| # taz.de -- Haushaltsauflösung nach dem Tod: Was vom Leben übrig bleibt | |
| > Als der Vater der Autorin aus Lübeck starb, hinterließ er ein Haus in | |
| > Trier voller Vergangenheit. Mit ihren Brüdern musste sie aufräumen. | |
| Bild: Nach der Haushaltsauflösung: das Haus im leeren Zustand ist nur noch ein… | |
| Lübeck/Trier taz | Meine Brüder und ich stehen im Haus unseres gerade | |
| verstorbenen Vaters. Wir zögern, etwas anzufassen. Es ist, als wäre er | |
| fortgegangen und hätte nur vergessen, seine Sachen mitzunehmen. Jetzt | |
| helfen wir bei seinem Umzug ins Nirgendwo. Es fühlt sich übergriffig an, | |
| sogar die Laufrunde durch den Wald: schließlich war das sein täglicher Weg. | |
| Also konzentrieren wir uns zuerst auf Dinge, die einmal uns gehört haben. | |
| Von mir sind es nicht viele, weil ich nie in diesem Haus gelebt habe. Ich | |
| war immer die Nestflüchterin. Ich bin die Einzige der Geschwister, die | |
| weggezogen ist aus der Stadt. Schon mit 17 habe ich mir ein WG-Zimmer | |
| gesucht. In meiner Erinnerung war es harte Arbeit, sich das zu finanzieren | |
| und gleichzeitig noch einigermaßen durchs Abi zu kommen. | |
| Möglicherweise ist diese Erinnerung aber auch ein Mythos. In einer | |
| staubigen Kiste finde ich meine Jugend-Tagebücher, die hauptsächlich von | |
| Exzessen erzählen, von Freunden, Reisen und Partys. Dahinter eine wenig | |
| sympathische Grundierung jugendlicher Selbstüberschätzung. Lektion Nummer | |
| eins: Annehmen, was war. Und ich muss nicht alles behalten, nur weil es alt | |
| ist und einmal Ich war. | |
| Nun warten fünf Zimmer voll Möbel und Hausrat darauf, dass etwas mit ihnen | |
| geschieht. Jedes Jahr sterben in Deutschland eine Million Menschen, jede | |
| und jeder von ihnen hinterlässt durchschnittlich 10.000 Dinge. Nur, wohin | |
| damit? Wir haben ja selbst schon alles, was wir brauchen. | |
| Der einfachste Weg wäre, eine Firma zu beauftragen. Diese Dienste heißen | |
| hier „Entrümpelung“. Aber der Nachlass meines Vaters ist kein Gerümpel. Er | |
| hat immer Wert auf Qualität gelegt, und dazwischen gibt es all das, was nur | |
| für uns einen Wert hat: Gegenstände mit Geschichte, Fotoalben, Schmuck von | |
| unserer Mutter, die vor 16 Jahren bei einem Bergunfall starb. Seitdem hat | |
| unser Vater das große Haus lange allein bewohnt und die letzten Jahre | |
| zusammen mit seiner Freundin. | |
| ## Nachhaltigkeit ist harte Arbeit | |
| Nach seinem Tod ist sie schnell ausgezogen, die Erinnerung war zu quälend. | |
| Nun hilft sie, Möbel, Geschirr, Bettwäsche wieder in Umlauf zu bringen. | |
| Denn schnell wird klar: Nachhaltigkeit ist harte Arbeit, noch dazu fast | |
| unbezahlt. Wir teilen diese Arbeit auf. Ein Bruder macht den Papierkram, | |
| einer macht das Haus schick, und ich sorge dafür, dass es leer wird. Von | |
| jetzt an fahre ich die rund 650 Kilometer ein halbes Jahr lang jeden Monat | |
| für eine Woche von meinem Zuhause in Lübeck nach Trier. | |
| Zuerst organisieren wir Haus-Flohmärkte. Unsere ersten Gäste sind Händler. | |
| Alles Männer in ihren 50ern mit den immer gleichen Fragen: „Haben Sie | |
| Militaria? Alte Münzen? Gold?“ Mit ihrem kühlen Blick auf die Dinge treiben | |
| sie meine Brüder, für die das Haus ihre Heimat war, in die Flucht. Aber sie | |
