# taz.de -- Grüne vor der EU-Wahl: No Asyl | |
> Auf ihrem Länderrat preisen sich die Grünen als Partei gegen den | |
> Rechtsruck und für den Green Deal. Nur über die Asylpolitik reden sie | |
> lieber nicht. | |
Bild: In Dresden angegriffen, auf dem kleinen Parteitag in Potsdam geredet: Die… | |
POTSDAM taz | Die heimliche Star-Rednerin an diesem Samstag heißt | |
Anne-Katrin Haubold. Normalerweise steht sie nicht auf Parteitagsbühnen. | |
Diesmal wurde sie aber von der Grünen-Spitze persönlich eingeladen – und | |
direkt mit einem Auftritt zwischen der Spitzenkandidatin und dem | |
Vizekanzler bedacht. | |
Haubold, 48, engagiert sich ehrenamtlich bei den Grünen in Dresden. Sie war | |
dabei, als Anfang Mai ein Parteifreund beim Plakatieren von Rechtsextremen | |
verprügelt wurde. Jetzt berichtet sie, wie sie letzten Mittwoch erstmals | |
wieder zum Haustürwahlkampf aufbrach, ein Mann öffnete, sie sich vorstellte | |
und wartete. „Dann treten diese magischen drei Sekunden ein, wo man nicht | |
weiß: Was passiert jetzt?“, erzählt Haubold. Der Mann habe tief Luft geholt | |
und schließlich gesagt: „Endlich. Endlich kommt mal jemand nicht von einer | |
rechtsradikalen Partei.“ | |
Am Ende der Rede gibt es Standing Ovations. Klar: Der Auftritt war astrein | |
– und passte perfekt zu der Botschaft, die die Parteiprominenz vor und nach | |
ihr setzt: „Wir Grüne stellen uns mit allem, was wir haben gegen den | |
Rechtsrutsch“, sagt [1][Terry Reintke, die Spitzenkandidatin.] | |
„Bei diesen Wahlen geht es um nichts Geringeres als um den Schutz unserer | |
Demokratie“, heißt es von Emily Büning, der Politischen Geschäftsführerin. | |
Und Omid Nouripour, der Parteichef, macht zwar einen Schlenker zum | |
[2][Messer-Angriff auf einen Anti-Islam-Aktivisten und einen Polizisten am | |
Vortag in Mannheim], kehrt dann aber schnell zurück zum Leitmotiv: „Wir | |
suchen den Schulterschluss mit allen Demokraten gegen die Feinde der | |
Demokratie – völlig unabhängig davon, ob sie Islamisten sind oder | |
Rechtsextremisten.“ | |
## Zur Abwechslung Geschlossenheit | |
Acht Tage vor der Europawahl halten die Grünen am Samstag in Potsdam ihren | |
kleinen Parteitag ab, der bei ihnen Länderrat heißt. Oft laufen diese | |
Termine kontrovers ab. 2022 diskutierten die Delegierten heftig über das | |
Bundeswehr-Sondervermögen, 2023 über die Asylpolitik. | |
Bei Gelegenheit terminiert die Partei den Länderrat aber auch gerne vor | |
bundesweite Wahlen, um zusätzliche Sendezeit für ihre Wahlkampfbotschaften | |
herauszuschlagen. Dann geht es geschlossener zu. In Potsdam rebelliert am | |
Samstag noch nicht mal die Grüne Jugend, die sonst wenig Gelegenheiten | |
auslässt, die grüne Regierungspolitik zu kritisieren. Kaum etwas stört hier | |
die Message, die die Parteispitze senden will: Grüne gegen Rechts. | |
Nicht nur auf dem Länderrat, sondern in der gesamten Europawahlkampagne ist | |
das das zentrale Thema. Auf den Plakaten der Grünen prangen | |
durchgestrichene Hakenkreuze, in ihren TikTok-Videos arbeiten sie sich an | |
der AfD ab. Der Leitantrag des Vorstands für den kleinen Parteitag dreht | |
sich zur Hälfte um die Verteidigung der Demokratie. | |
In die letzte Wahlkampfwoche, in der laut Umfragen viele Wähler*innen | |
noch unentschieden sind, geht die Partei jetzt auch noch mit einer | |
Zuspitzung: „Wir kämpfen dafür, dass es am 9. Juni heißt: Demokraten vor | |
Faschisten, Grün vor Blau!“, sagt Geschäftsführerin Büning auf der Bühne… | |
Potsdam. Das Ziel, am Ende vor der AfD zu landen, soll das eigene Klientel | |
mobilisieren. | |
Ein Alleinstellungsmerkmal ist der Kampf gegen Rechts zwar nicht. Auch SPD | |
