# taz.de -- Grüne und Investitionen: Wird Habeck Finanzminister? | |
> Bei den Grünen gibt es Überlegungen, in einer Koalition 2021 das | |
> Finanzministerium zu beanspruchen. Anders sei die eigene Agenda nicht | |
> durchzusetzen. | |
Bild: Grünen-Chef Robert Habeck glaubt, dass Fiskalpolitik im Wahljahr ins Zen… | |
BERLIN taz | Bei den Grünen wird darüber nachgedacht, in einer Koalition ab | |
2021 das Finanzministerium zu beanspruchen. Das bestätigten mehrere gut | |
vernetzte Grüne der taz. „Wenn wir auf Augenhöhe mitspielen wollen, | |
brauchen wir das Finanzressort“, sagte ein Bundespolitiker. Dafür sei zum | |
Beispiel das Außenministerium verzichtbar, weil es vor allem repräsentative | |
Aufgaben habe. | |
Mehrere Überlegungen befördern diese Idee. Die Grünen wollen in den | |
nächsten Jahren hunderte Milliarden Euro investieren – in eine bessere | |
Infrastruktur, also Brücken, Schwimmbäder oder Schulen, in die Energiewende | |
oder in den ökologischen Umbau der Wirtschaft. Der Plan ist ein | |
500-Milliarden-Euro-Programm für die nächsten zehn Jahre, er soll im | |
Bundestagswahlkampf eine wichtige Rolle spielen. | |
Außerdem werben die Grünen für eine Reform der Schuldenbremse. Sie wollen | |
das in der Verfassung festgeschriebene Instrument lockern, um mehr | |
Investitionen zu ermöglichen. Idee: Die deutsche Schuldenbremse, die bisher | |
nur ein Defizit von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erlaubt, | |
solle an die Maastricht-Kriterien der EU angepasst werden. Jene ermöglichen | |
ein jährliches Defizit von 1 Prozent des BIP. | |
Dadurch würden Investitionen von 30 Milliarden Euro pro Jahr möglich, | |
argumentierte Grünen-Chef Robert Habeck [1][neulich im Deutschlandfunk]. Im | |
Wahljahr 2021, fügte er hinzu, werde eine Debatte wiederkehren, die man | |
seit zehn Jahren nicht mehr kenne: Entweder sparen oder Steuern erhöhen | |
oder die Kreditaufnahme erhöhen, also Schulden machen. Habecks Fazit: „Die | |
Fiskalpolitik wird wieder ins Zentrum der Politik rücken.“ | |
## Europa ist ein wichtiges Argument | |
Die von den Grünen vorgeschlagende Verschuldungspolitik ist durchaus | |
sinnvoll. Wegen der Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank kostet es | |
den Staat nichts, sich Geld zu leihen. Und für eine engagierte ökosoziale | |
Wende wären gigantische öffentliche Investitionen nötig – neben viel | |
privatem Geld. Eine solche Agenda, argumentierten die Gesprächspartner der | |
taz, sei ohne das Finanzressort nicht durchzusetzen. | |
Auch die Europapolitik ist ein wichtiges Argument. Der oder die | |
FinanzministerIn ist neben dem oder der KanzlerIn der wichtigste Player in | |
Brüssel. Deshalb bestanden die Sozialdemokraten 2017 unter dem damaligen | |
Parteichef Martin Schulz darauf, den Finanzminister in der Großen Koalition | |
zu stellen. Die Grünen haben große Pläne für Europa. Sie schlagen etwa vor, | |
den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt zu reformieren und die | |
Fiskalregeln so zu überarbeiten, dass sie antizyklische Investitionen in | |
einer Krise ermöglichen. Das wäre eine ideale Aufgabe für einen grünen | |
Finanzminister. | |
