# taz.de -- Filmgroteske „Petrov’s Flu“ im Kino: Entführt im Leichenwagen | |
> In Kirill Serebrennikows Filmgroteske „Petrov’s Flu“ flüchtet eine | |
> Familie aus dem Irrsinn des postsowjetischen Alltags in radikale | |
> Befreiungsfantasien. | |
Bild: Yura Borisov (Mitte) in „Petrov’s Flu“ (Kirill Serebrennikov), Russ… | |
Fantasie kann eine tolle Sache sein, doch hat sie die Kehrseite, dass sie | |
ganz gern mal ungesteuert ihr Ding macht und aus dem Unbewussten allerlei | |
dunkle Dinge emporsteigen lässt. Das ist jedenfalls bei den Petrows so, | |
einer ganz normalen russischen Familie, die, genauer betrachtet, eine ganz | |
normale postsowjetische Familie ist, denn eben um das Ausloten dieser | |
Schnittmenge geht es hier. | |
Der derzeit im deutschen Exil lebende [1][Starregisseur Kirill | |
Serebrennikow, der von den russischen Behörden wegen angeblicher | |
Veruntreuung in einen jahrelangen Hausarrest gezwungen] worden war und in | |
jüngster Zeit gerade rechtzeitig vor Kriegsbeginn in den Westen hatte | |
ausreisen dürfen, drehte „Petrov’s Flu“ („Petrow hat Fieber“) im Jah… | |
während gleichzeitig sein Prozess verhandelt wurde. | |
Es handelt sich um eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Alexei | |
Salnikow (in deutscher Übersetzung kürzlich im Suhrkamp Verlag erschienen). | |
Und da der Regisseur, ähnlich wie die Petrows, über jede Menge Fantasie | |
verfügt, hat er für die filmische Umsetzung so manches hochgeholt, was der | |
Autor im Bodensatz seines Romans vergraben hatte. Dinge, die in der | |
Literatur nur angedeutet werden, muss ein Film zeigen, damit sie | |
vorstellbar werden. Wie das hier geschieht, kann ruhig (kon)genial genannt | |
werden. | |
Die Petrows sind Vater, Mutter und Sohn; und wenn diese Aufzählung mit dem | |
Vater anfängt, dann deshalb, weil er es ist, um den sich in diesem Film das | |
Universum einer surrealistischen nachsowjetischen Welt auf recht | |
beunruhigende Weise dreht. | |
## Entführung aus dem Bus | |
Petrow (Semjon Sersin), der grippebedingt hohes Fieber hat, ist mit dem Bus | |
unterwegs, und zwar eigentlich nach Hause; aber auf dem Weg dorthin wird er | |
entführt von seinem Bekannten Igor, der den Bus anhält, um Petrow | |
herauszuholen und in einem Leichenwagen auf eine Sauftour mitzunehmen, die | |
erst einen oder auch zwei Tage später endet. Fast von Beginn an werden wir | |
unmissverständlich darauf hingewiesen, dass hier in Bezug auf die | |
Realitätsebenen im Grunde alles als missverständlich zu verstehen ist. | |
Schon bevor Igor den Bus anhält, ist Petrow nämlich einmal kurz entführt | |
worden, um sich an einem Erschießungskommando in altstalinistischer Manier | |
zu beteiligen. Diese Szene gibt es im Roman gar nicht; dort stellt Petrow | |
sich während der Busfahrt nur flüchtig vor, getriggert von Gesprächen der | |
Mitpassagiere, dass Wladimir Putin an einer Wand steht und auf seine | |
Erschießung wartet. Das wiederum filmisch zu zeigen wäre natürlich | |
unvorstellbar. | |
Stattdessen baut Serebrennikow zwar eine Erschießungsszene filmisch aus, | |
wendet sie aber zugleich ins Allgemeine und zeigt damit zweierlei: | |
einerseits, ziemlich beiläufig, die brutale Verrohung der Gedanken auch der | |
allerfriedfertigsten Menschen, der netten, gebildeten Otto-Normal-Petrows. | |
Zum anderen, und vor allem, fungiert diese drastische Szene in ihrer | |
absurden Explizitheit als Demonstration für die Unzuverlässigkeit aller | |
Bilder, die im Folgenden gezeigt werden. | |
## Das Besäufnis und ein Selbstmord | |
Der Großteil der nächsten Handlungselemente – Petrows Fahrt im | |
Leichenwagen, das Besäufnis mit Igor und dessen Bekanntem und auch Petrows | |
unrühmliche Beteiligung am Selbstmord eines glücklosen Schriftstellers – | |
können mithin weder eindeutig dem Reich der Fantasie noch jenem der | |
Wirklichkeit zugeordnet werden. | |
Und wenngleich die Entführung aus dem Bus ein ausgesprochen | |
unwahrscheinliches, surrealistisches Element ist, so bleibt sie | |
andererseits doch die einzige Erklärung dafür, dass Petrow trotz seines | |
fiebergeschwächten Zustands erst am nächsten Tag volltrunken zu Hause | |
