| # taz.de -- Festival „Lehnmusik“ in Augustusburg: Die Tochter der Luft | |
| > Echos aus Maschinen und Geräusche aus der Erde. Das Festival „Lehnmusik“ | |
| > im sächsischen Augustusburg widmet sich der experimentellen Musik. | |
| Bild: Tomoko Sauvage am Sonntag beim Festival „Lehnmusik“ in Augustusburg | |
| Manche Leute kommen ins Erzgebirge, um dem Echo der Welt zu entgehen. Jan | |
| Jelinek und Frank Bretschneider bringen das Echo der Welt mit und werfen es | |
| fraktal in den Raum. Wenn Reflexionen einer Schallwelle so verzögert sind, | |
| dass sie als separates Hörereignis wahrnehmbar sind, entsteht Echo. | |
| Echo klingt flüchtig und erhaben zugleich, das macht es auch so schwer | |
| erfassbar und gibt seit jeher Anlass zu wilden Spekulationen, wie Marin | |
| Mersenne im 17. Jahrhundert in seiner Schrift „Harmonie Universelle“ | |
| erklärt hatte. Der französische Mathematiker und Mönch des Paulaner Ordens | |
| bezeichnete Echo wahlweise als „Bild der Stimme“, „Tochter der Luft“, o… | |
| „fliehende Nymphe“. | |
| Wenn Jelinek und Bretschneider beim Festival „Lehnmusik“ in dem kleinen | |
| Städtchen Augustusburg im Erzgebirge an den Knöpfen und Effekten ihrer | |
| modularen Workstations schrauben, drücken und drehen, dann laufen jene | |
| vagabundierenden Echos von nah und fern wie in einem Schaltraum zusammen, | |
| materialisieren sich zu Klang und verschwinden wieder im Orkus. Zwei Ohren | |
| reichen eigentlich nicht aus, um diese Soundströme, Stimmsamples und | |
| Echoschlaufen zu erfassen. | |
| Von allen Seiten zuckt es auf die Hörer:Innen ein, eine intensive, fast | |
| körperliche Erfahrung. Wie in einem Stuhlkreis sitzt das Publikum rund um | |
| die beiden Berliner Elektronikproduzenten, übt sich in tiefer | |
| Konzentration. Der Sound der beiden Berliner Produzenten klingt supercrisp | |
| und folgt einer raffinierten Dramaturgie, die die beiden Künstler in | |
| stillem Kopfnicken vollführen. | |
| ## Demokratie im kleinen Maßstab | |
| Der Gasthof Lehngericht beherbergte einst ein FDGB-Ferienheim. Dessen alter | |
| Festspielsaal mit großen, von der Decke hängenden Lüstern aus Metall und | |
| Kristallglas ist nun Ort für experimentelle (elektronische) Musik. Es | |
| kommen Einheimische und Menschen von weiter her, aus Chemnitz, Dresden, | |
| Leipzig und Hamburg. | |
| Die Wände sind holzverschalt, der knarzende Dielenboden tut sein Übriges | |
| fürs Ambiente. Alles Knistern, die Stimmfetzen und Hallfahnen von Jelinek | |
| und Bretschneider werden von der Innenarchitektur aufgenommen und | |
| zurückgeworfen. | |
| So viel ist sonst nicht los in Augustusburg. „Ich bin froh, dass mal über | |
| was Anderes berichtet wird als immer nur über die ‚freien Sachsen‘“, sagt | |
| mir ein Zuschauer. Seit 2019 kümmert sich der Kulturverein „auf weiter | |
| flur“ um den Ort, zeigt Filme, organisiert Theaterstücke und richtet | |
| regelmäßig eine Discoparty aus. Eine junge Frau, die aus Zwickau hergezogen | |
| ist und beim Kulturverein mitwirkt, sagt, hier werde Demokratie im kleinen | |
| Maßstab vorgelebt. | |
| ## Sensoren in der Erde verbuddelt | |
| Für „Lehnmusik“ ist nicht nur das Gebäude selbst ein Handlungsort, auch d… | |
