# taz.de -- Expertin warnt vor Notstand: „Die Kitas stehen vor einem Kollaps�… | |
> Wegen Personalmangel fehlen im kommenden Jahr Hunderttausende Kitaplätze, | |
> warnt Bildungsexpertin Anette Stein. Die Finanzierung der Kitas sei | |
> unzureichend. | |
Bild: Vor allem in Ostdeutschland muss eine Fachkraft deutlich mehr Kinder betr… | |
taz: Frau Stein, seit Jahren treiben Bund und Länder den Kita-Ausbau massiv | |
voran. Dennoch fehlen [1][laut Ihren Berechnungen] im kommenden Jahr fast | |
400.000 Plätze. Wie kann das sein? | |
Anette Stein: Der zentrale Grund ist, dass parallel zum massiven Ausbau der | |
Kitaplätze auch der Bedarf der Eltern immer weiter gestiegen ist. Man darf | |
nicht vergessen, dass es in den westlichen Bundesländern lange unüblich | |
war, Kinder unter drei Jahren in die Betreuung zu geben. Das hat sich jetzt | |
in den vergangenen Jahren schon stark geändert. Dennoch sind die | |
Betreuungsquoten in den ostdeutschen Bundesländern nach wie vor viel höher. | |
Man kann aber davon ausgehen, dass sich die Bedarfe weiter angleichen | |
werden. Das Problem ist: Wir haben einfach zu wenig Personal. Damit können | |
wir den aktuellen Bedarf nicht decken, geschweige denn für eine | |
kindgerechte Qualität in den Kitas sorgen. Fast zehn Jahre nach | |
Inkrafttreten des Rechtsanspruchs ist das ein ernüchterndes Bild. | |
Der Nationale Bildungsbericht hat kürzlich den Personalnotstand [2][als | |
drängendstes Problem] in der frühkindlichen Bildung bezeichnet. Was müsste | |
aus Ihrer Sicht jetzt passieren? | |
Den massiven Personalmangel können wir nur nach und nach schließen. | |
Deswegen brauchen wir kurzfristige und mittelfristige Maßnahmen. Aktuell | |
ist entscheidend, dass die Fachkräfte, die da sind, die Aussicht bekommen | |
auf eine baldige Besserung der Gesamtsituation. Dazu braucht es eine klare | |
Strategie. Zum Beispiel müsste bald gesetzlich verankert werden, wie | |
Schritt für Schritt mehr Personal an die Kitas kommen soll. Auch bei der | |
Ausbildung muss sich einiges verbessern. Es fehlen Berufsschullehrer:innen, | |
um ausreichend Erzieher:innen auszubilden. Ein weiteres Problem: | |
Momentan erhalten immer noch nicht alle angehenden Erzieher:innen eine | |
Ausbildungsvergütung. Natürlich überlegt man sich das dann zweimal, wenn | |
man in anderen Ausbildungen schon gut verdient, man selbst aber vier, fünf | |
Jahre erst mal nichts verdienen soll. Eine Ausbildungsvergütung für alle | |
ist überfällig. | |
Ausbilden ist das eine. Viele Fachkräfte bleiben aber gar nicht im System, | |
weil die Belastungen hoch, die Bezahlung niedrig und die | |
Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt sind. | |
Wir wissen aus vielen Erhebungen, dass der Beruf bei jungen Menschen | |
eigentlich sehr attraktiv ist. In dem Moment, wo sie aber dann lesen oder | |
hören, wie die Rahmenbedingungen sind, sind viele so abgeschreckt, dass sie | |
gar nicht erst anfangen wollen. Von denen, die es trotzdem wagen, sind | |
viele schnell frustriert. Weil die Rahmenbedingungen sie daran hindern, | |
pädagogisch gut zu arbeiten, und der Job zudem eine große gesundheitliche | |
und psychische Belastung mit sich bringt. Deshalb ist es sehr wichtig, | |
schnell die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Neben | |
Entwicklungsperspektiven und einer besseren Bezahlung ist das vor allem ein | |
besserer Personalschlüssel. Der ist nicht nur für die Kinder gut, sondern | |
eben auch für die Fachkräfte. Aktuell stehen die Kitas aber vor einem | |
Kollaps. Das Aufgabenspektrum ist zu groß für die Personalnot. Deshalb wäre | |
jetzt dringend notwendig, auf manche Aufgaben zeitweise zu verzichten. | |
In Ihrer Studie schlagen Sie vor, die Dokumentation von Bildungsprozessen | |
oder die Durchführung von Tests an den Kitas einzuschränken. Nach den | |
alarmierenden Leistungen bei Grundschüler:innen fordern die | |
Bildungsminister:innen aktuell genau das Gegenteil. Mit mehr | |
verbindlichen Lernstandserhebungen und gezielter Förderung wollen sie die | |
hohe soziale Ungleichheit schon in der Kita angehen. | |
Es ist natürlich sinnvoll, die Kompetenzentwicklung sowie die Förderbedarfe | |
von Kindern auch in der Kita zu erheben. Die Länder haben hier auch bereits | |
verbindliche Vorgaben geschaffen. Das Problem ist nur, dass in der Praxis | |
dafür keine Zeit ist. Die Fachkräfte können diese Aufgaben in der jetzigen | |
Situation jedenfalls nicht leisten und erst recht keine zusätzlichen. Viele | |
Kitas sind in einer Notsituation, schränken schon jetzt ihre Öffnungszeiten | |
ein. Wenn sie ganz zumachen müssen, hat ein Kind, das vielleicht dringend | |
