# taz.de -- Grenzlandbürger über das Überschreiten: „Mir ist keine Seite f… | |
> Stephan Kleinschmidt ist im dänischen Sonderburg geboren und bekannte | |
> sich zum Deutsch-Sein. Ein Gespräch über deutsche Minderheit und | |
> Rechtsruck. | |
Bild: Stephan Kleinschmidt: Identität hängt nicht vom Image des Landes ab | |
taz: Herr Kleinschmidt, definieren Sie mal Grenze. | |
Stephan Kleinschmidt: Grenzen gibt’s viele. Aber natürlich sind die | |
nationalen, die zwischen zwei Staaten, die sichtbarsten. Hier im | |
[1][deutsch-dänischen Grenzland] ist die Grenze viele Jahre eine Barriere | |
gewesen, sie hat aber auch etwas Verbindendes. Ich bezeichne sie gern als | |
Scharnier, denn Grenzen sind dazu da, sie zu überschreiten. Das gilt auch | |
für persönliche Grenzen. | |
Sie haben den Großteil Ihres Lebens in dieser Region zwischen Dänemark und | |
Deutschland verbracht. Wie hat die Grenze Sie definiert? | |
Sie gehört für mich als Grenzlandbürger mit starker regionaler Identität | |
dazu. Ich überschreite sie ständig, bewege mich auf beiden Seiten. Da ich | |
mit zwei Staatsbürgerschaften aufgewachsen bin, ist mir keine Seite fremd. | |
Ich versuche, von beiden das Positive herauszuziehen. | |
Aufgewachsen sind Sie aber nur auf einer Seite? | |
Ja, ich bin in Sonderburg geboren und in Rinkenis aufgewachsen, als Kind | |
der Flensburger Förde: Mein Vater stammt aus Flensburg, meine Mutter aus | |
Ekensund. Ich habe den deutschen Kindergarten und die deutsche Schule | |
besucht, Abitur am Deutschen Gymnasium in Apenrade gemacht und dann, wie | |
viele junge Leute von hier, den Landesteil verlassen. Aber nach meinem | |
Marketing-Studium in Aarhus bin ich, wie es nur wenige tun, 2002 | |
zurückgekommen und lebe seither in Nordschleswig. | |
Dort sind Sie Mitglied der deutschen Minderheit und aktiv in deren | |
Vertretung, der Schleswigschen Partei. Deutschland hat nicht das coolste | |
Image auf Erden, warum bekennt sich jemand freiwillig zum Deutsch-Sein? | |
Ich halte es für verfehlt, [2][Identität vom Image eines Landes abhängig] | |
zu machen. Mir ist es in die Wiege gelegt, Mitglied der deutschen | |
Minderheit zu sein. Das hat mit der Sprache zu tun, aber auch mit dem | |
Zusammengehörigkeitsgefühl in dieser Gruppe. Außerdem gibt es weitere | |
Ebenen, die meine Identität prägen: Ich bin Teil der deutschen Minderheit | |
in Nordschleswig, Däne, Deutscher, Europäer, Bürger der globalen Welt. | |
Stimmt, die deutsche Geschichte hat einen Schatten auch auf die Minderheit | |
geworfen. Aber ich sehe, dass heute in Dänemark das Interesse an | |
Deutschland, seinen Städten, Sprache und Kultur wieder wächst. | |
Auf der Begegnungsstätte der deutschen Minderheit auf dem Knivsberg gibt es | |
einen „Ehrenhain“ für Gefallene, die sich damals freiwillig gemeldet haben | |
und bei der SS Dienst taten. Zwar sind einzelne Namen getilgt, aber so | |
richtig sieht das nicht nach Aufarbeitung aus. Wie geht die Minderheit mit | |
der Geschichte um? | |
Sicher heute selbstkritischer, als es man früher getan hat. Der „Ehrenhain“ | |
ist heute eine Gedenkstätte. Es wurde auch ein universitäres | |
Forschungsprojekt gestartet, um die Geschichte aufzuarbeiten, und die | |
NS-Zeit wird im frisch modernisierten Deutschen Museum in Sonderburg | |
behandelt. Dort wird zudem ein modernes Bild der Minderheit heute gezeigt. | |
Und was heißt deutsche Minderheit heute? Deutsche Lieder singen, deutsche | |
Wurst essen? | |
Jaja, die Deutschen tragen Trachten und die Dänen tanzen um den | |
Weihnachtsbaum... Nee, sorry, diese Reduzierung auf Essen, Trinken, Lieder | |
ist mir zu simpel. Natürlich spielt die Sprache eine Rolle und man singt | |
auch mal auf Deutsch, aber vor allem geht es um die Zusammen- und | |
Zugehörigkeit. Ansonsten sind die Mitglieder der Minderheiten Mitbürger | |
eines Staats und leben nach dessen Regeln, sie bewegen sich zwischen den | |
Kulturen und vermischen oftmals die Traditionen. Sie sind so vielfältig wie | |
die Gesellschaft insgesamt. | |
Seit 100 Jahren besteht die deutsch-dänische Grenze in der heutigen Form, | |
das Jubiläum wird in diesem Jahr auf beiden Seiten der Grenze gewürdigt – | |
was genau wird eigentlich gefeiert? | |
Das ist eine der Fragen, die jeder unterschiedlich beantwortet. In Dänemark | |