| Garten am Haus ist in Beschlag genommen. In einem winzigen Schreberhäuschen | |
| ist eine „Akustemologische Station für Bodenklänge“ als künstlerische | |
| Forschungsstation installiert: Zur Untersuchung des Bodens hat der Weimarer | |
| Anthropologe Daniel Wolter im Garten Sensoren in der Erde verbuddelt, die | |
| Erschütterungen und Geräusche aufzeichnen. Diese werden von Lautsprechern | |
| im Gartenhäuschen wiedergegeben: Dumpfes Bollern, maushaftes Rascheln, die | |
| Erde lebt, nicht nur, wenn jemand gerade auf dem Kiesweg vorbeigeht. | |
| Besucher:Innen sind eingeladen, ihre Höreindrücke in Fragebögen | |
| niederzuschreiben, die Wolter wissenschaftlich auswertet. Auch die | |
| Werkstatt im Lehngericht soll [1][beim Veranstaltungszyklus der | |
| „Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz 2025“] zu einem der „Makerspaces… | |
| (Werkstätten) werden. An solchen Orten wird an den Erfindungsreichtum und | |
| das Improvisationsgeschick in der DDR appelliert, aus Nichts und | |
| Mangelwirtschaft Ersatzteile herzustellen. Momentan wird noch Inventar aus | |
| der Gaststätte repariert. | |
| ## Uran für die Sowjetunion | |
| Die Kleinstadt Augustusburg wirkt sehr schmuck. Fast alle Altbauten – ob | |
| Fachwerkhäuschen oder Gründerzeitvillen – sind aufgehübscht. Die Spuren der | |
| Vergangenheit sind weitgehend getilgt, wirkt es vielleicht deshalb ein | |
| bisschen geisterhaft? Frank Bretschneider, der knapp 60 Kilometer entfernt | |
| 1956 im Erzgebirge geboren wurde, erkennt an einem leerstehenden | |
| Friseursalon das verblichene Schild „PGH“ (Produktionsgenossenschaft des | |
| Handwerks). | |
| Bretschneiders Vater war bei Wismut im Uranabbau beschäftigt, was der Sohn | |
| erst sehr viel später erfahren hat. Zu DDR-Zeiten wurde damit exklusiv die | |
| Atommacht Sowjetunion beliefert, die Arbeit im Stollen war der | |
| Geheimhaltung unterworfen. Aufgewachsen ist Bretschneider in | |
| Karl-Marx-Stadt, wie Chemnitz bis 1989 hieß. Dort gründete er [2][1986 | |
| zusammen mit dem Künstler Jan Kummer und anderen die Band A.G. Geige]. Früh | |
| setzte er auf elektronische Musikproduktion, besaß als einer der ersten | |
| einen Korgsynthesizer. | |
| In Augustusburg trifft Bretschneider erstmals seit langer Zeit auf die | |
| Vergangenheit, alte Freunde sind im Publikum, was ihn bewegt und erfreut. | |
| Er und der aus Darmstadt stammende Jan Jelinek haben sich in Berlin als | |
| Nachbarn kennengelernt. Jelinek veröffentlichte auf seinem Label Faitiche | |
| Soloalben von Bretschneider. Als Duo „Beispiel: Muster“ sind sie zusammen | |
| in Erscheinung getreten und haben in einem Studio Musik eingespielt, das | |
| nach dem Spion „G. Guillaume“ benannt ist. [3][Der wurde von der Stasi im | |
| Kanzleramt von Willy Brandt installiert]. | |
| ## Ein Ort mit NS-Geschichte | |
| Auch Festival-Kurator Felix Forsbach hat sich mit der Vergangenheit in | |
| Augustusburg auseinandergesetzt und die NS-Geschichte erforscht, seit er im | |
| April 2021 ins Erzgebirge gekommen ist. Die namensgebende Burg, im 16. | |
| Jahrhundert als Jagd- und Lustschloss des sächsischen Kurfürsten August I. | |
