# taz.de -- Reformbedarf im Bildungssystem: Die Schulleitung hat genug | |
> Laut einer Umfrage wünschen sich die meisten SchulleiterInnen radikale | |
> Reformen. Gut so, denn sie sitzen am Hebel der Veränderung. | |
Bild: Das Geheimnis gelingenden Unterrichts ist tatsächliche Präsenz – nich… | |
Wirklich, gibt es sie? Schulleiter und Schulleiterinnen, die die tägliche | |
Lernsimulation nicht mehr mitmachen wollen? Danach klingt zumindest das | |
Ergebnis einer Befragung im Auftrag des Cornelsen Verlags unter 1.100 | |
Schulleitungen, die am Mittwoch erschienen ist. Ihr zufolge würden sie so | |
gut wie alle [1][herkömmlichen Lehr- und Lerngewohnheiten] am liebsten über | |
den Haufen werfen und, wie es heißt, „Deutschlands Schulen mit ganz neuen | |
Strukturen wieder aufbauen“. | |
Den gewohnten Fächerkanon von Grund auf zu reformieren, dafür seien laut | |
Studie 82 Prozent der befragten Schulleitungen, rund ein Viertel will | |
Schulfächer gleich abschaffen und fächerübergreifend unterrichten. | |
Von einer „neuen Kultur des Lernens“ ist gar die Rede! Die Studie soll | |
repräsentativ sein und wurde vom Berliner Sozialforschungsinstitut FIBS mit | |
Beratung seitens des renommierten Bildungsforschers Klaus Hurrelmann | |
durchgeführt. Und selbst der scheint erstaunt zu sein. „Wer hätte das | |
gedacht? Die Mehrheit der deutschen Schulleiterinnen und Schulleiter sind | |
Reformer.“ Und Schulleitungen hätten in unserer Gesellschaft eine | |
Schlüsselrolle. | |
Das ist auch die Erfahrung des Autors dieser Zeilen: In allen Schulen, in | |
denen etwas zu gären begann und die schließlich Wein und nicht Essig | |
hervorbrachten, ist das einer Person an der Spitze zu verdanken. Das passte | |
zwar erst mal gar nicht zu beliebten Theorien, dass es aufs ganze Kollegium | |
ankomme oder auf andere Gremien und Kollektive. Ist aber so. Die Leitung | |
macht für gewöhnlich den Unterschied. | |
## Dran glauben muss man, ganz untheologisch | |
Oft stehen übrigens Frauen an der Spitze gelungener Schulen. Wie die Wände | |
einreißende Enja Riegel in Wiesbaden. Langweilige Flure wurden in | |
Schülertreffs verwandelt. Theater wurde Hauptfach. Oder Ulrike Kegler aus | |
Potsdam, bei der die Jugendlichen im Pubertätsalter zwei Schuljahre lang | |
eine Woche im Monat nicht in die Schule gingen und sich stattdessen in | |
Urformen von [2][Kultivierung und Landwirtschaft] übten. | |
Dass ganz und gar andersartige Lernkulturen – auch außerhalb der Schule – | |
erfolgreich sein können, erfolgreicher sogar, ist lange belegt. Zum | |
Beispiel 2004, da begleitete das Max Planck Institut für Bildungsforschung | |
ein Sommercamp für Grundschüler in Bremen, mit viel Freizeit und Theater. | |
Nach knapp drei Wochen stellte man fest: einen kognitiver Gewinn von mehr | |
als einem Schuljahr – jedenfalls gerechnet in der Pisa-Währung. Ein | |
Ergebnis, das die Wissenschaftler, darunter der deutsche Pisa-Papst Jürgen | |
Baumert, erst selbst nicht glauben wollten und nachrechneten. | |
Aber der Glaube in solche Erfolge kam immer wieder schnell abhanden. Hier | |
könnte man das Grundproblem erkennen: Dass man nicht dran glaubt! Glauben | |