eine Förderung bräuchte, auch nichts davon. Aktuell müssen wir die | |
Fachkräfte entlasten, um den Kollaps zu vermeiden. Die pädagogischen | |
Aufgaben sollten jetzt im Fokus stehen. | |
Vor allem in den ostdeutschen Bundesländern muss eine Fachkraft im Schnitt | |
deutlich mehr Kinder betreuen, als Expert:innen empfehlen. Was bedeutet | |
das für die Qualität der frühkindlichen Bildung? | |
Die Situation ist sehr unterschiedlich in den Bundesländern. In Sachsen | |
beispielsweise ist der Personalschlüssel in 93 Prozent der Kitagruppen | |
nicht kindgerecht. In Baden-Württemberg, das seit Jahren unter den Ländern | |
die beste Betreuungssituation an Kitas hat, sind es immerhin nur 45 | |
Prozent. Trotzdem kann die Bildungsarbeit in vielen Kitas nicht in dem Maße | |
stattfinden, wie es sinnvoll wäre. Wenn ein:e Erzieher:in in einem der | |
östlichen Bundesländer sieben statt vier Krippenkinder betreuen muss, dann | |
kann sie gegebenenfalls noch die Betreuung gewährleisten, sicher aber keine | |
gute Bildungsarbeit machen. Das ist schlichtweg nicht möglich. Da kann die | |
Ausbildung noch so gut sein. | |
Können Sie ein Beispiel geben? | |
Nehmen wir die Sprachbildung. Sprache lernt man durch Sprechen und das | |
lernt man in der Interaktion. Und wenn ich doppelt so viele Kinder habe, | |
dann gibt es einfach weniger Sprachanlässe. Dann kann ich weniger mit dem | |
einzelnen Kind gezielt in einen Dialog treten. Das Gleiche gilt für | |
soziale, emotionale Entwicklungen. Das heißt: Die Rahmenbedingungen für die | |
Fachkräfte in den östlichen Bundesländern sind damit unendlich viel | |
schwieriger, um eine gute Bildungsarbeit zu leisten. Es ist klar, dass in | |
so einer Betreuungssituation gezielte Sprachförderung im Zweifel unter den | |
Tisch fällt. | |
Die Länder klagen aktuell, dass der Bund das bewährte Programm zur | |
Sprachförderung, „[3][Sprachkitas]“, im kommenden Jahr auslaufen lässt. W… | |
sehen Sie die Entscheidung? | |
Grundsätzlich halte ich die Idee für richtig, ein so zentrales Thema wie | |
Sprachförderung nicht nur bei einem Teil der Kitas, sondern bei allen Kitas | |
im Land zu stärken. Auch aus dieser Überlegung heraus kann ich sogar | |
nachvollziehen, dass man auch ein so erfolgreiches Programm wie die | |
Sprachkitas irgendwann auslaufen lässt. Allerdings muss in dem Fall | |
gewährleistet sein, dass jede Kita in der Lage ist, eine gute | |
alltagsintegrierte Sprachförderung zu machen. Das ist aber nicht der Fall. | |
Zweitens sehe ich kritisch, dass das Ende des Programms sehr kurzfristig | |
mitgeteilt wurde. Das hat in den Kitas zu unnötigen Sorgen geführt. | |
Der Plan von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) sieht vor, dass | |
Sprachkitas über [4][das neue „KiTa-Qualitätsgesetz“] weitergefördert | |
werden können. Insgesamt 4 Milliarden Euro will der Bund den Ländern | |
darüber in den nächsten zwei Jahren überweisen. Reicht das? | |
Ob jetzt der Bund hierfür mehr Geld geben sollte oder die Länder oder die | |
Kommunen, muss die Politik unter sich ausmachen. Fakt ist, dass die | |
Finanzierung nicht reicht, um Kitas kindgerecht auszustatten. Da sprechen | |
die Zahlen eine deutliche Sprache. Nach unserer Berechnung würde das im | |
Jahr 14 Milliarden Euro kosten. Allein um die Finanzierung aller Kitaplätze | |
im Land sicherzustellen, wären 4,3 Milliarden nötig. Man sieht also, wie | |
weit man mit den 2 Milliarden jährlich vom Bund kommt. Ich fände aber | |
wichtig, dass der Bund dauerhaft in Bildung investiert. Die zeitlich | |
begrenzten Programme führen bei den Ländern, Kommunen und Kitas immer | |
wieder zu großer Unsicherheit. | |
Der Bund hat mittlerweile auch einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung | |
an Grundschulen beschlossen. Glauben Sie, dass es besser klappt als mit den | |
Kitas? | |
Nein. Ehrlich gesagt halte ich die Umsetzung des Rechtsanspruchs bis 2026 | |
für völlig unrealistisch. Dafür sind die Voraussetzungen nicht gegeben. | |
Dennoch halte ich den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung inhaltlich für | |
äußerst sinnvoll. Wir brauchen das Konzept Ganztagsschule, auch um | |
benachteiligte Kinder entsprechend zu fördern. Das Konzept lebt ja davon, | |
dass es einen ganzheitlichen Zugang zu Bildung schafft und Lehrkräfte mit | |
Sozialpädagog:innen, Psycholog:innen und Sozialarbeiter:innen | |
kombiniert. Eines muss der Politik aber bewusst sein: Wenn ich nicht die | |
Fachkräfte habe, kann es nicht funktionieren. | |
26 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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