und Linke werben damit. Allerdings: Als zu Jahresbeginn eine Welle von | |
Demokratie-Demos losrollte, [3][verzeichnete niemand so viele Neueintritte | |
wie die Öko-Partei]. Das Thema zieht bei ihren Anhänger*innen und gibt | |
der Partei Hoffnung für den an sich schwierigen Wahlkampf. | |
## Verluste eingepreist | |
Über 20 Prozent der Stimmen holten die Grünen bei der Europawahl 2019. Klar | |
ist: Das Rekordergebnis vom letzten Mal ist dieses Jahr unerreichbar. | |
Fridays for Future brachten damals Millionen auf die Straße, der | |
Klimaschutz war weit über grüne Kreise hinaus mehrheitsfähig. Und im Bund | |
saßen die Grünen schon so lange in der Opposition, dass man ihnen für rein | |
gar nichts die Schuld geben konnte. | |
Für diese Wahl legt die Partei die Latte verständlicherweise tiefer. | |
Wiederholt sie zumindest die 14,7 Prozent der letzten Bundestagswahl, was | |
laut Umfragen möglich ist, lässt sich das als Erfolg verkaufen. Die | |
Rahmenbedingungen haben sich schließlich ins Gegenteil verkehrt: Nach | |
zweieinhalb Jahren an der Regierung werden die Grünen inzwischen sogar für | |
Fehler verantwortlich gemacht, die sie gar nicht selber begangenen haben. | |
Und der Klimaschutz? Ist nach Pandemie, Krieg und Krise kein Gewinnerthema | |
mehr. | |
Als grünes Kernthema kommt er in diesem Wahlkampf natürlich trotzdem vor. | |
Es geht ja um etwas: Die europäischen Konservativen drohen damit, [4][den | |
Green Deal, der die EU bis 2050 klimaneutral machen soll, rückabzuwickeln]. | |
Das wollen die Grünen verhindern. Außerdem wirkt es auf dem Länderrat so, | |
als trauten sie es sich angesichts der Flutkatastrophen vor zwei Wochen im | |
Saarland und aktuell in Süddeutschland wieder, das Thema weiter nach vorne | |
zu stellen. | |
Im Leitantrag des Vorstands kommt das Klima trotzdem erst an zweiter Stelle | |
vor – unter dem Titel: „Gemeinsam und klimaneutral unseren Wohlstand | |
erneuern“. Als Selbstzweck, auch das zieht sich durch diesen Wahlkampf, | |
wollen die Grünen den Klimaschutz nicht verkaufen. | |
Hat der Green Deal bestand, könne er in Europa 2,5 Millionen Arbeitsplätze | |
schaffen, sagt in Potsdam Spitzenkandidatin Reintke. Ohne ihn würde | |
Industrie nach China und in die USA abwandern. „Wir wollen die grünen Jobs | |
in Europa und nicht anderswo in der Welt“, so Reintke weiter. Dazu komme | |
der Gewinn an Sicherheit, wenn Europa durch Erneuerbare Energien | |
unabhängiger von Autokraten werde. | |
## Wichtiges Thema, schwieriges Thema | |
Mindestens so interessant wie das, was im Leitantrag steht, ist aber das, | |
was darin nicht vorkommt und auch auf der Parteitagsbühne kaum eine Rolle | |
spielt: Die Asyl- und Migrationspolitik, die laut dem aktuellen | |
ZDF-Politbarometer für die Bevölkerung das wichtigste Thema dieser Wahl | |
ist. | |
Für die Grünen ist das Feld heikel. Positionieren sie sich zu | |
kompromissbereit, könnten sie es sich mit dem Kernklientel verscherzen; | |
treten sie zu liberal auf, machen sie sich außerhalb grüner Kreise | |
angreifbar. Die Mehrheit im Land wünscht sich schließlich weitere | |
Verschärfungen. Auch das gehört zum Rechtsruck. | |
Die Partei selbst bewegt sich ebenfalls zwischen den beiden Polen. Und | |
diese innere Zerrissenheit wollen die grünen Strateg*innen im Wahlkampf | |
natürlich nicht schon wieder offenbaren. | |
Europapolitisch war bei den Grünen schließlich schon das gesamte letzte | |
Jahr vom Streit über die Abschottungspolitik der EU geprägt. 2023 | |
dominierten [5][hitzige Debatten darüber sowohl den kleinen] als [6][auch | |
den großen Parteitag]. Die Asylrechtsreform GEAS passierte erst im April | |
das Europaparlament. Reintkes Fraktion, die in Brüssel in der Opposition | |
