# taz.de -- Fragen und Antworten zu Omikron: Wie hoch wird die Wand? | |
> In Spanien, Italien oder Frankreich bestimmt Omikron das | |
> Infektionsgeschehen. Nun geht es auch hierzulande richtig los. | |
Bild: Großbritannien war als erstes Land in Europa von der Omikron-Variante be… | |
## 1. Täglich 100.000, 200.000, 300.000 Infizierte – wie hoch werden die | |
Zahlen eigentlich noch steigen? | |
92.223 Neuinfektionen meldete das Robert Koch-Institut (RKI) binnen 24 | |
Stunden am Freitag, die 7-Tage-Inzidenz stieg auf 470,6. Und ein Ende des | |
Anstiegs ist nicht absehbar. Das wöchentliche Wachstum liegt jetzt schon | |
seit einer Woche beständig bei [1][über 50, manchmal gar über 60 Prozent]. | |
Schon in der kommenden Woche dürften es 100.000 Infektionen sein, in zwei | |
Wochen 160.000 – im Schnitt wohlgemerkt. An einzelnen Tagen würden die | |
Werte noch deutlich höher liegen. Aber geht es so weiter? Flacht der | |
Anstieg ab? Oder werden wir wie aktuell in Frankreich bald 300.000 | |
Infektionen sehen? | |
„Wir wissen nicht genau, was passieren wird“, antwortet mit großer | |
Ehrlichkeit Helmut Küchenhoff, Professor am Institut für Statistik der | |
Ludwig Maximilians Universität München, dessen [2][COVID-19 Data Analysis | |
Group] die Coronazahlen genauestens analysiert. Ein Blick in andere Länder | |
zeigt: In Deutschland verläuft die Ausbreitung bislang langsamer, weil | |
einige Schutzmaßmahmen noch gelten, die in anderen Ländern aufgehoben | |
wurden. In Frankreich liegt die Inzidenz aktuell bei 4.400, also fast | |
zehnmal höher als hierzulande, in Dänemark bei 3.600, in den USA bei 2.400. | |
Aufschlussreicher sind die Zahlen aus Südafrika, wo Omikron entdeckt wurde, | |
und aus Großbritannien, das als erstes Land in Europa betroffen war. | |
In beiden Ländern stieg die Fallzahl exakt einen Monat lang fast | |
explosionsartig an, stagnierte dann ein paar Tage und begann schließlich | |
langsam zu sinken. Doch während sich bei den Briten die Inzidenz nur | |
vervierfacht hat, kletterte sie in Südafrika um das 70-Fache. In den USA | |
und in Frankreich hat sich die Inzidenz etwa versechsfacht und steigt | |
weiter. Eine Versechsfachung von Ende Dezember bis Ende Januar würde | |
ebenfalls in etwa 160.000 Fälle im Tagesschnitt bedeuten. Allerdings ist es | |
fraglich, ob dieser Wert hierzulande überhaupt gemessen werden kann, da er | |
die vergleichsweise geringe Kapazität der Testlabore überschreitet. | |
## 2. Eine Tausender-Inzidenz hätte vor ein paar Wochen noch die | |
Katastrophe bedeutet. Was genau ist jetzt anders? | |
Wer die Schwere des Pandemieverlaufs unter Omikron begreifen will, muss | |
zwangsläufig auf andere Daten als die Infektionen zurückgreifen. | |
Statistiker Küchenhoff hält die Zahl der Krankenhausneuaufnahmen [3][für | |
den besten Indikator]. Und die lässt sogar ein wenig hoffen. „Es gibt | |
deutliche Hinweise sowohl aus internationalen Studien als auch aus unseren | |
ersten Analysen von Daten aus Deutschland, dass die Infektionen mit Omikron | |
deutlich milder verlaufen als bei früheren Varianten.“ | |
Das zeigen auch Zahlen des RKI. Demnach mussten im Herbst rund 6 Prozent | |
aller Infizierten im Krankenhaus behandelt werden. Bei allen vom RKI | |
analysierten Omikron-Fällen sind es bisher etwas weniger als ein Prozent – | |
also sechsmal weniger als bisher. Die Zahl der Schwersterkrankten, die auf | |
Intensivstationen behandelt werden müssen, ist seit Wochen sogar | |
kontinuierlich gesunken. Selbst in den aktuell am schwersten von Omikron | |
betroffenen Bundesländern Bremen, Berlin und Schleswig-Holstein ist bisher | |
kein oder allenfalls ein kleiner Anstieg zu beobachten. | |
Es gibt derzeit ein offenes Rennen zwischen Ansteckungs- und | |
Hospitalisierungsrate. Versechsfacht sich erste, während zweitere um den | |
