# taz.de -- Flüchtlingspolitik als Abschreckung: Ausgelagert nach Albanien | |
> Italien will Asylverfahren nach Albanien auslagern. Andere Staaten | |
> wollen folgen. Sieht so wirklich die Zukunft der EU-Flüchtlingspolitik | |
> aus? | |
Bild: Auf einmal traute Einigkeit: Edi Rama umarmt Giorgia Meloni bei einem Tre… | |
Die Felsen vor Gjadër ragen aus der sattgrünen Küstenebene empor. Tiefe | |
Kavernen hat das Militär einst hier, ganz im Norden von Albaniens | |
Adriaküste, in den Berg getrieben. Kampfjets waren darin stationiert, die | |
einen möglichen Angriff Jugoslawiens abwehren sollten. 2000 gab die Armee | |
den Flughafen auf, an den Runways entstanden Wohnhäuser. | |
Doch viele stehen heute überwuchert in der Landschaft: Erst ging das | |
Militär fort, dann die Menschen. Nur das Dröhnen der Bagger, die Steine als | |
Baumaterial aus den Felsen schlagen, unterbricht jetzt die Stille. | |
„Eigentlich sind nur noch die Alten hier“, sagt Roger, ein Politikstudent | |
aus Gjadër. | |
Er trägt ein weites Shirt, weite Hosen, die Haare rasiert, die Brille ist | |
golden. Er ist hier geboren, studiert heute in Tirana, aber er will seine | |
Heimat nicht aufgeben. Wann immer er kann, fährt er die zwei Stunden im | |
Auto her, verbringt seine freien Tage bei den Eltern. „4.000 Menschen haben | |
hier mal gewohnt, nicht mal 1.000 sind noch übrig“, sagt Roger. Vielleicht | |
will er selber auch woanders hin, sagt er. | |
Aber vielleicht ändert sich jetzt auch alles in Gjadër, denn nun sollen | |
wieder Menschen hierher kommen, Tausende sogar. Und Jobs. Die Welt | |
interessiert sich plötzlich für die kleine Stadt und Roger führt gern herum | |
und erzählt von den „200 MIGs“ die einst hier stationiert gewesen sein | |
sollen. Nur seinen Nachnamen möchte er lieber nicht nennen. | |
„Die Regierung hat uns nie offiziell informiert, aber im Dorf gab es schon | |
vor einem Jahr Gerüchte“, sagt Roger. Im September dann hatten [1][Italiens | |
Ministerpräsidentin Giorgia Meloni] und ihr albanischer Amtskollege Edi | |
Rama den [2][Deal] präsentiert: Italien darf im Hafen das Badeortes | |
Shëngjin und 15 Kilometer weiter nördlich, in Gjadër, zwei | |
Internierungslager einrichten. 3.000 Menschen sollen dort gleichzeitig in | |
Haft gehalten werden, bis über ihre Asylanträge entschieden ist. Das macht | |
36.000 pro Jahr. Anerkannte sollen nach Italien ausreisen, die übrigen | |
direkt abgeschoben werden. Es ist das erste Modell dieser Art. | |
## „Das Monster für die Afrikaner“ | |
Für den 20. Mai war der Start angekündigt. „Ich schaue mit Spannung darauf, | |
was Italien gemeinsam mit Albanien macht“, sagte Bundesinnenministerin | |
Nancy Faeser (SPD) am Montag dem Stern. Italienische Asylverfahren in | |
Albanien seien „ein interessantes Modell“. Aber noch ist davon wenig zu | |
sehen. Am Tag nach dem Starttermin steht ein alter Mann in Warnweste an der | |
Einfahrt des Militärgeländes, Lkws fahren hinein. Drinnen liegen gestapelte | |
Platten für Container auf der Erde. Erst im November werde das Lager | |
fertig, schreiben albanische Medien, das Gelände müsse entmint werden. | |
Nur wenige Kilometer sind es bis zur Grenze nach Montenegro. „Seit Langem | |
sind Flüchtlinge hier durchgezogen,“ sagt Roger. „Man konnte sehen, wie sie | |
nach Norden laufen.“ Er zeigt auf die Berge. Viele Menschen aus Gjadër | |
wohnen heute in Italien oder Deutschland. „Aber der Unterschied zu den | |
