| # taz.de -- Dokfilmfestival Amsterdam: Kino als Mittel des Überlebens | |
| > Das Internationale Dokumentarfilmfestival Amsterdam, kurz IDFA, war vom | |
| > Krieg in Nahost überschattet. Über die Filme wurde nur selten gesprochen. | |
| Bild: Szene aus „1489“, einem Film der Armenierin Shoghakat Vardanyan | |
| Das Politische, aber auch die ganz handfeste Tagespolitik sind seit jeher | |
| nicht wegzudenken aus dem Dokumentarfilm, und so ist es kein Wunder, dass | |
| das größte Dokumentarfilmfestival der Welt stets als besonders politische | |
| Veranstaltung bekannt war. | |
| Doch in diesem Jahr war das International Documentary Film Festival | |
| Amsterdam, kurz IDFA, das am Sonntag nach elf Tagen zu Ende ging, deutlich | |
| stärker vom aktuellen Weltgeschehen gezeichnet als sonst. Was in | |
| aufgeheizten Zeiten wie diesen vermutlich kaum als Überraschung durchgeht. | |
| Bereits am Eröffnungsabend stürmte ein kleines Aktivist*innen-Grüppchen die | |
| Bühne, in den Händen ein Banner mit dem israelfeindlichen (und in | |
| Deutschland inzwischen verbotenen) Spruch „From the river to the sea, | |
| Palestine will be free“, um lautstark einen Waffenstillstand im Nahen Osten | |
| zu fordern. Die Situation im Königlichen Theater Carré war relativ schnell | |
| wieder aufgelöst, doch weil es aussah, als habe der aus Syrien stammende | |
| Festivalleiter Orwa Nyrabia die Protestaktion mit Applaus bedacht, war die | |
| Aufregung groß. | |
| Nach einem offenen Brief von diversen israelischen Filmemachern | |
| veröffentlichten Nyrabia und das Festival ein Statement, in dem man sich | |
| von dem Slogan distanzierte und sich bei allen entschuldigte, die das | |
| Geschehen verletzt habe. IDFA sei ein sicherer und offener Ort für Debatten | |
| und Meinungsfreiheit, Demokratie und das Verhandeln komplexer Weltsichten. | |
| ## Distanzierendes Statement | |
| Das palästinensische Filminstitut verurteilte die Erklärung des | |
| künstlerischen Leiters prompt als pauschale und ungerechte Kriminalisierung | |
| palästinensischer Stimmen und Geschichten, worauf es eine erneute | |
| Stellungnahme von Festivalseite gab. Man erkenne den Schmerz und die | |
| Verluste sowohl auf palästinensischer als auch auf israelischer Seite in | |
| diesem andauernden Konflikt an und fordere eine Waffenruhe. | |
| Dennoch zogen in der Folge mindestens 18 nicht nur palästinensische | |
| Filmemacher*innen ihre Filme aus dem laufenden Festival zurück, in | |
| Solidarität mit der Bevölkerung in Gaza oder weil man den Umgang mit der | |
| Protestaktion bei der Auftaktveranstaltung als feige empfunden habe. Dass | |
| parallel Greta Thunberg in Amsterdam in unmittelbarer Nähe zum IDFA mit | |
| ihren jüngsten Äußerungen zum Nahostkrieg Aufsehen erregte, trug | |
| zusätzlich dazu bei, dass beim Festival in diesem Jahr selten die Filme für | |
| den meisten Gesprächsstoff sorgten. | |
| Dabei hatte das, was auf der Leinwand gezeigt wurde, nicht selten ganz | |
| unmittelbar mit den Krisen und Konflikten zu tun, die dieser Tage unsere | |
| Welt dominieren. Der Eröffnungsfilm „A Picture to Remember“ der | |
| ukrainischen Regisseurin Olga Chernykh etwa beginnt mit dem russischen | |
| Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022. | |
| ## Wieder zurückgezogen | |
| Den Abend verbrachte sie mit ihrer Mutter im Keller des Leichenschauhauses: | |
| Eigentlich wollte sie einen Film über dessen Arbeit als Pathologin drehen. | |
| Doch dem Krieg kann sich Chernykh nicht entziehen, und so ist er ihr nun | |
| Anlass für einen poetischen Filmessay, der Alltagsbeobachtungen, | |