Faktor Sechs sinkt, bliebe die Belastungen der Kliniken unverändert. Sie | |
wäre wohl zu bewältigen. Sollte sich das Verhältnis dieser beiden Faktoren | |
aber verändern, werden entweder „Danke Omikron“-T-Shirts der | |
Verkaufsschlager im Frühling, weil die Kliniken entlastet würden. Oder wir | |
haben ein echtes Problem. | |
## 3. Omikron ist also weniger gefährlich – was bedeutet das fürs | |
Gesundheitssystem? | |
Die Omikron-Variante macht zwar seltener schwer krank. Aber weil sie | |
deutlich ansteckender ist und auch bereits Geimpfte sich infizieren können, | |
erreichen die Inzidenzen ungeahnte Spitzenwerte. Für das Gesundheitssystem | |
sei diese fünfte Welle nicht mit den vorherigen vergleichbar, [4][sagt der | |
Berliner Intensivmediziner Jörg Weimann], der ein Netzwerk von Berliner und | |
Brandenburger Intensivmediziner:innen koordiniert, die wöchentlich | |
über die Coronalage in den Kliniken beraten. Was Weimann meint: Die | |
Krankenhäuser erwarten jetzt gleichzeitig steigende Patientenzahlen, | |
diesmal vor allem auf den Normalstationen, und einen hohen Ausfall beim | |
Personal – durch eigene Infektion oder weil die Kinder nicht in Kita oder | |
Schule können. | |
Nach zwei Jahren Pandemie gebe es gerade ohnehin weniger Pflegekräfte. Und | |
die, die noch da sind: „Da kann ja keiner mehr“. Eine Überlastung ist daher | |
schneller erreicht als noch vor einem Jahr. Bei den bisherigen Wellen kam | |
in Fällen der Überlastung Hilfe aus anderen Regionen oder Bundesländern. | |
Wenn sich Omikron aber so schnell verbreitet, dass das Gesundheitssystem | |
bundesweit in ähnlichem Maß von Ausfällen betroffen ist, dann sieht Weimann | |
auch die gegenseitige Hilfe gefährdet. | |
Noch aber sind die Patient*innenzahlen sowohl auf den Normalstationen | |
als auch auf den Intensivstationen deutlich von den Spitzenwerten | |
vorangegangener Wellen entfernt. Ob sich die Situation in den | |
Krankenhäusern trotz bestehender Maßnahmen wie Maskenpflicht und | |
Kontaktbeschränkungen so kritisch entwickelt wie teilweise in anderen | |
europäischen Ländern, wird sich in den kommenden zwei bis drei Wochen | |
zeigen, schätzt Intensivmediziner Weimann. | |
## 4. Kann ich mich überhaupt noch wirkungsvoll schützen? | |
Ja, das kann ich. Auch wenn die Impfstoffe weniger vor Omikron-Ansteckung | |
schützen als vor anderen Virusvarianten wie Delta. Die Impfstoffe wurden | |
auf eine bestimmte Sequenz des Spike-Proteins entwickelt, das sich auf der | |
Virusoberfläche befindet. Bei Omikron ist das Spike-Protein jedoch | |
verändert. Dadurch wird diese Virusvariante vom Immunsystem nicht mehr so | |
gut erkannt. Hinzu kommt, dass bei Omikron offensichtlich weniger Viren für | |
eine Infektion ausreichen und es daher ansteckender ist. | |
Vor schwerer Erkrankung, also einem Verlauf mit Krankenhauseinweisung, | |
schützen die Impfstoffe aber auch weiterhin. Wie aus einer Analyse der | |
britischen Gesundheitsbehörde UKHSA hervorgeht, liegt der Schutz vor | |
schwerer Erkrankung bis sechs Monate nach der zweiten Impfung noch immer | |
bei etwa 72 Prozent, nach dem Booster sogar bei rund 88 Prozent. Diese | |
Werte decken sich mit aktuellen Auswertungen aus dem Intensivregister des | |
Robert Koch-Instituts und der DIVI, der Deutschen Interdisziplinären | |
Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. | |
Ihr Ergebnis: Fast zwei Drittel der seit Mitte Dezember aufgenommenen | |
Covid-19-Intensivpatienten waren ungeimpft, ein Viertel war doppelt | |
geimpft. Der Anteil der Intensivpatienten mit Booster-Impfung lag bei unter | |
sechs Prozent. Und auch das Risiko für Omikron-Ansteckung verringert sich | |
zumindest für die erste Zeit nach der Impfung deutlich, weil wieder mehr | |
