# taz.de -- Geflüchtete bangen um Schutzstatus: Anlasslos auf dem Prüfstand | |
> Das BAMF prüft bewilligte Asylanträge erneut. Betroffene sind tief | |
> verunsichert, die Linke kritisiert Ressourcenverbrauch. | |
Bild: Das BAMF beschäftigt allein 700 Beamte, um bewilligte Asylanträge erneu… | |
BERLIN taz | Alles schien geregelt, bis Maryam Tamimi Anfang des Jahres ein | |
Brief vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bekam. Mit 17 | |
Jahren war Tamimi aus ihrer Heimatstadt Damaskus nach Deutschland geflohen. | |
Ihr Asylverfahren wurde positiv entschieden, inzwischen studiert sie im 6. | |
Semester Maschinenbau. Doch nun schrieb das BAMF von einem „Widerrufs- bzw. | |
Rücknahmeverfahren“. | |
„Ich hatte solche Angst, dass sie mich nach Syrien zurückschicken“, | |
berichtet die Studentin. „Sie hatten mich doch schon alles gefragt und ich | |
hatte ihnen schon alles erzählt – was wollten sie noch von mir?“, fragte | |
sich Tamimi, die eigentlich anders heißt, aber ihren Namen aus Sorge um den | |
Aufenthaltstitel nicht öffentlich machen will. | |
Ihre Situation ist kein Einzelfall: Bereits in Hunderttausenden Fällen hat | |
das Bamf die Überprüfung von Asyl-Entscheidungen eingeleitet, die seit 2015 | |
ergangen sind. Während im Jahr 2016 noch 3.170 Widerrufsverfahren eröffnet | |
wurden, stellte das Bundesamt im Jahr 2019 mit 205.285 begonnenen Verfahren | |
seinen neuen Jahresrekord auf. Rechtsgrundlage dafür ist Paragraf 73 des | |
Asylgesetz. | |
Ein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung ist demnach möglich, wenn der | |
Fluchtgrund wegfällt, beispielsweise weil sich die Situation im | |
Herkunftsland der Betroffenen maßgeblich verbessert hat. Eine Rücknahme des | |
Schutzstatus erfolgt, wenn eine Anerkennung irrtümlich vergeben wurde, zum | |
Beispiel wegen falscher Angaben zur Person. In beiden Fällen verlieren die | |
Geflüchteten den Aufenthaltstitel. | |
## Betroffene fürchten die Retraumatisierung | |
Doch beides ist selten der Fall, wie die Antwort der Bundesregierung auf | |
eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke ergibt. Die | |
innenpolitische Sprecherin der Linken wollte wissen, wie viele Widerrufs- | |
und Rücknahmeverfahren seit Anfang 2019 eingeleitet wurden und wie häufig | |
sie dazu führten, dass der Schutzstatus aberkannt wurde. | |
Das Ergebnis: 2019 erfolgte der Widerruf in 2,7 Prozent der 170.406 | |
Entscheidungen, 2020 in 2,8 Prozent der 180.032 entschiedenen Fälle. Noch | |
geringer ist die Zahl der Rücknahmen: Ihre Quote liegt im Jahr 2019 bei | |
0,6, von Januar bis Juli 2020 bei 0,4 Prozent. Gegenüber syrischen | |
Geflüchteten wurden nur in 0,2 Prozent der Fälle Rücknahmen ausgesprochen. | |
Auch in Tamimis Fall ist alles gut ausgegangen, sie darf in Deutschland | |
bleiben. Für die Betroffenen ändern die niedrigen Aufhebungsquoten jedoch | |
nichts daran, in oft monatelanger Sorge über ihren Aufenthaltsstatus leben | |
zu müssen. Hinzu kommt die Befürchtung, bei der Befragung erneut über die | |
traumatisierende Flucht berichten zu müssen: „Ich wollte davon nicht | |
nochmal erzählen. Ich versuche selbst, das zu vergessen“, so Tamimi. | |
„Statt wahllos hunderttausendfach Widerrufsprüfungen einzuleiten, wäre es | |
völlig ausreichend, sich auf konkrete Verdachtsfälle oder reale Anlässe für | |
eine Überprüfung der Schutzbedürftigkeit zu beschränken“, sagt | |
Fragestellerin Jelpke gegenüber der taz. Die Rücknahmequote widerlege zudem | |