ankommt. Fast noch gruseliger schillert das Wirken von Petrowa (Tschulpan | |
Chamatowa), Petrows geschiedener und dennoch mit ihm zusammenlebender | |
Ehefrau, zwischen Fantasie und Wirklichkeit. | |
Petrowa ist eine Bibliothekarin mit lebhafter Einbildungskraft, die nicht | |
nur im Fieberwahn heimliche Mordgelüste gegen Personen männlichen | |
Geschlechts hegt. Meistens (etwa wenn sie sich vorstellt, dass sie aus | |
Versehen ihrem eigenen kleinen Sohn die Kehle durchschneiden könnte) setzt | |
sie diese nicht in die Tat um, manchmal (wenn sie findet, dass jemand ein | |
gewalttätiger Perversling ist) aber doch. Möglicherweise, wer kann das | |
schon genau sagen. | |
Einen von Petrowas Morden erleben wir jedenfalls – darin geht der Film | |
deutlich weiter als der Roman – hautnah mit. Er findet auf einem Spielplatz | |
am Rande einer desolaten Hochhaussiedlung statt, und angesichts der | |
verrosteten Klettergerüste aus mindestens Breschnews Zeiten, die dort noch | |
herumstehen und von der Kamera (Wladislaw Opeljanz) sehr sinister in Szene | |
gesetzt werden, sind destruktive Gefühle jeglicher Art nur allzu | |
nachvollziehbar. | |
## Modrige Atmosphäre des sowjetischen Zeitalters | |
Ohnehin sieht es überall in diesem Film so aus, als sei das sowjetische | |
Zeitalter niemals vergangen. Nicht der leiseste Hauch von urbaner | |
Modernität kränkelt die gediegen modrige Atmosphäre an, die von den Bildern | |
ausgeht. Die Menschen tragen Klamotten wie aus dem Kostümfundus, die | |
Wohnung der Petrows scheint seit mindestens siebzig Jahren nicht renoviert | |
worden zu sein, und in der Bibliothek hängt in einer hinteren Ecke noch ein | |
großes Leninbild. Dass die ProtagonistInnen ganz selbstverständlich Handys | |
benutzen, wirkt regelrecht anachronistisch. | |
Farbtupfer zwischen den alles grundierenden Braun- und Grautönen entfalten | |
eine dezent groteske bis irritierend poetische Wirkung, wie etwa der | |
tiefblaue Riesen-Micky-Maus-Kopf, den Petrow sich spaßeshalber aufsetzt, | |
als er mit seinem Sohn durch die triste graue Betonauffahrt schlendert, die | |
zu ihrer Mietskaserne führt. Da kommen die beiden gerade vom Neujahrsfest, | |
das in Russland eine Riesensache ist und für Kinder etwa dasselbe bedeutet | |
wie für hiesige Kinder Weihnachten. | |
Zu den öffentlichen Feiern, bei denen die immer gleichen Figuren immer | |
gleiche Sprüche aufsagen und Väterchen Frost Süßigkeiten an die Kleinen | |
verteilt, gehen die Kinder verkleidet. Petrow wird bei dem Anlass umgehend | |
mental zurückversetzt in seine eigene Kindheit und zu einem Neujahrsfest, | |
bei dem er die Hand einer Snegurotschka, einer Schneejungfrau, anfassen | |
musste, die wirklich sehr kalt war. | |
## Russisches Neujahrsfest | |
Die Szenen der Feier aus Petrows Kindheit unterscheiden sich, abgesehen von | |
gewissen Fortschritten in der Kostümierung, kaum vom postsowjetischen Event | |
des Sohnes. Beide verbreiten die freudlose Atmosphäre latent bedrohlichen | |
Karnevalstreibens, die umso beklemmender wirkt, als die Kamera | |
Kinderposition eingenommen hat und von unten auf das lautstarke Ritual | |
blickt. | |
Von heute aus gesehen möchte man gern aus den Bildern dieser vor über zwei | |
Jahren gedrehten Alltagsgroteske eine Erklärung dessen herauslesen, was | |
seitdem geschah. Das geht nicht; wenngleich man manche Dinge vielleicht | |
doch ein bisschen besser versteht. | |
Serebrennikow zeigt eine Gesellschaft, die sich zombiegleich in überholten | |
Normen verhakt hat und in der die Freiheit des unabhängigen Individuums | |
sich im großen Ganzen darin erschöpft, sich besinnungslos zu besaufen oder | |
sich aus der deprimierenden Muffigkeit des Alltags in radikale | |
Befreiungsfantasien zu retten. | |
Als poetisch-satirische Analyse der postsowjetischen russischen | |
Wirklichkeit ist das großartig gemacht und erzählt, aber aus dem finsteren | |
Humor von Roman und Film spricht auch tiefe Verzweiflung. Unvorstellbar, | |
dass dieser Film noch vor gut zwei Jahren in Russland produziert werden | |
konnte. | |
21 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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