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# taz.de -- Hängepartie um Forschungsförderung: Chaos im Bildungsministerium
> Das Bildungsministerium legt über Nacht zahlreiche Studien zu Rassismus,
> Klimawandel und Corona auf Eis – und dann plötzlich doch nicht.
Bild: Bettina Stark-Watzinger muss Stellung nehmen
Berlin taz | Pünktlich, wie ausdrücklich vom Bildungsministerium gewünscht,
sollte es am 1. Juli losgehen. Nicole Bögelein, Soziologin an der
Universität Köln, ging fest davon aus, dass ihre Studie zu institutionellem
Rassismus in der deutschen Justiz an jenem Freitag beginnt. Sie hatte für
das Projekt schon eine neue Mitarbeiterin eingestellt. Mit Interviews und
Beobachtungen im Gerichtssaal wollten sie untersuchen, ob von Rassismus
betroffene Menschen vor Gericht anders behandelt werden als deutsch
gelesene Personen. Finanziert werden sollte die für drei Jahre angesetzte
Studie mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF).
Fünf Tage vor Projektbeginn erhielt Bögelein jedoch eine Mail: Es komme
mindestens zu einer „deutlichen Verschiebung“ des Projektbeginns. Ein
Schock für die Wissenschaftlerin. Und vor allem für ihre neue
Mitarbeiterin, die an der Uni Köln promovieren wollte und ihren alten Job
gekündigt hatte. „So eine Nachricht sorgt für extreme Verunsicherung“, sa…
Bögelein im Gespräch mit der taz.
Anfang der Woche, einen Monat nach der Hiobsbotschaft, erreichte die
Soziologin eine neue Mail. Ihr Forschungsprojekt wird nun doch gefördert.
Ab dem 1. Januar 2023, mit einer Kürzung von fünf Prozent. Einen Grund zur
Freude enthielt die Nachricht nicht für alle Antragsteller:innen. Eines der
knapp 20 beantragten Projekte innerhalb der Förderlinie „Aktuelle und
historische Dynamiken von Rechtsextremismus und Rassismus“ wurde komplett
gestrichen – eine Studie im Fach Psychologie zu rassistischen
Einstellungen. „Die Entscheidung traf uns völlig unerwartet, die bisherigen
Rückmeldungen zu unserem Antrag waren durchweg positiv“, sagt Iniobong
Essien von der Leuphana Universität Lüneburg, der das Projekt geleitet
hätte. Auch andere Forscher:innen sind von den Sparplänen des
Ministeriums betroffen.
Am Dienstag teilte das BMBF mit, es werde ab 2023 eine „reduzierte“
Förderung der Forschung im „sozial- und geisteswissenschaftlichen Bereich“
geben. Zum Beispiel bei einer Förderrichtlinie zu den gesellschaftlichen
Folgen der Coronapandemie. Laut dem Schreiben des BMBF an die Forschenden
sollen die beantragten Gelder um die Hälfte gekürzt werden. Insgesamt
fallen 14 von 32 beantragten Projekte der Förderlinie weg. Darunter eins
zum Berufsausstieg von Beschäftigten aus dem Gesundheitswesen in der
Pandemie. Auch bei der Forschung zur DDR will das BMBF künftig sparen.
Wegen der Sparpläne steht [1][Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger]
(FDP) seit Tagen in der Kritik. Dutzende Wissenschaftler:innen
berichteten über Nachrichten von Verzögerungen oder Absagen ihrer
Forschungsprojekte in ihren Mailfächern. In einem Offenen Brief an
Stark-Watzinger kritisiert Paula-Irene Villa Braslavsky, Vorsitzende der
Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die plötzliche Ungewissheit, trotz
bereits „mündlich bzw. per E-Mail zugesagtem Projektbeginn.“
Seitdem herrscht unter Forscher:innen, dessen Arbeit von [2][Drittmitteln]
des Bildungsministeriums finanziert wird, kollektive Nervosität. Nach
welchen Kriterien die abgesagten und gekürzten Forschungsprojekte
ausgewählt wurden, will das Bildungsministerium auf Nachfrage der taz nicht
sagen. Für die Finanzierung der Projekte zu Rechtsextremismus- und
Rassismusforschung hätte sich Stark-Watzinger „persönlich stark gemacht“,
heißt es in der verspäteten Förderzusage, die der taz vorliegt.
Für zusätzliche Verwirrung sorgte in den vergangenen Tagen eine Meldung,
die auf der Homepage des BMBF veröffentlicht wurde. Demnach wird der Etat
für Forschung und Bildung im kommenden Jahr auf rund 20,6 Milliarden Euro
erhöht, steigt also um 186 Millionen Euro im Vergleich zum Vorjahr. Wie
passt das mit den Absagen und Verzögerungen zusammen?
## Kritik an der Kommunikation
Begründet wird der kurzfristigen Förderstopp mit dem kriegs- und
pandemiebedingt belasteten Haushalt im Bundestag. Trotzdem wirft die
Erklärung des Bildungsministeriums Fragen auf. Dort heißt es, es gebe weder
einen Bewilligungsstopp noch einen Förderstopp laufender Projekte.
Gleichzeitig stehen Forschungsprojekte vor dem Aus, die seit vielen Jahren
arbeiten und kurz vor der Auswertungsphase standen. Eine Sprecherin des
Bildungsministeriums jedenfalls äußerte gegenüber der taz Verständnis
dafür, dass die Nachricht so kurz vor Projektbeginn für Frust sorgt. Man
könne „gut nachvollziehen, wenn Forscherinnen und Forscher bei geringerer
oder ausbleibender Förderung von Anschlussprojekten enttäuscht sind.“
Die Empörung der betroffenen Wissenschaftler:innen ist deshalb so
groß, weil das Bildungsministeriums ungewohnt unzuverlässig kommuniziert.
