# taz.de -- Flucht über griechischen Fluss Evros: Nur 50 Meter | |
> Der Evros bildet die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland. Rund | |
> 13.000 Geflüchtete überquerten ihn auf ihrem Weg in die EU in diesem | |
> Jahr. | |
Bild: Ruhig liegt er da: der Evros in Nordgriechenland | |
Thessaloniki taz | Meine Familie über das Meer auf eine der griechischen | |
Inseln zu bringen, das wäre unverantwortlich gewesen“, sagt Muhammad, der | |
seinen Nachnamen nicht verraten möchte. Der hochgewachsene Mann lehnt sich | |
gegen das wellige Blech seines grauen Wohncontainers. Er habe die Situation | |
der Menschen auf den Inseln schon länger mitverfolgt und habe mitbekommen, | |
unter welchen unmenschlichen Bedingungen sie ausharren müssen, erklärt der | |
45-jährige Familienvater. „Da habe ich den Weg über den Fluss Evros | |
gewählt“, so der Syrer. Da sei man gleich auf dem griechischen Festland und | |
werde nicht auf einer der Inseln festgehalten. | |
Muhammad ist mit seiner Frau und den beiden Kindern aus Aleppo geflohen. | |
Seine Kinder seien noch so klein – vier und sechs Jahre alt – sagt der | |
Mann. „Ich hoffe, sie werden sich nicht an allzu viel erinnern können, wenn | |
sie groß sind“, fügt er leise hinzu. | |
Seit knapp einem halben Jahr wohnt die Familie nun im Camp Diavatas, das | |
etwas außerhalb von Thessaloniki im nördlichen Griechenland liegt. Die | |
Aufsicht über das Camp hat die griechische Regierung. Polizisten bewachen | |
den Eingang des ehemaligen Militärgebiets auf dem jetzt 156 | |
durchnummerierte Wohncontainer stehen. Es werden Sprach- und Sportkurse | |
sowie Kinderbetreuung angeboten. Muhammad, seine Frau und seine beiden | |
Kinder teilen sich einen der Container mit seiner Tante und ihrem Mann. | |
Nein, schön sei es hier nicht, sagt Muhammad und zeigt auf die Reihen der | |
grauen Wohnklötze zwischen denen bunte Wäsche auf langen Leinen hängt. Aber | |
man lebe hier unter menschenwürdigen Bedingungen. Alle Container haben ein | |
integriertes Badezimmer und eine kleine Küche. Muhammad lacht leise auf und | |
zeigt auf den Nachbarcontainer. Einige CampbewohnerInnen haben sich sogar | |
einen kleinen Vorgarten mit einigen Pflanzen angebaut. „Wir leben nicht im | |
Dreck, wie die meisten Flüchtlinge auf den Inseln“, sagt er. | |
Denn dort sind die Kapazitäten längst überschritten. Über ganz Griechenland | |
sind 28 Camps verteilt. Die Flüchtlingsunterkünfte auf dem Festland sind | |
den Umständen entsprechend human. Doch in den Camps auf den griechischen | |
Inseln nahe der Türkei müssen die Menschen unter katastrophalen Bedingungen | |
ausharren. So hat etwa die Insel Samos eine Kapazität für knapp 700 | |
Menschen und ist mit 4.000 Flüchtlingen und Migranten massiv überbelegt. | |
[1][Die Insel Lesbos hat Kapazitäten für etwa 3.100] wird jedoch von 7.415 | |
Menschen beansprucht. | |
## Die Flucht durch den Fluss wird populärer | |
Zwar ist die Zahl der Flüchtlinge, die in die EU kommen, im Vergleich zu | |
den Vorjahren deutlich zurückgegangen: Mehr als 800.000 Flüchtlinge und | |
Migranten kamen im Jahr 2015 über das Mittelmeer von der Türkei aus nach | |
Griechenland. In diesem Jahr waren es nur noch knapp 25.000 Menschen. Die | |
Zahl der Ankömmlinge, die den Meerweg wagten, nahm ab, als die EU mit der | |
Türkei ein Abkommen zur Eindämmung des Flüchtlingsaufkommens nach | |
Griechenland schloss. | |
Doch die Zahl der Geflüchteten reißt nicht gänzlich ab sondern sucht sich | |
andere Wege. Die Strecke durch den Fluss Evros wird immer populärer. Das | |
Gewässer bildet die natürliche Grenze zwischen der Türkei und Griechenland. | |
Knapp 13.000 Menschen durchquerten bereits in diesem Jahr den Fluss, um in | |
die EU zu gelangen. Allein im September setzten 300 bis 500 Menschen pro | |
Woche über das oft unruhige Gewässer. Im Vergleich dazu: Im Jahr 2017 waren | |
es gerade mal 5.700 Menschen. | |
Auch Muhammad wagte diesen Weg. Von Istanbul aus wurden er und seine | |
Familie ins nächstgelegene Dorf gefahren, berichtet er. Dann mussten sie im | |
Schutz der nächtlichen Dunkelheit das letzte Stück querfeldein zum Fluss | |
laufen. „Als wir ans Ufer traten, sahen wir schon das Boot“, erinnert sich | |
Muhammad. Sechs Personen pro Überfahrt. Die Entfernung von einem Ufer zum | |
