| # taz.de -- Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Die Archäologin des Kommu… | |
| > Die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch gibt den menschlichen Stimmen in | |
| > ihren Büchern eine Bühne. In ihrer Heimat muss sie mit zahlreichen | |
| > Schikanen leben. | |
| Bild: Die Autorin Swetlana Alexijewitsch in ihrer Wohnung in Minsk. | |
| BERLIN taz | „Dass die weißrussische Staatsmacht so erbarmungslos | |
| vorgegangen ist, hat mich total schockiert. Ich und meine Freunde, wir | |
| hätten uns niemals vorstellen können, dass das, was wir bei Alexander | |
| Solschenizyn im ’Archipel Gulag‘ gelesen hatten, nach der Perestroika und | |
| dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch einmal Realität werden könnte “, | |
| sagt Swetlana Alexijewitsch. | |
| Das Treffen mit der weißrussischen Schriftstellerin fand im Januar 2011 in | |
| einer Berliner Wohnung statt. Als Stipendiatin des Künstlerprogramms des | |
| deutschen Akademischen Austauschdienstes war die heute 65-Jährige, die nach | |
| elfjährigem Exil heute wieder in ihrer Heimatstadt Minsk lebt, zu einem | |
| Arbeitsaufenthalt nach Deutschland gekommen. Bei jedem ihrer Sätze war | |
| spürbar, dass Alexijewitsch noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse am | |
| 19. Dezember 2010 in Minsk stand, die sie hautnah miterlebt hatte. | |
| An diesem Tag waren die Weißrussen aufgerufen, einen neuen Präsidenten zu | |
| wählen. Die Zulassung oppositioneller Kandidaten hatte Hoffnungen auf eine | |
| Liberalisierung genährt. Doch diese Hoffnungen wurden bereits am Abend des | |
| 19. Dezember zerschlagen, als Präsident Alexander Lukaschenko | |
| Massenproteste gegen den Wahlausgang zusammenknüppeln und einige seiner | |
| politischen Widersacher ins Gefängnis werfen ließ. „Dieser 19. Dezember | |
| wird ein großes Trauma bleiben“, sagt Swetlana Alexijewitsch. | |
| Traumata, vor allem ausgelöst durch Erlebnisse während des Krieges, | |
| gebrochene Biografien, geheime Sehnsüchte – die großen und kleinen | |
| Katastrophen im Alltag des Homo sovieticus sind die Themen, die | |
| Alexijewitsch seit über 30 Jahren umtreiben. | |
| Oder wie es der Historiker Karl Schlögel in seiner Laudatio auf die | |
| Gewinnerin des diesjährigen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am | |
| Sonntag in Frankfurt formulierte: Als Archäologin der kommunistischen | |
| Lebenswelt „scheint ihre ganze Anstrengung dahin zu gehen, jenen ihre | |
| Stimme zu leihen, die bisher keine Chance hatten gehört zu werden. […] Der | |
| Mensch ist zurück auf der von Menschen leergefegten Bühne der Geschichte.“ | |
| ## „Das Genre menschlicher Stimmen“ | |
| Geboren wird Swetlana Alexijewitsch am 31. Mai 1948 im westukrainischen | |
| Stanislaw (heute Iwano-Frankiwsk) als Tochter einer Ukrainerin und eines | |
| Weißrussen. Nach dem Ende des Militärdienstes ihres Vaters zieht die | |
| Familie nach Weißrussland. Nach dem Abschluss eines Journalistikstudiums an | |
| der Staatlichen Universität in Minsk 1972 arbeitet sie für die Land-Zeitung | |
| in Minsk sowie das Literaturmagazin Neman. | |
| In dieser Zeit versucht sie sich an Genres wie Kurzgeschichten, Essays und | |
| Reportagen. Und sie entwickelt eine Methode, die ihr die größtmögliche | |
| Annäherung an das „wahre Leben“ erlaubt. „Ich habe das Genre menschlicher | |
| Stimmen gewählt“, schreibt sie auf ihrer Homepage. „Meine Bücher erspähe | |
| und erlausche ich auf den Straßen und am Fenster. Reale Menschen erzählen | |
| von den großen Ereignissen ihrer Zeit – vom Krieg, dem Zusammenbruch des | |
| sozialistischen Imperiums, Tschernobyl. Das alles in seiner Gesamtheit | |
| ergibt die Geschichte des Landes.“ | |
| Die Methode, Einzelschicksale literarisch zu einer Chronik der Sowjetunion | |
| und ihrer Nachfolgestaaten zu verdichten, wendet Alexijewitsch erstmals in | |
| ihrem Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ an, das sie 1983 | |
| vollendet. Darin dokumentiert sie die Erlebnisse von Soldatinnen, | |
| Partisaninnen und Zivilangestellten während und nach dem Zweiten Weltkrieg. | |
| Wegen dieses Buchs, das erst 1985 mit Beginn der Perestroika erscheinen | |
| kann, wird Alexijewitsch angeklagt, die Ehre des großen Vaterländischen | |
| Krieges beschmutzt zu haben. | |
| ## Repressionen im Heimatland | |
| Das Tauwetter unter Michail Gorbatschow ermöglicht es Alexijewitsch freier | |
| zu arbeiten. In „Zinkjungen“ (1989) kommen Veteranen aus dem sowjetischen | |
| Krieg gegen Afghanistan sowie Mütter gefallener Soldaten zu Wort. Auch | |
| dieses Werk bringt Alexijewitsch mehrere Gerichtsverfahren in Minsk ein. | |
| 1994 kommt in Weißrussland Alexander Lukaschenko an die Macht. Das hat auch | |
| direkte Konsequenzen für Swetlana Alexijewitsch. Ihr nächstes Werk, | |
| „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“, aus dem Jahr 1997 – ein | |
| erschütterndes Dokument über das Leiden und die Tragödie derer, die direkt | |
| von der Reaktorkatastrophe im April 1986 in der Ukraine betroffen waren –, | |
| kann in ihrem Heimatland nicht mehr erscheinen. | |
| Auch gegen Alexijewitsch persönlich verstärken sich die Repressionen. Sie | |
| wird beschuldigt, für die CIA zu arbeiten. Ihr Telefon wird abgehört, sie | |
| darf nicht mehr öffentlich auftreten. Mit Unterstützung des Netzwerks | |
| International Cities of Refuge Network (ICORN) geht sie 2000 für einige | |
| Jahre nach Paris – der Beginn eines elfjährigen Exils. Heute lebt | |
| Alexijewitsch wieder in Minsk. Nur dort könne sie Material für ihre Bücher | |
| sammeln, wie sie einmal sagte. | |
| Nach ihrem jüngsten Werk, „Secondhand-Zeit“, das im vergangenen September | |
| erschien und von den postsowjetischen Wirren nach dem Zusammenbruch der | |
| Sowjetunion handelt, hat die Schriftstellerin bereits wieder Pläne für ein | |
| neues Buch. „Hundert Erzählungen über die Liebe“ soll es heißen. | |
| 13 Oct 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Oertel | |
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