| kaufen viel, auch ohne Militaria, und feilschen nicht. Es kommen auch zwei | |
| junge Frauen, die einen Kindergarten ausstatten wollen (mit Bürsten zum | |
| Airbrush-Malen), ein DJ kauft einen Plattenspieler, und sogar das alte | |
| Puppenhaus findet einen Liebhaber. | |
| Die Gäste entdecken Dinge, auf die ich nicht gekommen wäre. Zum Beispiel | |
| den wunderbaren Satz in einem alten Tschechisch-Wörterbuch: „Können Sie mir | |
| ein Telefonat nach Prag durchstellen?“ | |
| Mit den restlichen Dingen fahren wir alle Umsonst-Läden rund um Trier ab. | |
| Viele nehmen keine Spenden an, manche wollen nur Kleider, andere nur | |
| Kleinmöbel. Die Bücherregale werden auf diese Weise nicht leer. | |
| ## Die Stasi-Akte meiner Eltern | |
| Also scanne ich Nächte lang ISBN-Nummern für Gebrauchtbücher-Portale, | |
| fünfzehn Kartons voll. Medizin und Musik von meiner Mutter, Politik und | |
| Esoterik von meinem Vater. Die Bücher meiner Eltern erzählen viel aus ihrem | |
| Leben und auch davon, dass es okay ist, nicht alle Interessen zu teilen. | |
| Eine Kiste mit alten Reiseführern erinnert an Familienurlaube. Sie könnte | |
| komplett ins Altpapier, doch ein Gefühl lässt mich zögern. Plötzlich fällt | |
| aus einer Wanderkarte der Führerschein meiner Urgroßmutter, ausgestellt am | |
| 10. Mai 1911 in Dresden. Sie war die erste Frau der Stadt, die einen Wagen | |
| fahren durfte. In der Familie wurde immer von diesem Dokument erzählt, doch | |
| niemand wusste, dass es noch da ist. | |
| Ich finde auch die Stasi-Akte meiner Eltern vor ihrer Ausreise aus der DDR. | |
| Faszinierend ist die paranoide Schrulligkeit, die daraus spricht: Offenbar | |
| konnte ein Hermann-Hesse-Lesekreis das Ministerium für Staatssicherheit in | |
| Angst und Schrecken versetzen. Ein grottiges Führungszeugnis, von einer | |
| Diktatur ausgestellt, ist ein Kompliment. | |
| So ein Tod wäscht den Firnis weg, der sonst wie eine warme Decke über dem | |
| Alltag liegt. Alles riecht nach unseren Eltern und will wissen, was das mit | |
| uns macht. Wer war mein Vater, zu dem ich die letzten Jahre keinen Kontakt | |
| haben wollte? Wie wird sich jetzt, wo er gegangen ist, das Gefüge der | |
| Familie verschieben? Das Tasten in der Vergangenheit führt uns Geschwister | |
| zusammen. In einer Blase zwischen Diesseits und Jenseits verbringen wir so | |
| viel Zeit miteinander wie seit Jahren nicht. | |
| ## Der Nachlass hat alle Umzüge überdauert | |
| Bevor sie in diesem Haus wohnten, sind unsere Eltern oft umgezogen, einmal | |
| sogar mit Ausreiseantrag von Ost nach West. Der Nachlass unserer Vorfahren | |
| hat all diese Umzüge überdauert. Darin finden wir Hunderte Zeichnungen und | |
| Bilder unserer Vorfahren und verteilen sie in der Großfamilie. | |
| Ein Opa und sein Bruder waren Maler unter Bauern, nur von ihrer Mutter, | |
| unserer Uroma, verstanden und gefördert. Als Künstler auf dem Dorf und | |
| später als Soldat wider Willen war unser Opa nie am richtigen Platz, daran | |
| ist er schließlich zerbrochen. Sein Trauma hat die Generationen überdauert. | |
| Doch in seinen Bildern fehlt es so deutlich, dass die Stille darin uns | |
| anspringt. Die meisten sind berückend schöne und erschreckend detaillierte | |
| Porträts von Menschen, die heute alle tot sind. | |
| Ein paar Ölbilder von Landschaften und Stillleben bieten wir im Internet | |