| errichtet, wurde im Sommer 1933 zu einem „wilden“ KZ umfunktioniert, in das | |
| vor allem politische Häftlinge (die im Bergbau des Erzgebirges tätig waren) | |
| gesteckt wurden. Ab 1935 war hier zudem ein Gauführerschule, geleitet vom | |
| sächsischen NS-Funktionär Fritz Rößler, der nach 1945 zunächst der | |
| Entnazifizierung entging, als Lehrer unterrichtete und unter falschen Namen | |
| 1949 sogar in den Bundestag als Abgeordneter einzog, bis er 1952 aufflog. | |
| Im April 1945 kam ein Todesmarsch von KZ-Häftlingen durch Augustusburg, | |
| mehrere Menschen sind damals an den Folgen von Erschöpfung und Misshandlung | |
| gestorben. Forsbach hat dazu Interviews mit Zeitzeug:Innen geführt, die | |
| die halbverhungerten Häftlinge auf ihrem Weg nach Buchenwald gesehen | |
| hatten. Dokumentiert hat er das in den [4][„Augustusburger Protokollen“]. | |
| Die Augustusburg wird auch „Krone des Erzgebirges“ genannt, als Wahrzeichen | |
| thront sie über dem Ort und beherbergt zwei Museen für Kutschen und | |
| Motorräder. Über die NS-Geschichte ist dort noch nichts zu finden. Der | |
| Gasthof zum „Lehngericht“ steht unterhalb der Festung, aber die | |
| Schwingungen der Vergangenheit erfassen das Gebäude bestimmt. | |
| ## Eine Magna Charta von Tropfgeräuschen | |
| Viele, auch junge Menschen kommen, [5][um die experimentelle Elektronik der | |
| japanischen Künstlerin Tomoko Sauvage zu hören. Die in Paris lebende Frau | |
| arbeitet mit Kontaktmikrofonen in Wasserschalen]. Einzelne Tropfen, die sie | |
| von ihren Händen gleiten lässt und Wasserschlucke, die sie aus Bechern in | |
| die Schalen gießt, werden so von den Mikrofonen aufgezeichnet, mit einem | |
| Harmonizer-Effektgerät zu langen Hall- und Echofahnen konvertiert, bis eine | |
| Magna Charta von Fließ- und Tropfgeräuschen entsteht. Das meditative Perlen | |
| und Fließen ist anregend, aber nie zu esoterisch. | |
| Besonders herzlicher Applaus wird der bayerischen Musikerin Limpe Fuchs | |
| zuteil. [6][Die 82-Jährige hat einen völlig eigenen, naturnahen Zugang zur | |
| experimentellen und frei-improvisierten Musik.] Sie bringt Klangsteine mit, | |
| die sie selbst im italienisch-schweizerischen Bernina-Gebirge gesammelt hat | |
| und legt sie wie Klangstäbe auf das Gerippe eines Vibraphons, um diese mit | |
| Gummihämmern zu spielen. | |
| Dazu hat Fuchs eine Kabeltrommel mitgebracht, an deren Kabelenden sie | |
| zieht, bis eine Sinfonie des Quietschens entsteht. Große Trommeln hat sie | |
| an Befestigungsstangen in die Höhe gehängt und versetzt diese Metallstäbe | |
| in Schwingung. Dazu singt Limpe Fuchs gelegentlich in einer | |
| Fantasiesprache, zutiefst friedfertig, weltgewandt, die sicher noch eine | |
| Weile im Erzgebirge nachklingt. | |
| 3 Oct 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Moegliche-Europaeische-Kulturhauptstadt/!5635982 | |
| [2] /Kulturszene-in-Chemnitz/!5619232 | |
| [3] /Willy-Brandts-100-Geburtstag/!5052503 | |
| [4] http://augustusburger-protokolle.org/ | |
| [5] /Wassermusik-von-Tomoko-Sauvage/!5726379 | |
| [6] /Portraet-einer-grossen-Klangforscherin/!5815028 | |
| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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