Flüchtlingen ist: Wir haben Visa“, so sieht Roger das. „3.000 sind keine | |
Größenordnung, die Italien oder der EU wirklich helfen würde“, meint er. | |
„Das Ganze ist eine Message an die Afrikaner: 'Kommt nicht her!’. Albanien | |
soll das Monster für die Afrikaner sein, damit sie nicht versuchen, nach | |
Italien oder Deutschland zu gehen.“ | |
Seit Jahren versuchen [3][Europas Staaten] Nachbarländer zu finden, denen | |
sie die Flüchtlinge aufhalsen können. Und schon lange hatte die EU dafür | |
auch Albanien im Blick. 2018 wollte sie als „regionale | |
Ausschiffungsplattformen“ Orte außerhalb der EU einrichten, an die sie | |
Flüchtlinge vom Mittelmeer für Asylverfahren bringen könne. Brüssel klopfte | |
dazu auch in Tirana an – ohne Erfolg: „Wir werden niemals solche | |
EU-Flüchtlingslager akzeptieren“, sagte Rama 2018 der Bild-Zeitung. Denn es | |
bedeute, „verzweifelte Menschen irgendwo abzuladen wie Giftmüll, den | |
niemand will“. | |
Auch alle anderen Staaten lehnten ab. Umso erstaunter waren viele, als | |
Meloni Rama nun umstimmte. Und gern ließ Rom durchblicken, dass Meloni die | |
Sache beim Familien-Sommerurlaub in Albanien geregelt habe. | |
„Wir haben traditionell exzellente Beziehungen, auf vielen Ebenen“, sagt | |
Giacomo Montemarani, ein italienischer Diplomat, dazu. Lange hatte Italien | |
nur wenig zu dem Deal verlauten lassen. „Wir wollen völlige Transparenz“, | |
beteuert Montemarani nun. Zwei Tage nach dem verstrichenen Eröffnungstermin | |
sitzt er in seinem Büro in der Botschaft in Tirana und versichert, das Camp | |
werde ein „Haus aus Glas“. Und „natürlich“ bekämen auch NGOs Zugang. … | |
gehe es schon bald, das Registrierungs-Zentrum in Shëngjin sei „schon | |
fertig“, das Internierungslager in Gjadër, dessen Bau das | |
Verteidigungsministerium leite, „in einigen Wochen“. | |
„Extraterritorial“ seien die Lager keineswegs, sagt Montemarani – sie | |
stünden nur unter „italienischer Jurisdiktion“. Völkerrechtler gehen indes | |
davon aus, dass sehr wohl auch albanisches Recht gelte und die Insassen | |
etwa vor albanischen Gerichten gegen ihre Internierung klagen könnten. | |
## Weder anerkannt noch abgeschoben | |
Die „guten Beziehungen“ hatte auch der Ministerpräsident Rama als Grund f�… | |
seinen Sinneswandel genannt – und klargestellt, dass keinesfalls andere | |
EU-Staaten ähnliche Lager aufbauen dürften. In vielen EU-Hauptstädten aber | |
sind die Begehrlichkeiten groß. Die Ampel etwa hat 2023 den FDPler Joachim | |
Stamp als „Migrationsbeauftragten“ ernannt. Der sucht seither erfolglos | |
nach Ländern, in die Deutschland seine Asylverfahren auslagern kann. | |
Drei ganztägige Anhörungen mit mehr als einem Dutzend Experten hat das | |
Innenministerium jüngst zur Frage abgehalten, ob das Modell für Deutschland | |
infrage kommt. Bisher habe er „nichts Konkretes davon gehört“, dass auch | |
andere EU-Staaten Flüchtlinge nach Albanien schicken wollen, sagt der | |
Italiener Montemarani. „Aber natürlich gibt es allgemein ein großes | |
Interesse“; das Ganze sei „eine ‚Out of the box‘-Lösung für ein Probl… | |
das viele Länder betrifft“. | |
Meloni hatte versichert, dass keine „Minderjährigen, schwangere Frauen und | |
andere gefährdete Personen“ nach Albanien gebracht würden. In den Verträgen | |
mit dem Unternehmen Medihospes für den Betrieb der Lager aber ist von | |
„Aktivitäten für Minderjährige“ die Rede. Montemarani streitet das ab. N… | |
