| # taz.de -- Forschungsprojekt zu DDR-Unrecht: Leid, das bis heute anhält | |
| > Welche Langzeitfolgen hatten Überwachung, Verhöre und Zersetzung in der | |
| > DDR? Ein Forschungsverbund will dies nun untersuchen. | |
| Bild: Die Gedenkstätte „Roter Ochse“, in der die Stasi Verhöre durchführ… | |
| Leipzig taz | Noch heute – 31 Jahre nach dem Ende der DDR – leiden viele | |
| Menschen unter dem erlebten [1][SED-Unrecht], psychisch wie körperlich. Ein | |
| Forschungsverbund der Universitäten Magdeburg, Jena, Leipzig und Rostock | |
| untersucht diese gesundheitlichen Langzeitfolgen nun drei Jahre lang – mit | |
| dem Ziel, die Behandlung und [2][Lebenssituation von SED-Opfern] zu | |
| verbessern. | |
| „Überwachung, Verhöre und Zersetzung, das alles wirkt bei Betroffenen auch | |
| heute noch nach“, sagt Jörg Frommer, Sprecher des Forschungsverbundes und | |
| Facharzt für Psychiatrie. Er forscht seit 25 Jahren an der Uni Magdeburg zu | |
| gesundheitlichen Folgen von SED-Unrecht. | |
| Betroffene litten zum Beispiel unter posttraumatischen Belastungsstörungen, | |
| Depressionen oder Angststörungen, sagt der Arzt. Oftmals kämen körperliche | |
| Beschwerden hinzu. „Das Spektrum reicht von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, | |
| degenerativen Erkrankungen des Bewegungsapparats, Schmerzstörungen und | |
| endokrinen Störungen bis hin zu Krebserkrankungen.“ Bei vielen Betroffenen | |
| handele es sich nicht um einzelne Gesundheitsschäden, sondern um „komplexe | |
| Mehrfacherkrankungen mit inzwischen jahrzehntelangem Verlauf“. | |
| ## „Gravierende Wissenslücken“ | |
| Frommer kritisiert die medizinische Versorgung von SED-Opfern. „Es mangelt | |
| an Wissen darüber, dass das durch die Betroffenen Erlebte real war und auch | |
| heute noch Auswirkungen nach sich zieht.“ Insbesondere junge | |
| Mediziner*innen, Pfleger*innen oder Sozialarbeiter*innen wiesen | |
| „gravierende Wissenslücken“ hinsichtlich der DDR-Geschichte auf. „So ble… | |
| zum Beispiel unverständlich, warum ein SED-Opfer aufgrund seiner | |
| Erfahrungen nicht in ein Pflegeheim möchte“, so Frommer. | |
| Das länderübergreifende Forschungsprojekt umfasst zwölf Teilprojekte. Die | |
| Universitäten Magdeburg, Jena, Leipzig und Rostock übernehmen jeweils drei | |
| Projekte. | |
| ## Verseuchte Prophylaxe-Impfungen | |
| Die Universität Magdeburg untersucht die Langzeitfolgen der mit | |
| Hepatitis-C-Viren verseuchten Anti-D-Prophylaxe-Impfung, die Ende der | |
| Siebzigerjahre in der DDR knapp 7.000 Frauen verabreicht wurde. Die | |
| Impfungen bekommen in der Regel Mütter, deren Rhesusfaktor – anders als bei | |
| ihrem Kind – negativ ist. Der Rhesusfaktor wird immer mit der Blutgruppe | |
| angegeben. Die meisten Menschen in Deutschland sind zum Beispiel A positiv | |
| oder 0 positiv. Die Impfung verhindert, dass sich im Blut der | |
| rhesus-negativen Mutter Antikörper gegen die Blutzellen des | |
| rhesus-positiven Ungeborenen bilden, was schwere gesundheitliche Folgen für | |
| das Kind haben kann. | |
| Diese Impfung war in der DDR gesetzlich vorgeschrieben. Obwohl 1978 der | |
| Vedacht aufkam, dass Chargen mit Hepatitis-C-Viren kontaminiert sind, | |
| wurden sie Frauen bis 1979 verabreicht. Die betroffenen Mütter erkrankten | |
| und wurden in Kliniken zwangseingewiesen. Sie waren teils monatelang von | |
| ihren Familien getrennt. „Bis heute leiden viele dieser Betroffenen an | |
| körperlichen sowie psychischen Folgeschäden und kämpfen um | |
| gesellschaftliche Anerkennung“, heißt es in einer Pressemitteilung des | |
| Forschungsverbundes. Geplant sind 20 Interviews mit betroffenen Frauen. | |
| In zwei anderen Projekten erforscht die Uni Magdeburg, wie die Beratung von | |
| SED-Opfern und die Begutachtungspraxis in Entschädigungsverfahren | |
| verbessert werden können. In der Pressemitteilung heißt es, dass Betroffene | |
| in der Begutachtungspraxis „oft eine Wiederholung des in der DDR erlebten | |
| Unrechts“ erlebten. Manche Gutachter*innen seien nicht ausreichend | |
| qualifiziert – was häufig dazu führe, dass die gesundheitlichen | |
| Folgeschäden der Betroffenen nicht anerkannt würden. | |
| ## Langzeitfolgen durch Doping | |
| Die Universität Rostock untersucht wiederum, welche gesundheitlichen | |
