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# taz.de -- Grünen-Spitzenkandidatin Terry Reintke: „Nicht um jeden Preis“
> Nach der Wahl am 9. Juni wollen die Grünen in eine Koalition mit Ursula
> von der Leyen. Welche Kompromisse macht Spitzenkandidatin Terry Reintke
> dafür?
Bild: Für die Wahl am 9. Juni ist Terry Reintke die deutsche und europäisch…
taz: Frau Reintke, einer Umfrage zufolge sind Sie von allen deutschen
Spitzenkandidat*innen für die Europawahl die unbekannteste. Wie
wollen Sie das noch ändern?
Terry Reintke: Ich glaube, dass wir in den nächsten Wochen einiges
rausreißen können. Aber natürlich zeigt die Umfrage eine allgemeine
Herausforderung: Gemessen an dem Einfluss, den sie auf den Alltag der
Menschen nimmt, müsste die Europapolitik auch außerhalb des Wahlkampfs eine
größere Rolle spielen.
Den seit Jahresbeginn größten Artikel über Sie hat der Stern
veröffentlicht. Es ging [1][um Belästigungsvorwürfe gegen den
Grünen-Abgeordneten Malte Gallée]. Aus der Europa-Fraktion wurde Ihnen
Untätigkeit vorgeworfen. Was haben Sie falsch gemacht?
Dass es zu Fehlverhalten gekommen sein kann, macht mich natürlich sehr
betroffen. Wir haben als einzige Fraktion im Europäischen Parlament ein
Ombudssystem. In den letzten Monaten haben wir zusätzliche Maßnahmen
beschlossen, damit Betroffene einfacher Beschwerden einreichen können. Es
ist mir wichtig, dass unsere Fraktion ein sicherer Arbeitsplatz ist.
Sie treten explizit als Feministin auf und haben sich für #Metoo
starkgemacht. Hätte da von Ihnen als Fraktionschefin nicht mehr kommen
müssen?
Wo Macht ist, gibt es immer auch Machtmissbrauch. Dagegen braucht es gute
Systeme. Dafür setze ich mich auch weiterhin ein.
Sprechen wir über die EU-Kommission: Hat Präsidentin Ursula von der Leyen
seit 2019 einen guten Job gemacht?
Sie hat zu Beginn die Dynamik der Klimabewegung aufgenommen und mit dem
Green Deal, der Europa bis 2050 klimaneutral machen soll, richtige Impulse
gesetzt. Seit zwei Jahren gibt es aus ihren eigenen Reihen aber immer
wieder Versuche, das Paket auszubremsen und sogar rückabzuwickeln. Wir
sagen: Der Green Deal muss weitergeführt werden. Und wir brauchen in Europa
auch nach den Wahlen ein starkes Bekenntnis zu Demokratie, Klimaschutz und
klimaneutralem Wohlstand. Wer das möchte, muss die Grünen wählen.
2019 stimmten die Grünen im Parlament gegen von der Leyen, obwohl sie auf
Klimakurs war. [2][Jetzt streben Sie eine Zusammenarbeit an], obwohl Sie
ihr beim Klima nicht mehr trauen. Wie passt das zusammen?
Konservative, Sozialdemokraten und Liberale bekommen wohl keine komfortable
Mehrheit mehr. Sie brauchen einen weiteren Partner. Das sind entweder die
rechtsautoritäre EKR oder die Grünen. Ich muss Ihnen nicht sagen, von
welcher Option ich glaube, dass sie für die Menschen besser wäre.
Union und EVP stehen für eine strikte Asylpolitik. Würden Sie weitere
Verschärfungen in Kauf nehmen, um mit ihnen ins Geschäft zu kommen?
Die EU hat einen riesigen Mangel an Fachkräften und braucht Einwanderung.
Dafür werden wir in Verhandlungen werben. Mit dem großen Asyl- und
Migrationspaket, das die EU gerade beschlossen hat, ist die Messe zumindest
nicht gelesen. Ich glaube nicht, dass nach der Umsetzung das Leid an den
Außengrenzen beendet ist oder Ungarn plötzlich Geflüchtete aufnimmt. Beides
kann so nicht bleiben.
Das war keine Antwort auf die Frage. Würden Sie weiteren Verschärfungen
zustimmen?
