| # taz.de -- Gedenken an Solingen-Morde: German Angst | |
| > Mevlüde Genç hat gelehrt, dass Hass als Reaktion auf Hass keine Lösung | |
| > ist. Im politischen Alltag findet sich aber weiter das Spiel mit | |
| > Stereotypen. | |
| Bild: Solingen, 29. Mai 2016: Mevlüde Genç am 23. Jahrestag des Brandanschlags | |
| Diese Woche gedachten geschichtsbewusste Bürgerinnen und Bürger der | |
| Bundesrepublik der fünf Menschen, die vor 30 Jahren rechtsradikalen | |
| Anschlägen zum Opfer fielen: Hülya Genç, Saime Genç, Hatice Genç, Gürsün | |
| İnce und Gülüstan Öztürk. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nannte | |
| die Ereignisse „Terror“. Und: „Dieser rechte Terror [1][ist verantwortlich | |
| für die Toten in Solingen].“ | |
| Wichtiger als die Worte aller Präsidenten in dieser Sache waren für mich | |
| immer die Worte von [2][Mevlüde Genç, hinterbliebene Mutter dreier Kinder], | |
| die nicht einmal Zeit zu trauern hatte: „In der Nacht habe ich geweint. | |
| Aber am Tag habe ich meinen überlebenden Kindern ins Gesicht lächeln | |
| müssen, um dafür zu sorgen, dass der Hass nicht Eingang findet in ihre | |
| Herzen.“ | |
| Bis heute halte ich bei diesem Satz die Luft an. Wichtiger als ihre Wut und | |
| ihre Trauer war es, dass ihre Kinder nicht von demselben Hass erfüllt | |
| werden wie die Mörder ihrer toten Kinder. Versöhnung war ihre lebenslange | |
| Botschaft: „Seid vernünftig. Weder Geschrei noch Bösartigkeit haben einen | |
| Sinn. […] Nur wenn sich alle gut verstehen und mit Toleranz begegnen, kann | |
| der Mensch ein glückliches Leben leben.“ Mevlüde Genc lebte „when they go | |
| low, we go high“ – lange vor Michelle Obama. Auch die Familie von George | |
| Floyd forderte von den Menschen, die sich gegen Rassismus einsetzen, für | |
| ihre Community zu arbeiten, statt diese mit ihrer – wenngleich gerechten – | |
| Wut zu zersetzen. | |
| Die Hinterbliebenen und ihr Anspruch an uns Mithinterbliebene im | |
| gesellschaftlichen Sinn sollten unser Kompass sein: Menschenrechte | |
| einfordern, Behörden zur Aufklärung verpflichten, wo sie Menschen wie | |
| Menschen zweiter Klasse behandeln, aber den Hass nicht einsickern lassen in | |
| den Körper, das Geschrei in sich drosseln, bis man sein Anliegen so | |
| vorbringen kann, dass man einander hört. Mevlüde Gençs Wunsch, ihre Kinder | |
| vor dem Hass in sich zu schützen, war auch der Wunsch, dass die deutsche | |
| Gesellschaft sich nicht in ihrem Hass verlieren möge. Weder jene, die gute | |
| Gründe hätten zu hassen, noch jene, die sich für ihre Menschenfeindlichkeit | |
| die schlechten Gründe selbst liefern. | |
| Nach solchen Gedenkfeiern die Frage: Was haben wir wirklich gelernt? | |
| Verdammt sich die deutsche Gesellschaft selbst dazu, mit diesem ewigen Hass | |
| umgehen zu müssen? Seit einigen Jahren wird der Kampf auch in deutschen | |
| Parlamenten gekämpft, nichts von dem Erinnern hat uns immunisiert. Es | |
| diskutieren gerade wieder viele – oder besser schreien und streiten –, wie | |
| sich die hohen Umfragewerte der AfD eher erklären lassen (aus sich selbst | |
| heraus scheint das wohl für die meisten nicht begründbar zu sein). | |
| Die einen sehen in der CDU/CSU und ihrem postmerkelschen Spiel mit dem | |
| rechten Rand den Dammbruch: Hier normalisiert eine Partei der Mitte den | |
