# taz.de -- Malerei in Lübecker Kirche entdeckt: Kulturschatz im Arbeiter-Kiez | |
> In einer Kirche im Lübecker Stadtteil Kücknitz wurden übertünchte | |
> Ornamente entdeckt. Für die Denkmalpflege ist das ein spektakulärer Fund. | |
Bild: Erst wenig frei gelegt: jüngst entdeckte Ornament-Malerei in der Lübeck… | |
Lübeck taz | Eigentlich sollte die St.-Johannes-Kirche in Lübeck-Kücknitz | |
nur einen neuen Fußboden bekommen. Weil jeder Eingriff in das | |
denkmalgeschützte Kirchenschiff geprüft werden muss, untersuchte eine | |
Restauratorin die Bemalung im Innenraum – und machte eine überraschende | |
Entdeckung: Unter der schwarz-weißen Farbe fand sie Rankenornamente. | |
Orangene und rote Lianen zierten einst den Holzbau der Empore und die ganze | |
Kirchendecke. Die Malereien stammen vom Beginn des 20. Jahrhunderts, als | |
die Kirche gebaut wurde. Es ist ein „spektakulärer Fund“, befand die | |
Leiterin der Abteilung Denkmalpflege der Stadt, Irmgard Hunecke. Auch | |
deshalb, weil Malereien für eine Kirche wie diese sehr ungewöhnlich sind. | |
Denn ungewöhnlich ist vor allem, wo dieser Kunstschatz entdeckt wurde. Der | |
Stadtteil ist vom [1][Unesco-Welterbe], der Innenstadt, durch eine | |
Wasserscheide getrennt. Südlich der touristisch geprägten Seebäder gelegen | |
war er einmal der Ruhrpott der Hansestadt. Hier pochte mit einer | |
Metallhütte und einer Werft bis Mitte des 20. Jahrhunderts das industrielle | |
Herz der Stadt. | |
In der Arbeiterarchitektur der Zeit bewegte sich vieles. Statt großer | |
Wohnblocks gab es Siedlungshäuser, klein, aber damals für Arbeiterfamilien | |
ein Luxus. Sie hatten Gärten zur Selbstversorgung, es gab einen großen | |
Laden, ein Kino, ein Badehaus – und zwei Kirchen für die schnell wachsende | |
Bevölkerung. Eine davon ist die evangelische St.-Johannes-Kirche. Sie sieht | |
ein bisschen aus wie eine Burg: Eine breite Freitreppe führt hinauf in | |
einen massiven, quadratischen Turm. Rechts davon ist das Pfarrhaus | |
angebaut, links schmiegt sich eine Schule an das Kirchenschiff. Als die | |
Kirche 1910 eingeweiht wurde, standen die drei Gebäude wie ein | |
Ausrufezeichen offen in der Mitte des Dorfplatzes. | |
Geplant wurden sie von dem Architekten [2][Carl Mühlenpfordt]. Er war | |
bekannt in [3][Lübeck] und hinterließ in nur sieben Jahren viele Spuren, | |
die das Stadtbild bis heute prägen. Sie verbinden Opulenz mit | |
Schnörkellosigkeit, nehmen historische Elemente wie Rundbögen und | |
Durchfahrten auf, um sie auf ihre schlichte Essenz zu reduzieren – ein | |
Kontrast zur Jugendstil-Architektur der Jahrhundertwende. „Dafür hat sich | |
der Begriff ‚Heimatschutz-Architektur‘ etabliert, der heute für uns | |
anrüchig klingt“, erzählt der Pastor der St.-Johannes-Kirche Albrecht | |
Martins. „Auf die Frage, wie man Architektur zeitgemäß machen kann, gab es | |
als Antwort nicht nur das Bauhaus.“ | |
Martins hat sich viel mit dem Architekten seiner Kirche beschäftigt. Bevor | |
er Pastor wurde, überlegte er, Architektur zu studieren, dieses Interesse | |
brennt in ihm bis heute. Er hat in den Archiven nach Spuren geforscht, zum | |
Beispiel im Archiv von Lübecks größtem Unternehmen, den Drägerwerken. Mit | |
der Tochter des Firmengründers Anna Dräger war der Architekt Mühlenpfordt | |
verheiratet. | |
Anna Dräger war Malerin mit einem Faible für Blumenmotive, ähnlich wie sie | |
in der St.-Johannes-Kirche entdeckt wurden. Möglicherweise war es ihre | |
Idee, das Kirchenschiff mit den Ornamenten zu bemalen. „Dass sie die | |
Malereien alle selbst gemacht hat, glaube ich nicht“, sagt Martins. „Sie | |