„endgültig die in rechten Kreisen verbreitete Behauptung, viele Geflüchtete | |
hätten sich fälschlich als,Syrer’ ausgegeben, um als Flüchtlinge anerkannt | |
zu werden“. Auch Pro Asyl fordert, keine pauschalen und anlasslosen | |
Widerrufs- und Rücknahmeverfahren durchzuführen. | |
## Mehr als 700 Beamt*innen nur für die Prüfungen | |
Dennoch hält das Innenministerium an seiner Praxis fest. Gegenüber der taz | |
erklärt eine Sprecherin, das Bamf sei gesetzlich verpflichtet zu | |
überprüfen, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme | |
der Anerkennung vorliegen. Der Personalaufwand dafür ist enorm: Mehr als | |
700 Beamt*innen befassen sich ausschließlich mit Widerrufsprüfungen. | |
„Der Pauschalverdacht gegen Flüchtlinge führt zu einer enormen | |
Ressourcenverschwendung im BAMF“, konstatiert Jelpke. Und Wiebke Judith, | |
rechtspolitische Referentin von Pro Asyl, ergänzt: „Eine Asylbehörde sollte | |
sich primär mit Asylverfahren beschäftigen, aber zur Zeit bearbeitet das | |
Bamf deutlich mehr Wiederrufsverfahren als Asylanträge“. | |
Zivilgesellschaftliche Organisationen kritisieren zudem die Art und Weise, | |
wie das Bamf über die Verbesserung der Lage im Herkunftsland entscheidet, | |
die dann im Widerruf des Schutzstatus resultieren kann. | |
Im Fall von Syrien führt die Bundesregierung beispielsweise an, dass sich | |
die Situation für Regime-nahe Personen verbessert habe, die Asyl bekamen, | |
weil sie durch syrische Oppositionsgruppen verfolgt wurden. „Das geht an | |
zwei Realitäten vorbei“, erklärt Ferdinand Dürr von der Initiative Adopt a | |
Revolution. „Grundsätzlich verdächtigt das Assad-Regime Personen, die | |
Syrien verlassen und keine Fluchtalternative in den Gebieten des Regimes | |
gesucht haben“, so Dürr. „Außerdem [1][ist Syrien weiter Kriegsgebiet], | |
auch die Bedrohung durch den islamischen Staat ist weiterhin präsent“. Fest | |
stehe: Sicher für Rückkehrer*innen sei Syrien nicht. | |
Aufschluss gibt die Kleine Anfrage zudem über den [2][vermeintlichen Bremer | |
„Bamf-Skandal“]. Nachdem zunächst von 1.200 „Asyl-Betrugsfällen“ die … | |
war, ergaben Nachprüfungen bis Mai 2020 Unregelmäßigkeiten in 150 Fällen. | |
Nach 13.168 Überprüfungen „in Bezug auf die Vorgänge in Bremen“ ist nun … | |
Ergebnis der Bundesregierung: Mit Widerrufen und Rücknahmen in insgesamt | |
5,05 Prozent der Fälle lag Bremen nur „leicht über der durchschnittlichen | |
Aufhebungsquote“ von 3,2 Prozent. Zudem stellt sie in ihrer Antwort auf die | |
Kleine Anfrage klar, dass dies „keine direkten Rückschlüsse auf etwaiges | |
Fehlverfahren“ zulasse. | |
Ob die nun ergangenen Rücknahmen vor Gericht Bestand haben werden, ist | |
ungewiss. 65 von 71 Rücknahmen wurden bereits gerichtlich kassiert, in 132 | |
Fällen ist eine Klage weiterhin anhängig. „Die ehemalige Leiterin in Bremen | |
war mit ihrer liberalen Schutzpraxis offenbar näher am Recht als die | |
inquisitorischen Scharfmacher, die mit einem schier unglaublichen Personal- | |
und Zeitaufwand in Bremen jede einzelne Entscheidung akribisch noch einmal | |
untersuchten“, resümiert Ulla Jelpke. Eine Entscheidung des Bremer | |
Landgerichts zur Zulässigkeit der Anklage gegen die ehemalige Bamf-Leiterin | |
der Bremer Außenstelle steht noch aus. | |
7 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Franziska Schindler | |
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