# taz.de -- Größtes Dokumentarfilmfestival der Welt: Gewöhnlich wie großart… | |
> In Amsterdam fand das 34. International Documentary Film Festival statt. | |
> Dieses Jahr überzeugten vor allem Filme über vermeintlich normale | |
> Menschen. | |
Bild: Die Doku „One Takes Grace“ ist außergewöhnlich und facettenreich um… | |
Zu viel Eskapismus im Dokumentarfilm? Orwa Nyrabia, künstlerischer Leiter | |
des International Documentary Film Festival Amsterdam (IDFA), ist kein Fan | |
dieses Trends, der für ihn seit einiger Zeit unübersehbar ist. | |
Das größte Dokumentarfilm-Festival der Welt gibt es seit 1988, und Nyrabia | |
beklagte gegenüber dem Branchenblatt Variety eine grassierende Furcht vor | |
Ernsthaftigkeit, die sich darin zeige, dass Filmemacher*innen ihrem | |
Publikum immer auch ein Fünkchen Hoffnung mitgeben wollen und | |
Verleiher*innen wie Produzent*innen darauf bedacht seien, einen | |
Bogen um allzu düstere Stoffe zu machen. | |
Blickt man nun zurück auf die am Sonntag zu Ende gegangene 34. | |
IDFA-Ausgabe, die anders als im Vorjahr und trotz Quasi-Lockdown in den | |
Niederlanden vor Ort als physische Veranstaltung möglich war, kann | |
zumindest hier von einem Mangel an Ernsthaftigkeit oder dem Meiden von | |
ernüchternden Themen keine Rede sein. Bestes Beispiel dafür ist „Mr. | |
Landsbergis“ von Sergei Loznitsa, der am Ende den Hauptpreis im | |
Internationalen Wettbewerb mit nach Hause nehmen durfte. | |
Der ukrainische Regisseur, der erst vor einem halben Jahr in Cannes den | |
Film „Babi Yar. Context“ präsentiert hatte (und dafür gerade für den | |
Europäischen Filmpreis nominiert ist), widmet sich dieses Mal Litauens | |
Kampf um Unabhängigkeit in den Jahren 1988 bis 1991. | |
## Litauische Unabhängigkeitsbewegung | |
Wieder einmal gelingt es Loznitsa, unterstützt von seinem Editor Danielius | |
Kokanauskis, dabei auf eindrucksvolle Weise, Unmengen von Archivmaterial zu | |
einem klugen, mitunter auch packenden Film zu verdichten, der | |
zusammengehalten wird durch ein ausführliches Gespräch mit dem Titelhelden. | |
Vytautas Landsbergis, dessen Sohn am Film mitwirkte, war einer der | |
Mitbegründer der litauischen Unabhängigkeitsbewegung, der vielleicht | |
wichtigste Opponent der regierenden kommunistischen Partei und schließlich | |
provisorisches Staatsoberhaupt nach dem Erlangen der Unabhängigkeit. | |
Seine Einordnungen, auch mit Blick auf den sogenannten [1][Blutsonntag von | |
Vilnius 1991] und Gorbatschows unrühmliche Rolle darin, machen in | |
Kombination mit Originalaufnahmen jener Zeit aus „Mr. Landsbergis“ ein | |
bemerkenswertes Lehrstück jüngerer europäischer Geschichte, dem man vier | |
Stunden lang gebannt folgt. | |
## Was Hochkonjunktur hat | |
So sehr man Loznitsas Film auch als Würdigung einer Lebensleistung sehen | |
kann, so wenig geht er als das durch, was Festivalleiter Nyrabia als | |
„Supermenschen-Dokumentation“ bezeichnet: Filme über prominente | |
Künstler*innen oder Wissenschaftler*innen, wie sie angesichts ihres | |
kommerziellen Potenzials seit einiger Zeit im Dokumentarfilm Hochkonjunktur | |
haben. | |
Auch in Amsterdam gab es solche Arbeiten zu sehen, von „Jagged“ über die | |