Albanien kämen „keine besonders Schutzbedürftigen, keine alten Menschen, | |
keine Kinder, keine Frauen, das war von Anfang an klar“, sagt er. | |
In Gjadër sollen die Verfahren maximal einen Monat dauern. Expert:innen | |
halten es indes für ausgeschlossen, in so kurzer Zeit alles abwickeln zu | |
können. Sicher ist, dass ein Teil der Ankommenden weder anerkannt wird noch | |
abgeschoben werden kann. „Es ist klar, dass sie nicht länger hier bleiben | |
können als vorgesehen. Wir werden sie nach Italien bringen“, sagt | |
Montematani. | |
Viele hegen Zweifel, ob Italiens Pläne rechtens sind. Sie verstoßen „gegen | |
europäische und internationale Normen, die die Ausschiffung im | |
nächstgelegenen sicheren Hafen vorschreiben, sowie gegen das Recht auf | |
internationalen Schutz und die persönliche Freiheit“, schrieb die | |
sozialdemokratische Fraktion im EU-Parlament. Amnesty fürchtet negative | |
Auswirkungen auf das Recht „auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. Im | |
Januar erklärte EU-Kommissarin Ylva Johansson, sie „prüfe die Auswirkungen�… | |
des Protokolls und werde „mit den italienischen Behörden in Kontakt | |
bleiben“. | |
## Ein „williges europäisches Land“ | |
Italien hält das Modell für zulässig, solange Menschen die EU physisch noch | |
nicht erreicht haben. Rom will deshalb ausschließlich Menschen nach | |
Albanien bringen, die außerhalb italienischer Hoheitsgewässer aufgegriffen | |
werden. | |
Allerdings: Nach welchem Recht sollen italienische Küstenwächter auf Hoher | |
See Menschen festhalten und entscheiden, wer „vulnerabel“ ist und nach | |
Italien darf und wer nicht? | |
Und: Vom zentralen Mittelmeer sind es nach Shëngjin fast 1.000 Kilometer. | |
Die lange Reise wird die Küstenwache kaum für eine Handvoll Menschen | |
unternehmen. Will Italien aufgegriffene Flüchtlinge so lange auf Hoher See | |
festhalten, bis genug für einen Transport zusammengekommen sind? | |
Im Februar hatte das Parlament in Tirana für das Projekt gestimmt, die | |
rechte Opposition hatte die Abstimmung boykottiert – der Deal schade der | |
„nationalen Sicherheit, der territorialen Integrität und dem öffentlichen | |
Interesse“. Das albanische Verfassungsgericht aber wies eine Klage ab. Die | |
Souveränität des Landes werde durch die Asyl-Lager nicht beeinträchtigt, | |
befand es. | |
Viele argwöhnen, dass Albanien den Deal gegen Cash verkauft habe. Italien | |
streitet das ab. „Wir mieten das Gelände nicht“, sagt Montemarani. | |
Albanien bekomme lediglich eine Kostenerstattung für die Bewachung der | |
Camps sowie bei möglichen Krankenhausbehandlungen der Insassen. Ansonsten | |
fließe kein Geld, versichert er. | |
Albanien könne sich so als „williges europäisches Land präsentieren“, sa… | |
Montemarani. Seit 2014 ist Albanien EU-Beitrittskandidat, die Eröffnung der | |
Beitrittsverhandlungen stehen bevor. In einem Rating der sechs | |
Beitrittskandidaten steht Albanien nur auf Platz vier. Guten Willen zu | |
zeigen, kann da nicht schaden. | |
Italien weist selbstredend zurück, wegen des Flüchtlingsdeals zu Albaniens | |
Gunsten einzugreifen. „Unsere Unterstützung für Albaniens Beitritt war | |
schon vorher stark und bleibt das auch“, sagt der Diplomat Montemarani. | |
„Aber bei den Beitrittsverhandlungen gibt es keine Abkürzungen.“ | |
1 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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