| Langzeitfolgen das [3][staatliche Doping der DDR] bis heute verursacht. Die | |
| Wissenschaftler*innen befragen hierzu Sportler*innen, denen damals | |
| Dopingmittel verabreicht wurden. Bei der Befragung geht es um psychische | |
| und körperlichen Erkrankungen sowie um die psychosoziale Entwicklung der | |
| Betroffenen. Ziel ist es, Beratungs- und Behandlungskonzepte speziell für | |
| von der DDR gedopte Sportler*innen zu entwickeln. | |
| Das zweite Projekt der Uni Rostock erforscht die körperlichen | |
| Langzeitfolgen von SED-Opfern. „Während die Auswirkungen politischer | |
| Verfolgung und anderer SED-Unrechtsformen auf die psychische Gesundheit | |
| vergleichsweise gut untersucht sind, stehen belastbare Studien zu den | |
| Zusammenhängen zwischen SED-Unrecht und körperlichen Langzeitfolgen aus“, | |
| heißt es in der Mitteilung. Geplant ist die medizinische Untersuchung von | |
| 200 Betroffenen. | |
| In dem dritten Projekt geht es um die Spätfolgen von Zersetzungsmaßnahmen | |
| der Stasi. Die sogenannte „Zersetzung“ war eine psychologische Methode des | |
| Ministeriums für Staatssicherheit, die Panik, Verwirrung und Angst auslösen | |
| sollte. Die Wissenschaftler*innen der Uni Rostock wollen 500 Menschen, | |
| die in der DDR Opfer von Zersetzung wurden, zu ihrer psychischen und | |
| körperlichen Gesundheit befragen. Die Ergebnisse vergleichen sie am Ende | |
| mit dem Gesundheitszustand der Allgemeinbevölkerung. | |
| ## SED-Unrechtsopfer werden stigmatisiert | |
| Die Universität Leipzig beschäftigt sich mit der anhaltenden | |
| Stigmatisierung von SED-Unrechtsopfern, zum Beispiel von ehemaligen | |
| Häftlingen oder Heimkindern. Es geht zum einen um die Perspektive der | |
| Betroffenen, also darum, inwiefern sie nach dem Ende der DDR | |
| Stigmatisierung erlebt und wie sich diese Erfahrungen auf ihr Leben | |
| ausgewirkt haben. Zum anderen beschäftigen sich die | |
| Wissenschaftler*innen mit Vorurteilen bei Therapeut*innen, | |
| Ärzt*innen der Mitarbeiter*innen in Beratungsstellen. | |
| In einem dritten Projekt gehen die Forscher*innen der Frage nach, welche | |
| Haltungen es gegenüber Opfern von SED-Unrecht in der Bevölkerung gibt – und | |
| wie sich diese Haltungen zwischen Ost- und Westdeutschland unterscheiden. | |
| „Ziel der drei Projekte ist es, die Öffentlichkeit und das Hilfesystem für | |
| Stigmatisierung zu sensibilisieren, praxisrelevante Maßnahmen abzuleiten | |
| und so zu einer Entstigmatisierung der Betroffenen beizutragen“, sagt der | |
| Leipziger Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Georg Schomerus. | |
| ## Bisher kaum Forschung über institutionelle Gewalt | |
| Die Universität Jena schließlich widmet sich in einem Projekt den rituellen | |
| Gewaltpraktiken in der DDR. „Dazu zählt beispielsweise sexueller | |
| Missbrauch, der institutionell vertuscht oder gar unterstützt wurde“, sagt | |
| Bernhard Strauß, Direktor des Instituts für Psychosoziale Medizin, | |
| Psychotherapie und Psychoonkologie der Uniklinik Jena. Betroffene | |
| institutioneller Gewalt in der DDR seien in der Forschung bisher kaum | |
| berücksichtigt. Die Wissenschaftler*innen wollen sowohl Betroffene | |
| interviewen als auch Traumatherapeut*innen, die mit Betroffenen arbeiten | |
| oder gearbeitet haben. | |
| Darüber hinaus untersucht die Uni Jena, inwieweit sich die hormonelle | |
| Stressregulation bei SED-Opfern infolge von chronischen oder traumatischen | |
| Stresserfahrungen verändert hat. Eine solche Veränderung erhöhe zum | |
| Beispiel das Risiko für Depressionen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sagt | |
| Strauß. | |
| Im dritten Projekt der Uni Jena geht es um die Weiterbildung von | |
| Pflegepersonal, Ärzt*innen und Mitarbeiter*innen in | |
| Beratungsstellen. „Noch viel zu häufig erfahren Opfer des SED-Regimes | |
| erneut Unrecht, weil Ansprechpartner nicht ausreichend informiert sind über | |
| die besondere psychomedizinische Situation der Betroffenen. Deshalb sollen | |
| unsere Forschungsergebnisse schnell im Beratungs- und Versorgungsalltag | |
| umgesetzt werden“, sagt Strauß. | |
| 7 Nov 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Rieke Wiemann | |
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