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# taz.de -- Hamburg diskutiert Messerattacke: Ein tödlicher Mensch
> Hamburgs Bürgerschaft diskutiert über Messerangreifer von Brokstedt: Wie
> kam es dazu, dass er frei herumlief? Justizsenatorin muss sich
> rechtfertigen.
Bild: Zeichen der Anteilnahme: Blumen und Grablichter auf dem Bahnsteig in Brok…
Hamburg taz | Am 18. Januar wird Ibrahim A. – der Messerstecher von
Brokstedt – aus der Hamburger Untersuchungshaft freigelassen. Ein Gericht
hatte ihn wegen Diebstahls und gefährlicher Körperverletzung zu einem Jahr
und einer Woche Haft verurteilt, weil er vor einer Tagesaufenthaltsstätte
für Obdachlose einen Mann schwer verletzt hatte – mit einem Klappmesser.
Nur sechs Tage nach seiner Freilassung hat er im Regionalzug von Kiel nach
Hamburg auf mehrere Menschen eingestochen und dabei zwei junge Menschen
getötet.
Doch [1][wie konnte es dazu kommen, dass der mehrfach straffällige,
obdachlose und psychisch auffällige Ibrahim A. ohne Auflagen aus der
Hamburger Untersuchungshaft entlassen wurde?] Hätte die Justiz anders mit
dem Geflüchteten umgehen müssen und damit das Attentat verhindern können?
Diesen unbequemen Fragen musste sich die bisher auffällig schweigsame
Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) im gestrigen Justizausschuss der
Hamburgischen Bürgerschaft stellen.
Von allen Seiten wurden die Anfeindungen gegen Gallina und den Umgang ihrer
Justizbehörde mit dem Attentäter von Brokstedt lauter. Der Vorwurf: Es habe
Anzeichen gegeben, dass Ibrahim A. eine Zeitbombe ist.
Diese hätten die Hamburger Behörden ignoriert und nicht an die zuständige
Ausländerbehörde in Kiel weitergeleitet, wie Schleswig-Holsteins
Integrationsministerin Aminata Touré (Grüne) Senatorin Gallina am Mittwoch
vorwarf. Im Justizausschuss konnte Gallina diesen Vorwurf ausräumen. Auch
die übrigen Anschuldigungen im Umgang mit Ibrahim A. wies sie zurück.
## Dicke Strafakte
Schon wenige Monate, nachdem Ibrahim A. im Dezember 2014 aus Gaza nach
Deutschland geflüchtet war, wurde er straffällig: Die lange Strafakte
beginnt mit einem Diebstahl im nordrhein-westfälischen Euskirchen. Ibrahim
A. wird mehrmals angeklagt – wegen Drogenmissbrauchs, sexueller Nötigung
und gefährlicher Körperverletzung. Nicht immer wird er verurteilt, nicht
immer werden die Verfahren beendet.
Was bei den mindestens zwölf Straftaten, die A. vorgeworfen werden,
auffällt: Immer häufiger griff der heute 33-Jährige als Tatwaffe zu einem
Messer. Als er im November 2021 in einer Kieler Geflüchteten-Unterkunft
Mitbewohner bedroht und auf dem Flur mit einem Messer hantiert haben soll,
bekommt er ein Hausverbot. Seitdem war Ibrahim A. wohnungslos.
Als Folge des Vorfalls entzog ihm das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (Bamf) auch seinen Aufenthaltstitel – den subsidiären
Schutzstatus. Diesen Schutz bekam er 2017, weil ihm nach Angaben des Bamf
weder Flüchtlingsschutz noch Asyl zustehe, sein Leben im Gazastreifen aber
gefährdet sei.
Warum war der Attentäter von Brokstedt dann überhaupt noch in Deutschland,
wenn er gar keinen Aufenthaltstitel mehr hatte? „Solche Leute sollen
abgeschoben werden“, forderte die fraktionslose Bürgerschaftsabgeordnete
Anna-Elisabeth von Treuenfels-Frowein am Mittwoch in der Hamburger
Bürgerschaft. Die hiesigen Gesetze geben ihr Recht, sie hätten eine
Abschiebung von A. vorgesehen.
Denn damit der [2][subsidiäre Schutz] vor Gefahr im Ausland endet, genügt
es nach deutschem Recht, eine „Gefahr für die Allgemeinheit“ darzustellen.
Doch so einfach ließ sich der Palästinenser nicht abschieben. Das Problem:
Weder die Hamas in Gaza noch Israels Regierung wollten ihn zurück. Also
blieb Ibrahim A. in Deutschland.
Egal, wo sich Ibrahim A. in Deutschland aufhielt, geriet er in das Visier
der Justizbehörden: Ohne gemeldeten Wohnsitz tauchte der Palästinenser
immer wieder unter und durch Straftaten wieder auf. So auch am 18. Januar
2022 in Hamburg.
Vor der Essensausgabe in der [3][Obdachlosenunterkunft Herz As] geriet A.
mit einem Mann in einen Streit und verletzt ihn mit einem Klappmesser an
Armen, Händen und dem Hals, wie aus Gerichtsdokumenten hervorgeht. Wenige
Stunden danach soll er aus einem Supermarkt Lebensmittel gestohlen haben.
Zwei Tage später, als A. einem Kontrahenten in der Drogenhilfeeinrichtung
„Drob Inn“ am Hauptbahnhof mit einem Klappmesser auf den Kopf geschlagen
haben soll, wurde der Geflüchtete festgenommen.
