# taz.de -- Die DDR ein Unrechtsstaat?: Streit um Deutungshoheit | |
> Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig und | |
> Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow wollen die DDR nicht Unrechtsstaat | |
> nennen. | |
Bild: Abriss der Mauer an der Bernauer Straße im Wedding | |
BERLIN taz | Als sich Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela | |
Schwesig (SPD) [1][am Montag dafür aussprach, die DDR nicht als | |
„Unrechtsstaat“ zu bezeichnen], klang das in vielen Ohren nach: „Es war ja | |
nicht alles schlecht.“ Die Widerrede kam prompt, unter anderem von Sachsens | |
Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und Roland Jahn an, | |
Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, der in der DDR selbst als | |
Oppositioneller in Haft saß. | |
Nun ist es nicht so, dass Schwesig den SED-Staat verharmlost hat. Im | |
Wortlaut sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe: „Die DDR war eine | |
Diktatur. Es fehlte alles, was eine Demokratie ausmacht: Meinungsfreiheit, | |
Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit, freie Wahlen, das Recht auf | |
Opposition.“ Die Diktatur als gewaltsame Herrschaft der Wenigen erscheint | |
ihr sprachlich angemessener als der Begriff „Unrechtsstaat“. Obwohl der | |
darauf abzielt, die Staatsform der DDR als ungerecht zu charakterisieren, | |
nicht etwa Individuen, fühlten sich gemäß Schwesigs Logik viele ehemalige | |
DDR-BürgerInnen durch ihn herabgesetzt, sprachlich unsichtbar gemacht in | |
ihrer Lebensleistung – und Rechtschaffenheit. | |
Vor allem in Abgrenzung zum „Rechtsstaat“ auf der anderen Seite | |
Deutschlands, in dem ja nun bekanntlich auch nicht alles mit „rechten | |
Dingen“ zuging. Schwesigs Thüringer Kollege Bodo Ramelow (Linke) führte | |
noch ein anderes Argument ins Feld: Für ihn sei der Begriff „mit der Zeit | |
der Naziherrschaft und dem mutigen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und | |
seiner Verwendung des Rechtsbegriffs ,Unrechtsstaat' in den | |
Auschwitz-Prozessen verbunden“. | |
## Thema für Historikerinnen | |
Wie man den ehemaligen SED-Staat nun nennen soll, ist in erster Linie ein | |
Thema für Historikerinnen und Demokratietheoretiker. Spannend ist vor allem | |
die Frage, [2][warum nur alle so scharf darauf sind, die DDR einen | |
„Unrechtsstaat“ nennen zu dürfen]. | |
Woher kommt die Obsession mit dem Begriff, wenn die „Diktatur“ (die, das | |
wird [3][Bodo Ramelow] einwenden müssen, durchaus auch die Zeit von 1933 | |
bis 1945 bezeichnet) es ebenso tun würde? Woher kommt die semantische | |
Sensibilität in einem Land, in dem man sich um geschichtsbewusstes | |
Vokabular an anderer Stelle so wenig schert, dass Zeitungen immer noch dann | |
und wann die Pogromnacht zur „Reichskristallnacht“ aufhübschen? | |
Der Kampf um den Begriff ist ein Streit um Deutungshoheit, in dem sich | |
Defizite bei der Aufarbeitung des DDR-Erbes zeigen – auf Ost- wie auf | |
Westseite. Denn einerseits ist es verständlich, dass sich Ostdeutsche nicht | |
zum dutzendsten Mal erklären lassen mögen, wie frei oder unfrei ihr Leben | |
in der DDR ablief. Andererseits darf man sich schon fragen, ob Debatten um | |
die politische Organisation eines Staats, der vieles war, aber keine | |
„demokratische Republik“, wirklich der richtige Ort sind, um über | |
persönliche Abwertungserfahrungen nachzudenken. | |
8 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.morgenpost.de/politik/article227291775/DDR-kein-Unrechtsstaat-S… | |
[2] /Debatte-DDR-und-Linke/!5028667 | |
[3] /Niedergang-der-Linken-im-Osten/!5621498 | |
## AUTOREN | |
Julia Lorenz | |
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hilfreich sind. Von Frieden bis Unrechtsstaat ist alles dabei. |