begeht man die Wiedervereinigung mit dem zuvor getrennten Landesteil, und | |
wir als Minderheit feiern Geburtstag, weil die Grenze zum Entstehen der | |
Minderheit führte. Für mich steht die Würdigung des demokratischen | |
Prozesses im Mittelpunkt, schließlich stimmten die Menschen im Grenzland | |
ab, zu welchem Staat sie gehören wollen. Das hat den Grundstein für die | |
Zusammenarbeit und das friedliche Zusammenleben in der Region gelegt. Ich | |
habe die Kritik gehört, die Deutschen würden die Wiedervereinigung nicht | |
anerkennen. Das halte ich für verfehlt. Jeder soll feiern, was ihm wichtig | |
ist. | |
In Dänemark hat es in den vergangenen Jahren einen Ruck nach rechts | |
gegeben, zu mehr Nationalstaat, mehr Abschottung. Wie geht die Minderheit | |
damit um? | |
Leider sind nationale Tendenzen in ganz Europa zu sehen. Hier im Grenzland | |
kritisieren die Minderheiten auf beiden Seiten die Verschärfungen, | |
besonders die Grenzkontrollen, schließlich ist es Teil unserer Identität, | |
ohne Kontrollen zwischen den Ländern zu wechseln. Und wir protestieren | |
gegen den [3][Zaun, den Dänemark gegen Wildschweine errichtet hat] – wir | |
sehen darin einen Akt, um nationale Interessen zu befriedigen, ohne zu | |
bedenken, was das mit den Grenzlandbürgern macht. Das gilt auch für die | |
[4][Grenzkontrollen, die 2016 zu Zeiten der Flüchtlingsströme eingeführt] | |
wurden. Inzwischen finden die Kontrollen zum Terrorschutz statt. Faktisch | |
gibt es seit 2016 [5][permanent Kontrollen], nur die Gründe wechseln. Für | |
uns, die wir hier einen gemeinsamen Kultur-, Wirtschafts- und Arbeitsraum | |
schaffen, ist das ein Schlag ins Gesicht. Wir dürfen uns davon aber nicht | |
aus der Bahn werfen lassen, sondern müssen Kurs halten und trotz Zaun und | |
Kontrollen Kooperationen suchen. Das gelingt uns auch gut. | |
Spüren Sie den Rechtsruck im Alltag? | |
Man merkt es in Debatten, in der dänischen Politik. Die [6][Rhetorik zu | |
Flüchtlingen und Grenzöffnungen ist schärfer geworden], inzwischen haben | |
auch viele Volksparteien das übernommen. Das Grundvertrauen, dass Europa | |
die großen Fragen zu Klimawandel oder Menschenrechten beantworten kann, | |
geht verloren. Aber gleichzeitig hatten wir in Sonderburg in der Hochzeit | |
der Flüchtlingsbewegung eines der größten Heime für Asylbewerber in ganz | |
Dänemark und die Akzeptanz war da. Gerade in Zeiten von Rechtsruck müssen | |
wir kommunizieren und niemanden mit seinen Sorgen allein lassen. | |
Sie arbeiten hauptberuflich in der Flensburger Verwaltung und ehrenamtlich | |
als stellvertretender Bürgermeister der Kommune Sonderburg. Das Gebiet ist | |
ähnlich groß wie Flensburg, aber dänische Kommunalpolitik macht mehr Spaß, | |
oder? | |
Naja, wenn es mir in Dänemark mehr Spaß brächte, würde ich da arbeiten. | |
Aber Kommunen in Dänemark haben andere Rechte. So sind sie etwa im | |
Bildungsbereich nicht nur Schulträger, sondern stellen auch die Lehrkräfte | |
ein. Sie können selbst Steuern bestimmen und einnehmen. Die | |
Kommunalpolitik, gerade in Sonderburg, nimmt den Raum, der ihr zusteht, | |
gern ein und kann viele eigene Akzente setzen. Es gibt langfristige Ziele | |
und Visionen, aktuell für Klimaneutralität, die über eine Wahlperiode | |
hinausreichen. | |
Und was haben Sie als Vizebürgermeister zu tun? | |
Es ist ein Ehrenamt, etwa vergleichbar mit einem deutschen | |
Stadtpräsidenten. Ich bin seit 1998 in der Schleswigschen Partei aktiv, | |
seit 2006 sitze ich im Stadtrat, seit 2018 bin ich Vizebürgermeister. Dass | |
ich beruflich bisher immer auf der deutschen Seite tätig war, hilft mir, | |
beide Systeme zu kennen und mich von beiden inspirieren zu lassen. Beide | |
Seiten haben Vor- und Nachteile. | |
Sie sind Vater eines Sohnes. Legen Sie auch ihm die Zugehörigkeit zur | |
Minderheit in die Wiege? | |
Wir haben uns bewusst entschieden, dass er in zwei Sprachen und Kulturen | |
aufwachsen soll, also ich spreche mit ihm deutsch, meine Frau spricht | |
dänisch. Seit April geht er in den deutschen Kindergarten. Ich habe die | |
Hoffnung, dass er sich dafür entscheidet, Mitglied der deutschen Minderheit | |
zu bleiben – das bleibt jedem selbst überlassen, aber ich wünsche es mir | |
für ihn. | |
5 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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