Antikörper gebildet werden. Der Virologe Christian Drosten von der Berliner | |
Charité verweist auf dänische Studiendaten: Der Booster mache den | |
Unterschied. Impfen bleibt also das entscheidende Mittel. | |
## 5. Ich bin geimpft, geboostert und/oder genesen. Muss ich mich | |
angesichts des milden Verlaufs überhaupt noch schützen? | |
Ja, das ist anzuraten. Denn „milde“ Verläufe heißt nur, dass keine | |
zusätzliche Beatmung nötig ist. Unangenehm kann Covid-19 für viele Menschen | |
dennoch werden, zumal die Gefahr von Long Covid, also langwierige womöglich | |
dauerhafte Schlappheit auch bei milden Verläufen vorhanden ist. Führende | |
Virologen weisen zwar daraufhin, dass früher oder später jede und jeder | |
angesteckt wird. Dennoch mache es einen Unterschied, ob innerhalb kurzer | |
Zeit sehr viele erkrankten, oder ob sich die Erkrankungen über einen | |
längeren Zeitraum strecken (Flatten the curve). | |
In den USA, aber auch in Großbritannien und einigen anderen Ländern, sind | |
die Krankenstationen so überfüllt mit Covid-19-Patient*innen, dass andere | |
Erkrankte nicht ausreichend oder gar nicht behandelt werden können. Auch | |
die kritische Infrastruktur, also Polizei, Feuerwehr, Logistikunternehmen | |
und andere verzeichnen hohe Krankheitsausfälle. Daher ist zu empfehlen, | |
eine Ansteckung so lange wie möglich zu vermeiden, bis die Kliniken wieder | |
normal laufen, es genug Medikamente gibt und Long Covid besser verstanden | |
und behandelt werden kann. | |
## 6. Und wie ist das jetzt mit den Quarantäneregeln? | |
Wir haben eine Variante, die viel ansteckender ist, und dann werden | |
Quarantänen verkürzt?! Was auf den ersten Blick paradox anmutet, könnte | |
sich als hilfreiches Mittel erweisen, um einer Überlastung der kritischen | |
Infrastruktur zuvorzukommen. Studiendaten lassen vermuten, dass für eine | |
Infektion mit der Omikron-Variante zwar weniger Virusmaterial ausreicht als | |
bei Delta. Zugleich gibt es Anhaltspunkte, dass die Infizierten schneller | |
ansteckend, aber auch schneller nicht mehr ansteckend sind. Zugleich sind | |
frisch Geimpfte oder Genesene besser geschützt. | |
Vor diesem Hintergrund sind die [5][aktuellen Quarantäneregeln] zu | |
betrachten: Demnach müssen Menschen, die geboostert, erst seit weniger als | |
drei Monaten doppelt geimpft oder genesen sind, gar nicht mehr in | |
Quarantäne, wenn sie Kontakt zu einer infizierten Person hatten. Alle | |
anderen können sich nach sieben Tagen „freitesten“, Kinder und Jugendliche | |
bereits nach fünf Tagen. Beschäftigte in Krankenhäusern und Pflegeheimen | |
benötigen dazu zwingend einen PCR-Test und müssen seit mindestens 48 | |
Stunden ohne Symptome sein, bevor sie wieder arbeiten können. Ohne Test | |
gilt die Quarantäne 10 statt bisher 14 Tage. Auch die Isolationszeit | |
nachweislich Infizierter wurde entsprechend verkürzt. | |
## 7. In Spanien und einigen anderen Ländern scheint Omikron nun einfach | |
durchzurauschen – auch eine Strategie? | |
Ja, und in Großbritannien geht nach einem sprunghaften Anstieg die Kurve | |
nach unten. Dieser Peak ist in Deutschland noch nicht erreicht. Drosten | |
warnt zudem, dass es hierzulande noch immer deutlich zu viele Ungeimpfte | |
gibt, besonders auch in der Gruppe der Über-60-Jährigen. So lange das noch | |
der Fall ist, können wir uns noch nicht entspannen. | |
14 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/gereonas/status/1481901755633999875 | |
[2] https://www.covid19.statistik.uni-muenchen.de/ | |
[3] https://covid19nowcasthub.de/index.html | |
[4] /Berliner-Kliniken-in-der-Omikron-Welle/!5825306 | |
[5] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/corona-diese-rege… | |
## AUTOREN | |
Gereon Asmuth | |
Manuela Heim | |
Felix Lee | |
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