sitzt, stimmte größtenteils dagegen – obwohl Außenministerin Annalena | |
Baerbock bis zum Schluss öffentlich für das Paket warb. | |
Die Uneinigkeit zeigt sich aktuell auch auf den Straßen. Die Parteizentrale | |
hat für den Wahlkampf ein Plakat-Motiv mit dem Slogan „Für Menschenrechte | |
und Ordnung“ entworfen. An der Basis haben viele ein Problem mit dem | |
Spruch. Er klingt ihnen zu sehr nach Law and Order im Umgang mit | |
Flüchtlingen. | |
Zahlreiche Kreisverbände haben das Motiv für ihren Wahlkampf gar nicht erst | |
geordert und mancherorts hängen Plakate mit einem alternativen Spruch: „Für | |
Menschenrechte und Menschlichkeit“. Eine Gruppe unzufriedener | |
Parteimitglieder hat es auf eigene Faust im Stil der offiziellen Kampagne | |
entworfen und stellt es anderen Grünen zur Verfügung. | |
## Antrag zur Asylpolitik zurückgezogen | |
Auch auf dem Länderrat hätte die Asylpolitik beinahe noch eine größere | |
Rolle gespielt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Migration & Flucht, in | |
der sich Basismitglieder engagieren, hatte einen eigenen Antrag | |
eingereicht. Die Autor*innen sprachen sich dagegen aus, Asylverfahren in | |
Drittländer wie Ruanda auszulagern, wie es die konservative EVP fordert. | |
Sie kritisierten [7][den Flüchtlingsdeal, den Kommissionspräsidentin Ursula | |
von der Leyen mit dem Libanon vorantreibt], obwohl syrische Flüchtlinge von | |
dort in ihre Heimat abgeschoben werden. Stattdessen schlugen sie ein | |
Bundesaufnahmeprogramm vor, über das Kontingente von Syrer*innen aus dem | |
Libanon nach Deutschland kommen könnten. | |
Noch vor Beginn des Länderrats hat die BAG den Antrag aber wieder | |
zurückgezogen. Zu den Gründen äußern sich die Autor*innen nicht. Man | |
kann aber davon ausgehen, dass die Parteispitze froh darüber ist, eine | |
Woche vor der Wahl weder mit einer neuen Kontroverse Schlagzeilen zu machen | |
noch mit der Forderung, freiwillig mehr Flüchtlinge nach Europa zu lassen. | |
Die BAG begnügte sich schließlich mit einer Ergänzung zum Leitantrag, der | |
mit dem Bundesvorstand abgestimmt war und am Ende ohne Debatte durchgeht. | |
Das Ruanda-Modell sei „inhuman“ und könne „kein Vorbild sein“, heißt … | |
darin. Die Sätze könnten noch mal relevant werden, wenn die Grünen nach der | |
Wahl wie angekündigt Koalitionsverhandlungen mit der EVP aufnehmen. | |
Schließlich werden dann Forderungen nach weiteren Zugeständnissen in der | |
Asylpolitik auf sie zukommen – und anschließend, beim nächsten großen | |
Parteitag im Herbst, wohl auch wieder Kontroversen. | |
## „Gegen jeden Deal, der Menschenrechte gefährdet“ | |
Zumindest einen kleinen Vorgeschmack darauf gibt es am Samstagnachmittag in | |
Potsdam doch noch. Da tritt in der Aussprache die Berliner Grüne Svenja | |
Borgschulte, Vorsitzende der BAG Migration & Flucht, ans Mikrofon. Für | |
einen Moment stört sie die Wahlkampf-Inszenierung der Parteitagsregie. | |
„Wir Grüne müssen uns gegen jeden einzelnen Deal stellen, der | |
Menschenrechte gefährdet“, sagt sie. „An dieser Stelle möchte ich unserer | |
Fraktion im Europaparlament danken, die unsere Werte verteidigt hat, die | |
standhaft geblieben ist und das auch in Zukunft hoffentlich tun wird.“ | |
Im Saal erhält sie freundlichen Applaus für diese implizite Kritik an | |
Baerbock und anderen Regierungs-Grünen. Der Großteil der Delegierten sitzt | |
zu dem Zeitpunkt aber gar nicht auf den Stühlen. Sie stehen draußen vor der | |
Halle beim Mittagessen. | |
1 Jun 2024 | |
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[7] /EU-Abkommen-mit-dem-Libanon/!6004506 | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
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