuhlbasketball ins | |
Einer-Kanu |