| Tabubruch als Taktik: etwa wenn [3][Friedrich Merz bei ukrainischen | |
| Kriegsflüchtlingen von „Sozialtourismus“] spricht und erst nach | |
| öffentlicher Empörung zurückrudert. Die Silvesterkrawalle in Berlin und | |
| eine unsägliche Berliner Wahlkampfdebatte im Anschluss, die geprägt war von | |
| rassistischen Klischees, die ihren Teil dazu beitrug, Kai Wegner von der | |
| CDU das Bürgermeisteramt zu sichern. | |
| In Deutschland lassen sich mit rassistischen Parolen immer noch ein paar | |
| Prozentpunkte mehr holen, zumal in schwierigen Zeiten. Die CDU/CSU muss es | |
| schaffen, das Konservative in der Mitte zu halten, sie muss den Rand nach | |
| rechts schließen, eindeutige Botschaften senden, wo demokratischer Boden | |
| verlassen wird und Menschenfeindlichkeit beginnt. Das musste Markus Söder | |
| in Bayern schmerzhaft lernen; es wäre dumm, wenn Merz in diesem Fall nichts | |
| vom Bayernkönig Söder lernt. Söders Kampagne, mit der er damals sowohl | |
| Merkel als auch die humanitären Helfer der Asylsuchenden angriff, zahlte | |
| sich nur für den rechten Rand aus, nicht für ihn. | |
| Auch die Grünen tragen ihren Teil bei, weil sie als selbsterklärte Klima- | |
| und Zukunftspartei die German Angst nicht mitdenkt. Große Teile der | |
| Deutschen haben Angst, zu kurz zu kommen. Manchmal wirkt das lächerlich, in | |
| manchen Bereichen jedoch lässt sich die Prekarisierung bis in die Mitte der | |
| Gesellschaft belegen. | |
| ## Autoritärer Kapitalismus | |
| Doch es ist momentan nicht nur die German Angst; auch in Spanien verlor die | |
| sozialistische Partei bei den Kommunalwahlen, sodass der spanische | |
| Ministerpräsident Pedro Sanchez nun Neuwahlen ansetzt. Linke machen oft den | |
| Fehler, in Zeiten der Macht auf eine Art durchzuregieren, dass sie | |
| schneller abgewählt werden, als sie Wandel bringen können. In Spanien | |
| wartet Isabel Diaz Ayuso von der Konservativen Volkspartei auf ihre Chance, | |
| manche nennen sie den spanischen Trump. | |
| In Deutschland stehen wir in solchen schwierigen Zeiten stets vor der | |
| Gefahr, dass sich politische Kräfte formieren, die Wähler mit geschlossenem | |
| rechtsextremem Weltbild mobilisieren, die von dem Soziologen Wilhelm | |
| Heitmeyer immerhin auf 15 Prozent der Bevölkerung beziffert werden. | |
| Heitmeyer beschreibt den „autoritären Kapitalismus“, der sich – stark | |
| verkürzt – der Menschen bedient und kaum Sicherheit für sie herstellt. Wenn | |
| historisch gewachsene Parteien Vertrauen nicht mehr herzustellen vermögen, | |
| braucht es wohl neue Parteien, braucht es Ausgrenzung, damit es zumindest | |
| uns wieder gutgeht, schließen daraus viele Bürgerinnen und Bürger. | |
| Natürlich kann man jetzt auf diese Leute einprügeln und sie auslachen, bis | |
| sie nach Trotzwahlen noch bedrohlicher werden. Oder man nimmt den Auftrag | |
| von Frau Genç ernst, dass wir uns gegen den Hass einsetzen müssen, gegen | |
| Rassismus, aber auch versuchen sollten, jenseits von Geschrei, Wut und | |
| Bösartigkeit für ein Land zu kämpfen, in dem unterschiedliche Menschen auf | |
| unterschiedliche Arten glücklich sein können. Durch Anschreien, | |
| Fingerzeigen und Besserwissen gelingt das eher nicht. | |
| 31 May 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jagoda Marinić | |
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