Viele der vorübergehend auf Eis gelegten Projekte hatten zuvor einen
aufwändigen Bewerbungsprozess überstanden. Anschließend folgte die
Aufforderung an die Forschenden, den Vollantrag für die Finanzierung
einzureichen. „Bis jetzt galt das bereits als informelle Zusage“, berichtet
Soziologin Bögelein. Dass die Förderung dann doch plötzlich platzen könne,
habe das Vertrauen in das Bildungsministerium „schwer beschädigt.“
Regine Schönenberg, Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität
Berlin, spricht von einer „gewissen Fassungslosigkeit“, die sich nach der
Absage im Juni ausgebreitet hat. Schönenberg forscht in einem
internationalen Team zu den sozialen Folgen des Klimawandels im
Amazonasgebiet. Dabei untersuchen sie, wie unterschiedliche einzelne
Regionen politisch auf die Klimakrise reagieren. Nach vier Jahren Forschung
wurde der Antrag auf Anschlussförderung abgelehnt. Obwohl jetzt die Phase
beginnen sollte, in der die erhobenen Daten und bisherige Ergebnisse
ausgewertet werden.
Für eine ihrer Mitarbeiterinnen aus Guatemala könnte das weitere
Konsequenzen haben: Ihre Aufenthaltserlaubnis in Deutschland und ihr
Stipendium hängen an der Projektstelle. Genauso ärgerlich findet
Schönenberg den Gedanken, ihren Mitarbeitenden im Amazonasgebiet nun
erklären zu müssen, dass die bisherige Arbeit umsonst gewesen sein könnte:
„Unser Versprechen an die Menschen vor Ort war, dass das Projekt auch ihnen
etwas nutzt. Wir wollten nicht nur Daten abgreifen und dann wieder
abhauen.“
Genau wie die Soziologin Villa Braslavsky schrieb Schönenberg deshalb einen
offenen Brief an Bildungsministerin Stark-Watzinger, 130
Wissenschaftler:innen unterschrieben. Darin fordert sie, mehr als 30
Projekte, die sich mit „Kipp-Punkten, Dynamik und Wechselwirkungen von
sozialen und ökologischen Systemen“ beschäftigen, weiter zu fördern. Im
Gegensatz zu den zwei Förderlinien der Rassismus- und Coronaforschung
wartet Schönenberg bislang vergeblich auf die Nachricht, dass sie doch noch
vom BMBF weiterfinanziert werden.
## Sorge vor weiteren Kürzungen
Für Diskussionen sorgte ein Satz in der Absage des Deutschen Zentrums für
Luft- und Raumfahrt, Projektträger des Bildungsministeriums, an die
Universität Koblenz. Dort wird seit drei Jahren in einer internationalen
Kooperation die Biodiversität im Amazonasgebiet erforscht. In dem Schreiben
wurde das Ende der Förderung neben dem aktuell „geringen“ Haushalt mit
„neuen Schwerpunktsetzungen hin zu Forschungsaktivitäten, die einen
schnellen Impact erzeugen“, begründet.
Was das genau bedeutet, blieb der Interpretation des Empfängers überlassen.
Über Twitter ließ Stark-Watzinger verlauten, diese Formulierung „entspreche
weder meiner Haltung, noch meiner Politik.“ Kurz darauf sprach sie
hinsichtlich der Weiterförderung bereits laufender Projekte gegenüber dem
ZDF von „Altlasten“ der vorigen Regierung. Obwohl die Hängepartie für
einige der BMBF-geförderten Projekte gerade noch so gut ausging, hält
[3][Andreas Keller, Leiter für Hochschule und Forschung bei der
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)], das Verhalten des
Bildungsministerium für ein „fatales Signal“.
Es sei „gut und überfällig“, dass es nun Gewissheit für die
Antragsteller:innen gibt. Weil die kurzfristigen Förderstopps und
Kürzungen insbesondere Projekte aus den Geistes- und Sozialwissenschaften
betrafen, ist die Angst groß, dass Projekte in den entsprechenden
Disziplinen unter der neuen Ministeriumsleitung künftig weniger Geld
bekommen. „Es ist kein Zufall, dass vor allem in diesen Bereichen gekürzt
wird“, sagt Keller. Der gewünschte „schnelle Impact“ und die im
Ampel-Koalitionsvertrag betonte Stärkung des Transfers zwischen Forschung
und Wirtschaft stimmen Keller pessimistisch. Er befürchtet weitere
Sparmaßnahmen für Geistes- und Sozialwissenschaften im Herbst und Winter.
Nach den geplanten Kürzungen beim DAAD und der Humboldt-Stiftung der
nächste Nackenschlag.
Etwas gelassener sieht das der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz,
Peter-André Alt: „Eine rein impact-gesteuerte Forschungsförderung wäre
problematisch, ist aber wohl nicht zu befürchten.“ Die Kommunikation des
BMBF hingegen kritisiert Alt: Solche wichtigen Entscheidungen „müssen
besser und eben auch möglichst frühzeitig kommuniziert werden“.
Bei Rassismusforscherin Bögelein überwiegt nach dem Hin und Her der
vergangenen Wochen die Freude über die Nachricht, ihre Studie überhaupt
noch durchführen zu können. Die Soziologin weiß aber auch: „Wenn man in die
Runde schaut, sind wir noch glimpflich davongekommen.“
27 Jul 2022
## LINKS
[1] /Bettina-Stark-Watzinger/!t5848184
[2] /Gruendungsrektor-ueber-50-Jahre-Uni-Bremen/!5792892
[3] /GEW-Vorstand-ueber-Koalitionsvertrag/!5815740
## AUTOREN
Aaron Wörz
## TAGS
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