Ich bin bislang gut damit gefahren, Verhandlungen am Verhandlungstisch
statt in Interviews zuführen. Dabei möchte ich bleiben.
Welche Asylpolitik kriegt man, wenn man am 9. Juni die Grünen wählt?
[3][Die der Bundesebene, die die europäische Asylrechtsverschärfung
mitgetragen hat, oder die Ihrer Fraktion, die im Parlament gegen die
meisten Bestandteile gestimmt hat?]
Eine Politik, die will, dass das Sterben an den Außengrenzen endet. Dass
Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, eine faire Chance auf Asyl
bekommen. Dass gleichzeitig geordnete Verfahren hergestellt werden. Wir
müssen die Situation in unseren Kommunen verbessern, die teils wirklich an
oder sogar über der Belastungsgrenze sind. Darin sind wir uns in der Partei
einig. Wir hatten in der konkreten Situation nur unterschiedliche
Fragestellungen: Eine Außenministerin hat bei der Schlussabstimmung im Rat
nur die Wahl zwischen hopp oder top, für oder gegen das Gesamtpaket. Im
Parlament konnten wir über die einzelnen Rechtsakte urteilen und haben das
auch differenziert gemacht.
Es gab inhaltliche Differenzen – oder hätten Sie gehandelt wie Frau
Baerbock, wenn Sie Ministerin statt Abgeordnete wären?
Das ist doch eine hypothetische Frage. Die Konfliktlinie verläuft nicht
zwischen Grünen und Grünen, sondern zwischen denen, die sich für
Menschenrechte einsetzen und Rechtspopulisten wie Meloni oder Orbán, die
eine Festung Europa bauen wollen. Die Unterschiede zwischen den
Mitgliedstaaten sind enorm, ich erlebe diese Debatten ja ständig. Das macht
es auch so schwierig. Deswegen sollten wir progressiven Kräfte uns nicht
auseinanderdividieren lassen. Wir wollen eine Asylpolitik, die auf
Humanität und Ordnung aufbaut, die Menschenrechte schützt – und geordnete
Verfahren ermöglicht. Das treiben wir in unseren unterschiedlichen Rollen
voran.
Auf Ihren Plakaten steht „Menschenrechte und Ordnung“, Sie sprechen von
„Humanität und Ordnung“ – den Slogan benutzt auch die CDU. Warum klingen
die Grünen [4][wie Horst Seehofer vor fünf Jahren]?
Ich glaube nicht, dass Horst Seehofer da zustimmen würde. Ich tue es auch
nicht. Humanität und Menschenrechte waren schon immer Kern unserer Politik.
Wer will, dass Geflüchtete verlässlich erstversorgt werden und schnell
Klarheit erhalten, kann nicht gegen funktionierende Verfahren sein. Ordnung
heißt eben auch, dass Menschen nicht ewig unter dramatischen Bedingungen an
den Außengrenzen ausharren müssen. CDU und CSU stehen da ganz woanders.
Ihr Plakat „Menschenrechte und Ordnung“ ist bislang kaum zu sehen. Offenbar
mögen die Kreisverbände es nicht.
Ich bin ja jetzt viel im Land unterwegs und habe es schon an den
unterschiedlichsten Orten gesehen – sowohl in Berlin-Mitte als auch im
Ruhrgebiet.
Auf den Großplakaten mit Ihnen, Habeck und Baerbock geht es um Sicherheit,
Wohlstand, Freiheit. Gewinnt man mit Klimapolitik nicht mehr?
Die größte Gefahr für unsere Sicherheit ist eine außer Kontrolle geratene
Klimakrise. Der Schlüssel zu Wohlstand ist Klimaschutz. Freiheit gibt es
ohnehin nur, wenn es uns gelingt, einen lebenswerten Planeten zu erhalten.
Klimaschutz ist zentral, damit wir hierzulande weiter gut leben können. Und
es ist klar, dass wir in einer Zeit von globalen Konflikten, Inflation oder
Angriffen auf die Demokratie auch auf diese Themen Antworten geben wollen.
Aber ja, im Wahlkampf 2019 – vor Corona, vor dem russischen Angriff auf die
Ukraine – war die Debatte einfacher zu führen.