hat ja bald darauf, 1911, ihren ersten Sohn bekommen. Aber es ist nicht | |
ausgeschlossen, dass sie sie entworfen und die Maler angeleitet hat.“ | |
Die Kirchgänger, die sich damals im Kirchenschiff drängten, saßen also | |
unter einem Rankenteppich auf schwarzem Grund. Auf den Rosetten, die die | |
Empore umgeben, wurden während des Ersten Weltkriegs auch die Namen und | |
Lebensdaten der Gefallenen verewigt. Die Kirche war nicht nur ein | |
Treffpunkt und Ort des Glaubens, sondern auch der Gedenkkultur, sie | |
dokumentierte Leben und Sterben. Heute sind die Gefallenen der Kriege in | |
einem Buch verewigt, das in einer Mauernische neben dem Eingang liegt. Die | |
Kassetten sollen nicht restauriert werden, sagt Martins, denn „diese Form | |
des Heldengedenkens ist nicht mehr zeitgemäß“. | |
Auch sonst hat sich viel verändert. In Kücknitz ging 1981 das Hochofenwerk | |
insolvent und 2002 die Flenderwerft. Da war der wirtschaftliche Niedergang | |
des Viertels schon vollzogen, von einst 4.000 Arbeitern waren nur noch 800 | |
übrig. Die rund 18.600 Bewohner lebten plötzlich in einer Art Niemandsland. | |
Heute fahren die meisten Bewohnerinnen und Bewohner zum Arbeiten in andere | |
Stadtteile, und Kücknitz ist einer der wenigen Orte in der Hansestadt mit | |
erschwinglichen Mieten. | |
Manche Gemeindemitglieder fragten Martins, ob die 1,7 Millionen Euro für | |
die Neugestaltung der Kirche wirklich nötig sind. Ob man das Geld nicht | |
besser in soziale Projekte stecken sollte wie das Sozial-Kaufhaus, das die | |
Gemeinde wenige Meter entfernt betreibt. Ihnen entgegnet er, dass auch ein | |
Gebäude sozial ist, weil es etwas mit dem Wohlbefinden der Menschen macht. | |
„Bei einem Privathaus würde auch niemand bestreiten, dass es nach 50 Jahren | |
eine Renovierung braucht.“ | |
Die meisten Gemeindemitglieder stehen hinter der geplanten Erneuerung, | |
viele haben schon dafür gespendet. In anderthalb Jahren soll der Umbau | |
fertig sein. Unter dem Motto „Alles Klar“ soll die Kirche schlicht und hell | |
werden mit einem zusätzlichen Fenster, dem neuen Kalksteinboden und einem | |
Altar, dessen Material an die Industrie im Ort erinnert. Wenn die | |
Restauratoren in anderthalb Jahren mit ihrer Arbeit fertig sind, wird sich | |
dann darüber auf dunklem Grund ein Himmel aus gelben Ornamenten spannen. | |
3 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Unesco-Welterbe/!t5011681 | |
[2] /Archiv-Suche/!213679&s=Carl+M%C3%BChlenpfordt&SuchRahmen=Print/ | |
[3] /Luebeck/!t5012547 | |
## AUTOREN | |
Friederike Grabitz | |
## TAGS | |
Lübeck | |
Denkmalschutz | |
Geschichte | |
Arbeiter | |
Kirche | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Lesestück Interview | |
Denkmalschutz | |
Kirche | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Haushaltsauflösung nach dem Tod: Was vom Leben übrig bleibt | |
Als der Vater der Autorin aus Lübeck starb, hinterließ er ein Haus in Trier | |
voller Vergangenheit. Mit ihren Brüdern musste sie aufräumen. | |
Kunsthistorikerin über Wasser in Berlin: „Außenseiterblick auf die Stadt“ | |
Kirsty Bell hat ein Buch geschrieben, in dem sie Berlin entlang seiner | |
Wasserläufe erkundet. Die Kunsthistorikerin stößt auf vergangene Schichten. | |
Ein Gespräch. | |
Ausgezeichnetes Denkmal: „Das ist Stadtgeschichte“ | |
Nele Wasmuth ließ ein historisches Wandbild in Kreuzberg restaurieren. | |
Dafür bekam sie nun den Berliner Denkmalschutzpreis. | |
Nazi-Glocken und NS-Kirchenbauten: „Oh du fröhliche“? | |
Mehr als tausend Kirchen wurden in der Nazizeit errichtet und umgestaltet. | |
Die Symbole sind geblieben. Wie umgehen mit dem Erbe? |