[4][Wegen Verdachts auf gefährliche Körperverletzung beim Herz As und
Diebstahls kam Ibrahim A. in Untersuchungshaft in die Justizvollzugsanstalt
(JVA) Billwerder.] Erst sieben Monate später wurde er vom Amtsgericht St.
Georg zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einer Woche verurteilt.
## Alkohol und Drogen strafmildernd
„Wie kann es sein, dass jemand, der mutmaßlich mit einem Messer mehrfach
auf einen anderen Mann eingestochen habe, lediglich zu einer so milden
Freiheitsstrafe verurteilt wird?“, fragte der Bürgerschaftsabgeordnete
Dennis Thering (CDU). Tatsächlich führt das Amtsgericht St. Georg in dem
Urteil eine Reihe strafmildernder Faktoren auf.
Ibrahim A. soll bei der Tat unter Einfluss von Alkohol, Heroin und Kokain
gestanden haben, dadurch sei er enthemmt gewesen. Auch seien „die
Haftbedingungen für den Angeklagten besonders schwer“ gewesen. Er sei der
deutschen Sprache nicht mächtig, heißt es in dem Urteil. Während der Haft
entwickelte Ibrahim A. Schlafprobleme.
Die Freiheitsstrafe konnte nicht zur Bewährung ausgesetzt werden. Ibrahim
A. fehle eine „günstige Sozialprognose“, urteilte das Gericht. Er habe in
Hamburg weder ein „tragfähiges soziales Netz“ noch einen Beruf oder die
Möglichkeit, sich seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Die
Wahrscheinlichkeit, dass Ibrahim A. wieder straffällig werde, sei höher als
die Chance, dass er sich gesetzestreu verhalte.
Auch die Vorstrafen des Angeklagten aus Nordrhein-Westfalen fielen ins
Gewicht. Und Ibrahim A. sei ein „Drogenkonsument, wobei er keine
Notwendigkeit für eine Therapie anerkennt.“ Weil der Angeklagte A. Berufung
gegen das Urteil einlegte, wurde es nie rechtskräftig. Ibrahim A. blieb in
der Untersuchungshaft der JVA Billwerder.
## Psychiatrisch als ungefährlich beurteilt
Ibrahim A. war kein Vorzeige-Häftling: Nach Angaben der Hamburger
Justizbehörde soll er in der JVA Billwerder zuerst einen Mithäftling
angegriffen haben, zwei Monate später warf Ibrahim A. eine Tasse mit warmem
Tee auf einen Vollzugsbeamten. Der Tatverdächtige A. kam in Isolationshaft
und wurde seither „durchgängig“ psychiatrisch betreut. Auch weil Ibrahim A.
während seiner Haft Stimmen hörte, wie die Justizsenatorin Gallina
erklärte.
Ohne, dass es bis dahin zu der Berufungshauptverhandlung gekommen war,
wurde A. nach genau einem Jahr aus der Haft entlassen. Der Grund: Die Dauer
der Untersuchungshaft darf nicht länger sein, als die Strafe maximal
andauern würde. Doch wie konnte es sein, dass Ibrahim A. ohne weitere
Auflagen aus der U-Haft entlassen wurde?
Im Justizausschuss machte es sich Anna Gallina mit ihrer Antwort leicht:
Weil der Haftbefehl gegen Ibrahim A. so kurzfristig aufgehoben worden sei
hätten ihm keine Auflagen erteilt werden können. Die JVA Billwerder hatte
es lediglich geschafft, Ibrahim A. noch eine Methadon-Behandlung zu
organisieren und ihn kurz vor seiner Entlassung von einem Psychiater
begutachten zu lassen.
Das Ergebnis: Von Ibrahim A. gehe keine Fremd- und Selbstgefährdung aus.
„Es handelte sich dabei nicht um eine Prognose“, betonte Gallina immer
wieder.
## Durchs Raster gerutscht
Ibrahim A. fiel bei seiner Entlassung also wieder durch das Raster – dieses
Mal durch das des Resozialisierungs- und Opferhilfegesetzes. Nach diesem
„bundesweit vorbildlichen“ – wie Gallina es im Ausschuss nannte – Gesetz
steht Untersuchungsgefangenen kein umfassendes Übergangsmanagement zu.
Lediglich seien „individuell zugeschnittene Beratungs- und
Unterstützungsangebote“ möglich. Im Fall des Attentäters hieß das: Ein
Übernachtungsangebot im Winternotprogramm und ein Perspektivgespräch.
Beides soll Ibrahim A. wahrgenommen haben.
Den Vorwurf, ihre Behörde habe versäumt, bestimmte Informationen über
Ibrahim A. an die Ausländerbehörde in Kiel weiterzuleiten, wies Gallina mit
Blick auf die „klare Aktenlage“ von sich: Sowohl die JVA Billwerder, wie
das Oberlandesgericht als auch die Polizei hätten die zuständige
Ausländerbehörde in Kiel mehrfach telefonisch und per Mail über das
Verfahren im Fall Ibrahim A. informiert.
2 Feb 2023
## LINKS
[1] /Messerattacke-in-Zug-bei-Brokstedt/!5908040
[2] /Asyl-fuer-russische-Kriegsverweigerer/!5895804
[3] https://www.hamburg.de/beratung-hilfen/3120336/essensausgabestellen/
[4] /Attacke-in-Zug-bei-Brokstedt/!5908039
## AUTOREN
Lea Scholz
## TAGS
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