| an. Ein einziges findet Abnehmer, sogar gleich zwei, das macht uns stutzig. | |
| Wir finden heraus, dass das Bild nicht von unserem Großonkel, sondern von | |
| einem bekannten Sezessionsmaler stammt und nicht 130, sondern 3.000 Euro | |
| wert ist. Es muss über unsere Uroma aus der Linie der Mutter in die Familie | |
| gekommen sein. In der Kleinstadt, in der der Künstler viele Jahre lebte, | |
| hatte sie ein Hotel. Vermutlich wohnte er dort und bezahlte mit einem Bild | |
| seine Miete. | |
| Ich storniere den Verkauf, doch einer der Käufer droht umgehend mit einem | |
| Gerichtsprozess. Einige Nächte schlafe ich schlecht und lese mich durch | |
| Paragrafen: Was ich verkauft habe, ist ja eigentlich etwas anderes. Ich | |
| finde heraus, wie das vor Gericht funktionieren könnte – aber es ist | |
| riskant und sehr teuer, sollte ich scheitern. Dann meldet sich mein | |
| jüngster Bruder: Das Bild des Sezessionsmalers, von dem damals niemand | |
| etwas wusste, sei bei einer schlechten Restaurierung komplett übermalt | |
| worden. So gesehen sind 130 Euro ein guter Preis. | |
| ## Nur noch Skelett ohne Seele | |
| Ein Nachlass besteht auch aus Bürokratie. Abos müssen abbestellt, Verträge | |
| gekündigt werden. Wo ist bloß die Kundennummer für den Stromvertrag? Zwei | |
| Steuererklärungen für einen Toten arten in einen Nebenjob aus. Die Bank | |
| möchte, dass wir das Konto des Toten auflösen. Das geht aber nur mit | |
| Erbschein, und der ist nach acht Monaten immer noch nicht da. | |
| Währenddessen mache ich eine steile Karriere als Online-Verkäuferin. Es ist | |
| eine eintönige Arbeit: Möbel fotografieren und ausmessen, Termine machen. | |
| Weil unsere Preise für die guten Holzmöbel knapp über dem Rohholz-Preis | |
| kratzen, ist das Haus drei Monate später wirklich leer. | |
| Jetzt wirkt es fremd, ist nur noch Skelett ohne Seele. Schmutzecken, Löcher | |
| in der Tapete, Spuren auf dem Parkett treten hervor. Die Zimmer sind | |
| ungewohnt hell und groß. Stimmen werden verschluckt, alles hallt eigenartig | |
| und lässt uns fast ehrfürchtig flüstern. Hier war einmal der Fixpunkt der | |
| Familie, mit den Eltern als Zentralgestirn. Auch wenn nicht alles schön war | |
| in dieser Familie, gab es eine Zeit, da gingen wir davon aus, es würde ewig | |
| bleiben. Nun kann nichts mehr verschleiern, dass der Stern erloschen ist. | |
| Das Haus war das Lebensprojekt der Eltern. Wie ein gelungenes Leben | |
| aussieht, war für sie und ihre Generation klar definiert: Eigenheim, | |
| Kinder, stabile Ehe. Zu heiraten und auf Pump ein Haus zu bauen, war in | |
| ihrer Generation ein selbstverständlicher Traum. In meiner ist es ein | |
| Statement. Vielleicht hat uns das Beispiel der Eltern auch abgeschreckt: | |
| der Druck, als Kind Teil von etwas Größerem sein zu sollen. | |
| Am letzten Abend zünde ich im Garten eine Grabkerze für die toten Hunde der | |
| Familie an. Dann verabschiede ich mich von jedem der leeren Räume im Haus. | |
| Einen Moment kommt es mir vor, als hallte aus dem Flügel im Wohnzimmer ein | |
| heller Ton durch den Äther. Draußen singt zum ersten Mal im Frühling eine | |
| Amsel. | |
| 22 May 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Grabitz | |
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