Eigentlich reden die Grünen nicht gerne über Geld. Mit allzu detaillierten | |
Steuerplänen machten sie im Bundestagswahlkampf 2013 schlechte Erfahrungen | |
– [2][und flüchten sich seitdem lieber in wolkige Ansagen.] Doch die | |
Coronapandemie ändert alles. Die Groko hat Unsummen für die | |
Coronabekämpfung ausgegeben, Finanzminister Olaf Scholz (SPD) plant allein | |
für das Jahr 2021 eine Neuverschuldung von 96,2 Milliarden Euro. Auch in | |
seiner mittelfristigen Finanzplanung klaffen riesige Lücken. | |
Als Möchtegern-Regierungspartei stecken die Grünen in einem Dilemma. Setzen | |
sie auf ein finanzpolitisches Wünsch-dir-was – oder versuchen sie, eine | |
seriöse Gegenfinanzierung zu basteln? Neben dem 500-Milliarden-Euro-Plan | |
haben die Grünen nämlich noch mehr Wünsche, die sehr teuer sind. Die | |
sanktionsfreie Grundsicherung, mit der die Grünen Hartz IV ersetzen wollen, | |
kostet 30 Milliarden Euro im Jahr. Ihre Kindergrundsicherung: 10 Milliarden | |
im Jahr. Ihre Garantierente: gut 6 Milliarden. | |
## „Im Haushalt nicht darstellbar“ | |
So weit nur die großen Brocken aus dem Sozialbereich. Alle diese | |
Schätzungen sind eher vorsichtig, es gibt auch teurere Szenarien. Und die | |
Ausgaben für Klimaschutz, Digitalisierung, Verkehr und anderes kämen ja | |
noch obendrauf. | |
Natürlich haben die Grünen auch ein paar Ideen, um dem Staat mehr Geld zu | |
verschaffen. Sie möchten etwa eine Digitalsteuer einführen, | |
Steuerschlupflöcher schließen oder klimaschädliche Subventionen abschaffen. | |
Aber das reicht bei weitem nicht aus. Über eine Digitalsteuer für Facebook, | |
Amazon und Co. wird seit einer gefühlten Ewigkeit gestritten – [3][es gibt | |
sie international bis heute nicht]. Um Steuerspartricks wirksam zu beenden, | |
sind oft langwierige, international auszuhandelnde Abkommen nötig. | |
Bleiben die umweltschädlichen Subventionen. Sie belaufen sich laut | |
Umweltbundesamt auf über 57 Milliarden Euro pro Jahr. Aber die Grünen | |
würden das Subventionswesen wohl nicht radikal und sofort beenden. In einem | |
Antrag im Parlament taxierte die Fraktion die mittelfristigen | |
Steuermehreinnahmen im November 2016 auf etwa 12 Milliarden Euro jährlich. | |
Kurz: Die Erträge reichten hinten und vorne nicht, um all ihre | |
kostspieligen Wünsche zu finanzieren. | |
In der Fraktion ist die Finanzlücke längst aufgefallen. „Wenn man unsere | |
Ideen übereinanderlegt, ist das im Haushalt nicht darstellbar“, sagte ein | |
Abgeordneter. Deshalb denken die Grünen darüber nach, wie man zumindest | |
Einstiege in die genannten Themen schaffen kann. Grünen-Haushälter | |
Sven-Christian Kindler sagte der taz: „Keine Partei im Bundestag hat ein | |
komplett gegenfinanziertes Programm. Das geht auch schlichtweg gar nicht, | |
weil die Haushaltslage sich immer wieder abhängig von der Konjunktur | |
ändert.“ Aber die Grünen seien „ehrlicher und seriöser“ als die andere… | |
etwa die CDU mit ihren massiven Forderungen nach Steuersenkungen. | |
## Nahtod-Erfahrung 2013 | |
Verschärft wird das Problem durch die grüne Zaghaftigkeit in Sachen | |
Steuererhöhungen. Eine fairere Erbschaftsteuer oder ein höherer | |
Spitzensteuersatz könnten dem Staat neue Einnahmen verschaffen. SPD-Chefin | |