anderen beträgt etwa 50 Meter. „Was blieb uns übrig, als in das wackelige | |
Boot einzusteigen?“, hilflos zuckt der Mann mit den Schultern. Die | |
Schlepper brachten die Familie auf die andere Seite des Ufers. Nach 500 | |
Metern Fußweg sahen sie die Gleise der Zugstrecke nach Thessaloniki. | |
Auch hier kamen Flüchtlinge ums Leben, die entlang des Gleisbetts in | |
Richtung Thessaloniki liefen. Mitunter werden einige nach der Überquerung | |
des Flusses von einem Fahrer erwartet, der sie in die Hafenstadt bringt. | |
Oftmals sind die Fahrer völlig übermüdet oder auch minderjährig und daher | |
ohne Fahrpraxis. Es kam zu zahlreichen Verkehrsunfällen mit Verletzten und | |
Toten. Erst vor ein paar Tagen prallte ein solcher Kleinbus mit einem | |
Lastwagen zusammen. Alle Insassen des Kleinbusses kamen ums Leben. Trotz | |
der Gefahren steigt die Anzahl der Menschen, die die Flucht in die EU durch | |
den Evros wagen. | |
## Zu wenig Personal | |
Nordgriechenland ist als Erstanlaufstelle der Flüchtlinge nach Überquerung | |
des Evros auf die steigenden Zahlen nicht genügend vorbereitet. Das zeigte | |
sich zuletzt deutlich, als in der vergangenen Woche Dutzende neu | |
eingetroffene Flüchtlinge und Migranten auf dem Aristotelesplatz in Zentrum | |
Thessalonikis vor einer Polizeistation kampierten, um auf ihre | |
Registrierung durch die Behörden zu warten. Es gab zu wenig Personal, um | |
den Ablauf zu beschleunigen. Die Registrierung ist aber notwendig, denn nur | |
mit dem offiziellen Papier bekommen die Menschen Unterstützung und Zugang | |
zu den Camps. „Seit Jahresbeginn haben wir in Thessaloniki mehr als 10.000 | |
Migranten und Flüchtlinge registriert“, sagte Theodoros Tsairidis, | |
Präsident der Gewerkschaft der griechischen Polizeibeamten, dem | |
griechischen TV-Sender Skai. „Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es | |
nur 4.500.“ Die Situation in den Polizeistationen der Hafenstadt sei | |
schlimm. | |
„Die Neuankömmlinge treffen mittlerweile auch auf dem griechischen Festland | |
auf überstrapazierte Kapazitäten“, sagt ein Sprecher der Hilfsorganisation | |
UNHCR. Griechenland arbeite hart daran, den Menschen eine gute Unterkunft | |
zu bieten. „Doch die Kapazitäten des Landes sind nicht unendlich | |
erweiterbar“, betont der Sprecher. Die Verantwortung müsse unbedingt unter | |
den EU Staaten aufgeteilt werden. Das inzwischen ausgelaufene | |
Umverteilungsprogramm, durch das 23.000 Menschen in andere EU-Staaten | |
gebracht werden konnten, muss dringend reaktiviert werden um Griechenland | |
zu entlasten. „Wir rufen zu mehr Solidarität auf“, so der UNHCR-Sprecher. | |
## Keine Kontrolle über Hilfsgelder | |
Das UN-Hilfswerk arbeitet eng mit der griechischen Regierung zusammen und | |
steht dieser beratend zur Seite. „Die griechische Regierung muss | |
schnellstmöglich ihre logistischen und administrativen Abläufe verbessern“, | |
sagt der Sprecher. Oftmals scheitern schnelle Hilfsaktionen daran. So | |
liegen bisher noch keine konkreten Pläne vor, [2][um Camps winterfest zu | |
machen] und für zusätzliche Kapazitäten auf dem Festland zu sorgen. | |
EU-Hilfsgelder zur Unterstützung der Menschen in den Camps sind vorhanden. | |
Doch diese Gelder gelangen meist erst gar nicht bis dorthin. Denn die | |
griechische Regierung schafft es nicht, ihre internen Abläufe zu | |
optimieren. Der griechische Migrationsminister Dimitris Vitsas hat in der | |
vergangene Woche bereits Andreas Iliopoulos, Abteilungsleiter für die | |
Registrierungs- und Aufnahmelager, entlassen. Iliopoulos hatte zuvor | |
erklärte, die Kontrolle über die Gelder verloren zu haben. „Es herrsche | |
Chaos, sagte er. | |
Muhammads vierjähriger Sohn fühlt mit der kleinen Hand an der grauen Wand | |
des Containers entlang, schaut seinen Vater an und lacht. Der drückt seinen | |
Sohn liebevoll an sich. „Ich mache mir Sorgen, dass wir hier irgendwann | |
auch unter so schlimmen Umständen leben, wie die Menschen auf den Inseln. | |
Ich habe Angst, dass wir Europa egal sind“, sagt Muhammad. | |
15 Oct 2018 | |
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[1] /Fluechtlingslager-in-Griechenland/!5533309 | |
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## AUTOREN | |
Theodora Mavropoulos | |
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