| Archivmaterial, Familienvideos und Telefonate mit der noch immer in Donezk | |
| lebenden Großmutter nutzt, um weniger über die unmittelbare Situation in | |
| der Ukraine als über die eigene Biografie, Heimat und den Donbass zu | |
| reflektieren. | |
| Auch in „1489“, der am Ende den Hauptpreis im internationalen Wettbewerb | |
| gewann, setzt sich eine Regisseurin unmittelbar damit auseinander, welche | |
| Folgen ein Krieg auf das Leben ihrer Familie hat. Die Armenierin Shoghakat | |
| Vardanyan begann im Herbst 2020 mit ihrer Handykamera zu drehen, nicht | |
| lange nachdem in Arzach der zweite Bergkarabach-Krieg begonnen hatte und | |
| ihr jüngerer Bruder verschwunden war. Die direkten Kampfhandlungen wurden | |
| damals nach einigen Wochen beendet, doch Vardanyan filmte weiter. | |
| ## Sehr persönliche Trauer | |
| Ihr Debüt, dessen Titel sich auf die Nummer bezieht, die ihrem als | |
| verschollen geltenden Bruder im Register zugeteilt wurde, ist nun eine | |
| enorm intime, sehr berührende Beschäftigung nicht nur mit der | |
| Alltagsrealität in einer Dauerkrisenregion, sondern vor allem mit sehr | |
| persönlicher Trauer und der Greifbarkeit einer ins Leben gerissenen | |
| Leerstelle. „Das Kino als Mittel des Überlebens“, urteilte die Jury sehr | |
| treffend, „das uns erlaubt, die Dinge in den Blick zu nehmen, die wir | |
| eigentlich nicht sehen wollen.“ | |
| Der Regiepreis ging derweil an den palästinensischen Regisseur Mohamed | |
| Jabaly, der in seinem Film „Life Is Beautiful“ ebenfalls eine sehr | |
| persönliche Geschichte erzählt. 2014 war er gerade für ein kulturelles | |
| Austauschprogramm in Norwegen, als in Gaza Krieg ausbrach und die Grenzen | |
| geschlossen wurden. Über die nicht unkomplizierte Situation des | |
| Gestrandetseins in Skandinavien erzählt er nun weniger mit unmittelbarem | |
| politischem Impetus oder fundierter Analyse der Situation in seiner Heimat, | |
| sondern mit erstaunlich viel hoffnungsvollem Witz, als Zeugnis der | |
| Paradoxitäten, die das Dasein als Palästinenser mitbringt. | |
| „Ich möchte gehört werden“, sagte Jabaly gegenüber dem Guardian auf die | |
| Frage, warum nicht auch er sein Werk aus dem IDFA-Programm zurückgezogen | |
| habe. „Weil nun alles andere zerstört wird, bleiben uns doch nur noch | |
| unsere Geschichten und unsere Ausdrucksfreiheit.“ | |
| ## Genau wie die Filmbranche | |
| Neben so viel Politik ließ sich in Amsterdam allerdings auch beobachten, | |
| dass der Dokumentarfilm als Geschäftsmodell längst nach den gleichen | |
| Prinzipien funktioniert wie der Rest der Branche. Mit dem günstig gelegenen | |
| Novembertermin ist IDFA längst zum Pflichttermin geworden für all jene | |
| Produzent*innen und Filmemacher*innen, die mitmischen wollen im Rennen | |
| um die Oscars und ähnliche Preise. | |
| Filme wie „20 Days in Mariupol“ oder [1][„Kokomo City“, die anderswo | |
| schon für Aufsehen gesorgt hatten], wurden noch einmal gezeigt, die | |
| tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania rührte einmal mehr die | |
| Werbetrommel für ihren Cannes-Wettbewerbseitrag „Olfas Töchter“. Und | |
| Netflix ließ es sich einiges kosten – teils im offiziellen Programm, teils | |
| in privaten Screenings –, den mitreißenden „American Symphony“ über Mus… | |
| Jon Batiste und Roger Ross Williams’ fundierte Rassismusanalyse „Stamped | |
| From the Beginning“ als Award-Favoriten zu platzieren. | |
| 21 Nov 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Berlinale-Film-Kokomo-City/!5914248 | |
| ## AUTOREN | |
| Patrick Heidmann | |
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