Wenn von der Leyens Wiederwahl scheitert, könnten Sie EU-Kommissarin
werden. Laut Ampel-Koalitionsvertrag hätten die Grünen das Vorschlagsrecht.
Würden Sie am liebsten Klima-Kommissarin werden?
Jetzt werbe ich erst mal für ein starkes grünes Ergebnis. Wir gehen mit dem
Anspruch in diese Wahl, dass wir exekutive Macht wollen. Alles andere sehen
wir danach.
Die EU strebt bisher Klimaneutralität bis 2050 an. Im Wahlprogramm der
Europa-Grünen steht als Ziel 2040. [5][Die deutschen Grünen wollten das
abschwächen], scheiterten aber. Für welches Ziel treten Sie an?
Es soll so schnell wie möglich gehen, wenn möglich auch schneller als
geplant.
Noch mal: Stehen Sie als europäische Spitzenkandidatin zur Forderung des
europäischen Wahlprogramms – Klimaneutralität 2040?
Die Aufgabe ist doch folgende: So schnell wie möglich klimaneutral werden
und gleichzeitig unseren Wohlstand ausbauen und erneuern. Europa braucht
beides und es geht nur gemeinsam. Wir brauchen in der EU also den Green
Deal und ein massives Investitionsprogramm – auch, damit uns die USA und
China nicht technologisch abhängen. Das Stahlwerk in Duisburg zum Beispiel
hat vier Hochöfen. Die Umrüstung auf grünen Wasserstoff kostet je zwei
Milliarden Euro. Das können Unternehmen nicht ohne Unterstützung stemmen,
aber die wird sich langfristig auszahlen.
Wenn Sie aber in eine Koalition wollen, müssen Sie Zugeständnisse machen –
und möglicherweise Rückschritte in der Klimapolitik mittragen, statt wie
bisher zumindest als kritische Stimme zum Diskurs beizutragen. Wäre es das
wert?
Man kann Verhandlungen auch abbrechen. Wenn die Konservativen den Green
Deal ernsthaft entkernen wollen, wird sich die Frage für uns stellen. Er
ist nicht nur für den Klimaschutz entscheidend, sondern auch für unsere
Wettbewerbsfähigkeit. Ich bin zuversichtlich, dass die Union das auch noch
merkt, wenn der Wahlkampfmodus um ist – zumal auch sie sich hinter das
Pariser Klimaabkommen gestellt haben. Ich bin also fest davon überzeugt,
dass wir uns durchsetzen können. Auch Stimmen aus der Wirtschaft sagen: Ihr
müsst mehr investieren.
Aber auf Ihnen lastet auch der Druck, das Feld nicht den Rechten zu
überlassen – also die EKR aus der Koalitionsmehrheit rauszuhalten.
Das erhöht den Druck auf alle Demokraten, sich zu einigen. Natürlich wird
da einiges auch auf uns zukommen. Aber reden Sie mal mit Leuten, mit denen
ich Koalitionsverträge verhandelt habe: Ich bin schon sehr klar, in welche
Richtung es gehen muss, damit wir Teil der Mehrheit werden.
Nach zweieinhalb Jahren Ampel stellen sich viele Wähler*innen der Grünen
diese Frage: Macht Ihre Partei zu viele Kompromisse?
Und dann gibt es Menschen, die den Eindruck haben, die Grünen setzen sich
immer durch. Ich möchte daran gemessen werden, was wir in den letzten fünf
Jahren im Europäischen Parlament gemacht haben. Dort haben wir richtig viel
erreicht, angefangen mit dem Green Deal. Das war nur möglich, weil auch wir
uns auf Kompromisse eingelassen haben. Mit dieser Haltung werde ich auch in
Mehrheitsverhandlungen gehen. Natürlich möchte ich, dass es am Ende
funktioniert. Aber nicht um jeden Preis.
21 May 2024
## LINKS
[1] /Sexuelle-Uebergriffe-im-Europaparlament/!5993573
[2] /Gruene-starten-EU-Wahlkampf/!5987242
[3] /EU-Einigung-auf-Asylreform/!6003993
[4] /Kabinett-stimmt-fuer-Rueckkehr-Gesetz/!5586747
[5] https://www.euractiv.de/section/europawahlen/news/gruene-wollen-die-klimazi…
## AUTOREN
Sabine am Orde
Tobias Schulze
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