Rocksängerin Alanis Morisette etwa, „Listening to Kenny G“ über den | |
berühmtesten Sopransaxofonisten der Welt oder „Becoming Cousteau“ von der | |
Oscar-nominierten Liz Garbus, der gerade auch bei Disney+ angelaufen ist. | |
Doch sie liefen im Nebenprogramm außer Konkurrenz, um ein breiteres | |
Publikum anzulocken. | |
In den Wettbewerbsreihen des IDFA-Programms porträtierten die spannendsten | |
Filme nicht zuletzt solche Menschen, die vermeintlich ein ganz gewöhnliches | |
Leben führen, deren Faszination gerade sich mitunter erst auf den zweiten | |
Blick offenbart. In „The Beach of Enchaquirados“ vom ecuadorianischen | |
Regisseur Iván Mora Manzano etwa, der im Internationalen Wettbewerb lief, | |
lernen wir Vicky kennen, eine trans Frau in einer kleinen | |
Fischer*innen-Gemeinde in Ecuador. | |
Tagsüber fährt sie aufs Meer, abends betreibt sie eine kleine Kneipe und | |
ist ansonsten immer ganz sie selbst, mit großer Selbstverständlichkeit und | |
als fester Bestandteil der Dorfgemeinschaft. Ein Film ohne viele Worte, | |
aber voller Wärme, der nicht zuletzt von seiner Protagonistin lebt. | |
## Sich selbst begleiten | |
Noch deutlicher drückt die Protagonistin in „One Take Grace“ dem Film ihren | |
Stempel auf. Der Film der südafrikanischen Künstlerin Lindiwe Matshikiza, | |
der in der Sektion Envision einen Preis für seine besondere künstlerische | |
Leistung gewann, erzählt die Lebensgeschichte von Mothiba Grace Bapela. | |
Oder besser gesagt: Bapela erzählt sie selbst. Zehn Jahre lang ließ sie | |
sich in ihrem Alltag begleiten und filmte ihn teilweise mit einer um den | |
Hals gehängten Kamera selbst. | |
Wir sehen die Schwarze Frau, die aus einfachsten Verhältnissen in der | |
Provinz stammt, wie sie für weiße Familien die Toiletten putzt und sich um | |
Kinder, Enkelkinder oder die eigene Mutter kümmert, aber auch mit Mitte 40 | |
anfängt, sich als Schauspielerin auszuprobieren und zu Castings zu gehen. | |
Ein Leben voll Freude und noch mehr Leid, das einerseits einzigartig ist | |
und doch beispielhaft von Rassismus, Diskriminierung und Misogynie in | |
Südafrika erzählt, visuell wie narrativ außergewöhnlich, facettenreich und | |
sperrig umgesetzt. | |
30 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Vergangenheitsaufarbeitung-in-Litauen/!5101970 | |
## AUTOREN | |
Patrick Heidmann | |
## TAGS | |
Dokumentarfilm | |
Litauen | |
Queer cinema | |
Alltag | |
Filmfestival | |
Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk | |
Dokumentarfilm | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Förderung für Dokumentarfilme: Ergänzung zum System | |
Filmemacher*innen beklagen im Aufruf „Docs for Democracy“ eklatante | |
Defizite bei der Förderung. Eine Stiftung, die direkt Geld gibt, soll | |
helfen. | |
Online-Archiv von Dokumentarfilmen: Über Algiers Dächern | |
Das International Documentary Film Festival Amsterdam bietet ein großes und | |
spannendes Online-Angebot von Dokumentarfilmen. | |
Dokumentarfilmfestival in Amsterdam: Verbrechen und Strafe | |
Das Internationale Dokumentarfilmfestival Amsterdam blickt in die USA. Zu | |
sehen gibt es dort Mörder, Richter, Todeskandidaten und Gefängnispfarrer. |