Saskia Esken und die Linkspartei fordern eine Vermögensabgabe, um sehr | |
reiche Menschen an den Coronakosten zu beteiligen. Die Grünen-Spitze | |
schwieg zu solchen Vorstößen bisher lieber, um sich nicht angreifbar zu | |
machen. | |
Ein Grund dafür ist die Nahtod-Erfahrung im Bundestagswahlkampf 2013. | |
Damals legten die Grünen unter ihren SpitzenkandidatInnen Jürgen Trittin | |
und Katrin Göring-Eckardt [4][ein komplett gegenfinanziertes Wahlprogramm | |
mit einem detaillierten Steuerkonzept vor]. Wirtschaftsverbände und | |
liberalkonservative Medien deuteten die moderaten Erhöhungen für | |
Wohlhabende in eine Attacke auf die gesamte Mittelschicht um. [5][Eine | |
Wiederholung dieses Debakels] wollen sich die Grünen lieber ersparen, | |
zumindest vorerst. | |
Wobei eine Konkretion der Steuerpläne im Wahljahr folgen soll. Parteichef | |
Habeck erarbeite gerade mit einer Arbeitsgruppe Vorschläge zu | |
Staatsschulden, Fiskalpolitik und einem Lastenausgleich, heißt es in der | |
Fraktion. Jene müssten spätestens bis zum Wahlprogrammparteitag im Juni | |
2021 fertig sein. | |
„Für uns ist klar: Die Lasten der Krise müssen gerecht verteilt werden“, | |
sagte Lisa Paus, die Finanzexpertin der Grünen-Fraktion, der taz. „Sonst | |
droht sich die Spaltung des Landes zu verschärfen.“ Persönlich halte sie | |
eine Vermögensabgabe für „sehr zielgerichtet und effizient zur Beteiligung | |
der Krisenprofiteure an einem fairen Lastenausgleich“. | |
## Keine Leidenschaft für Finanzpolitik | |
Falls es zu einer schwarz-grünen Koalition kommt, droht ein harter Kampf um | |
die Fiskalpolitik. Für die Union ist die Schuldenbremse sakrosankt – auch | |
der durch die Coronapandemie nötige Abschied von der schwarzen Null fiel | |
ihr extrem schwer. Selbst SPD-Kanzlerkandidat Scholz hat sich bereits | |
festgelegt, dass die Bremse ab 2022 wieder gelten müsse. Bliebe es dabei, | |
wären die grünen Milliardenpläne perdu. | |
Und noch ein Problem tut sich auf: Wer soll den Job des Finanzministers | |
eigentlich machen? Von den für Ministerposten gehandelten Spitzengrünen | |
fiel bisher keiner durch besondere Leidenschaft für Finanzpolitik auf. Aber | |
dass Ämter nicht nach Interesse besetzt werden, ist eher die Regel denn die | |
Ausnahme. Robert Habecks Name fällt jedenfalls, wenn es ums Finanzressort | |
geht. Der Parteichef habe schließlich federführend das grüne Konzept für | |
die gelockerte Schuldenbremse erarbeitet, heißt es – zusammen mit | |
FinanzpolitikerInnen und LandesministerInnen. | |
Wenn es Robert Habeck wird, wäre die Gegenpropaganda der Konkurrenz | |
naheliegend: Der Grüne wäre der erste Finanzminister, der daran | |
[6][scheiterte, die Pendlerpauschale korrekt zu erklären]. | |
12 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.deutschlandfunk.de/gruenen-chef-robert-habeck-zurueck-zur-alten… | |
[2] /Die-steile-These/!5675232 | |
[3] /Verhandlungen-zur-Digitalsteuer/!5690097 | |
[4] /Steuerplaene-zur-Wahl/!5061640 | |
[5] /Kommentar-Gruene-Wahlkampffehler/!5058300 | |
[6] /Robert-Habeck-und-die-Pendlerpauschale/!5629309 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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