in einem ganz untheologischen Sinne. Dass „Theater und solche Sachen“ | |
tatsächlich Wunder bewirken können. | |
Mehr Wunder gefällig? Eine „Deutsche Schülerakademie“ mit dem Soziologen | |
Hartmut Rosa als Leiter. Zweieinhalb Wochen. Die Schüler sagen: Wir haben | |
mehr gelernt als in der ganzen Oberstufe. Und der viel gefragte | |
Wissenschaftler Hartmut Rosa, der seit 20 Jahren im Sommer solche Akademien | |
leitet: „Es ist meine schönste Zeit im Jahr.“ Kurzum: Es wird ständig | |
Tolles erdacht, ausprobiert, erprobt und erforscht. Nur an den Strukturen | |
der Regelschule ändert sich fast nichts. | |
## Theater mit Hintergedanken | |
Dass sich nun die SchulleiterInnen empowern, sich selbst ermächtigen, kommt | |
zu einem günstigen Zeitpunkt. Denn nach zwei Jahren Pandemie stellt sich | |
beim Fallenlassen der Masken heraus, dass der Normalzustand der | |
allermeisten Schulen schon lange vor Corona eine Art Fernunterricht mit | |
Anwesenden gewesen ist. Das Geheimnis des verlangten Kulturwandels wäre | |
hingegen eine tatsächliche Präsenz! Nicht einfach Präsenzunterricht, | |
sondern eine Lebens- und Lernwelt, in der Kinder, Jugendliche und vor allem | |
Erwachsene ganz da sind. Tätig! Nicht nur über die Dinge redend. | |
Das Geheimnis wäre, das Hauptfach „Irgendwie durchkommen“ abzuschaffen! | |
Nachdem die Wiesbadener Schulleiterin Enja Riegel hervorragende Leistungen | |
der Schüler mit dem Satz erklärte: „Wer viel Theater spielt, wird auch | |
besser in Mathematik“, haben einige Schulen versucht, es ihr nachzumachen. | |
Es klappte nicht. „Betrug“ riefen sie und kehrten zum alten Striemel | |
zurück. | |
Nein, liebe Nachäffer, ihr habt euch wieder mal selbst und die Kinder | |
betrogen. Ihr habt Theater mit dem Hintergedanken gespielt, besser in Mathe | |
zu werden. Ihr wart nicht bei der Sache. Ja, ihr wart nicht in der Welt. | |
Ihr wart nicht präsent! Ihr wart im Um-zu-Modus, dieser alten Krankheit der | |
Instrumentalisierung, Verwertung und Entwertung. Also liebe | |
Schulleiterinnen und Schulleiter: Wagt ihr eine Bildungsrevolution oder | |
bleibt es wieder mal bei Reformrhetorik? Setzt doch ein Manifest auf: „Es | |
gibt Schulleiter, die machen nicht mehr mit!“ Es gibt einige, die würden | |
euch helfen. | |
1967 haben wir, auch der Autor, in ganz Deutschland Flugblätter verteilt: | |
„Es gibt Schüler, die machen nicht mehr mit.“ Ich wurde Bundesvorsitzender | |
des AUSS (Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler). Im | |
Stuttgarter Vorstand war damals Thomas Sattelberger, jetzt Staatssekretär | |
im Bildungsministerium. Ich glaube, der würde auch noch mal mitmachen. Es | |
ist an der Zeit für ungewöhnliche Bündnisse! | |
Ulrike Kegler, die Schulleiterin in Potsdam, wurde übrigens eines Tages | |
wegen stark abweichender Ergebnisse bei den Vergleichsarbeiten zur | |
Schulverwaltung beordert. Kegler fühlte sich an die blauen Briefe ihrer | |
eigenen Schulzeit erinnert und fürchtete einen Rüffel. Stattdessen fragte | |
der Schulrat: „Was ist Ihr Geheimnis?“ | |
30 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Reinhard Kahl | |
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