| # taz.de -- „Everything is cake“-Memes gehen viral: Eine Donauwelle des Int… | |
| > Seit Wochen ist das Internet voller Kuchen: als Text, als Bild, als | |
| > Video. Eine Annäherung an ein surrealistisches Meme-Phänomen. | |
| Bild: Ein Klavier ist ein Klavier? Oder doch ein Stück Kuchen? Bienenstich ode… | |
| Zunächst einmal ist da die technische Brillanz. Ein Mann füllt ein Glas mit | |
| Wasser, greift zum Messer, setzt an, zerschneidet das Glas. [1][Es ist: ein | |
| Kuchen]. Crocs, Messer im Anschlag, Kuchen. Seife, Messer, Kuchen. | |
| [2][Aubergine, Chipstüte, Kokosnuss, Klopapierrolle – alles Kuchen]. Ein | |
| Messer am Arm, ein Schnitt: ein Kuchen. Nichts ist, was es zu sein scheint, | |
| alles ist Kuchen. | |
| Ein Meme macht die Runde, so viral, wie es nur geht, bizarr, lustig, | |
| verstörend bisweilen, völlig abgedreht und vor allem gänzlich | |
| unverständlich für Außenstehende. Wobei es nicht viel bedarf, um drinnen zu | |
| sein. Einfach den Kuchen nehmen, wie er kommt. [3][Und er kommt überall]. | |
| Als Text, als Bild, als Video, dazu in unzähligen Sprachen wird seit Wochen | |
| Backwerk zu einem Grundrauschen in den sozialen Medien. | |
| Nichts und niemand ist davor sicher. Von anarchischem Geblödel bis zu | |
| aalglattem Marketing ist alles dabei. Eine Donauwelle des Internethumors in | |
| der dem Medium typischen Gleichzeitigkeit hermetischer Abgeschlossenheit | |
| und demokratischer Offenheit. Alle können mitbacken, wenn sie es denn | |
| gebacken kriegen. | |
| Die Frage, was das alles soll, ist falsch gestellt, wie bei jedem dieser | |
| Phänomene. Denn ein Meme will überhaupt nichts. Es bewegt sich als zumeist | |
| visuelle Manifestation eines breit verankerten Bewusstseinsinhalts, häufig | |
| handelt es sich um popkulturelle Partikel, durchs Netz, verbreitet sich im | |
| günstigsten Falle durch Variationen immer weiter. Es kann ein kurzer Hype | |
| sein oder ein langlebiges, immer wieder abrufbares und an neue Situationen | |
| anpassungsfähiges Bild. | |
| Nur wenige Sekunden lange Gifs überleben auf Facebook oder Twitter | |
| jahrelang als wiederverwendbare Kommentare, deren Bedeutungstiefe weit | |
| genug hinabreicht, um der beliebigen Betrachter*in einen anschlussfähigen | |
| Assoziationsraum zu eröffnen. Manchmal sind die Memes einfach nur eine | |
| Idee, ein Aufleuchten, das Kreativität weckt, die Lust am Spielen – oder im | |
| vorliegenden Fall: am Backen. | |
| ## Die illusorische Funktion | |
| Herauszufinden, warum ausgerechnet das Kuchenmeme so eine große Verbreitung | |
| findet, ist mehr amüsantes Ratespiel als präzise Wissenschaft. Ein Grund | |
| für den Erfolg mag die eher selten bewusste, aber dennoch enge Verbindung | |
| zu bekannten Ideen und visuellen Archetypen sein, die jeweils viel älter | |
| als das Internet sind. Die Frage nach dem tatsächlichen Charakter der | |
| sinnlich wahrnehmbaren Umwelt beispielsweise beschäftigt Menschen von | |
| Anbeginn. Dass die als weitestgehend unveränderlich wahrgenommene | |
| Lebensrealität von einem Tag auf den anderen grundlegend umgestoßen werden | |
| kann, gehört schon immer zum menschlichen Erfahrungsschatz. | |
| Selbst wer in welthistorisch ruhigen Zeiten lebt, wird spätestens mit dem | |
| Fakt des Todes als unumgänglichem Begleiter des Lebens konfrontiert und so | |
| mit mindestens dieser dramatischen Möglichkeit der Veränderung umgehen | |
| lernen müssen. Jede Sicherheit kann so als illusorische Funktion erkannt | |
| werden. Ein gegebenenfalls überraschender Kuchen, wenn man so will. Ein | |
| Schnitt und alles ist anders. Und dieses unfassbare Jahr 2020 mit seinen | |
| politischen und epidemiologischen Verwerfungen ist für die ganze Welt | |
| voller solcher überraschender und aus der Alltagsperspektive heraus | |
| vorher undenkbarer Schnitte, nicht jeder davon ein angenehmer. | |
| Das Bild der körperlichen Konsumption aller möglichen und unmöglichen | |
| Objekte und deren plötzlicher Wandel von einem Alltagsgegenstand zu einem | |
| Lebensmittel schließlich ist spätestens mit den Surrealisten ins | |
| Bildgedächtnis der Menschheit eingegraben. Hunger als Urtrieb ist so | |
| universell verständlich, dass jegliches Verlangen, jede Not, jede Lust sich | |
| darin zumindest in Gedanken übersetzen lässt. Und was denkbar ist, lässt | |
| sich abbilden, seit 125 Jahren auch in Bewegung. | |
| Die zeitgenössischen Meme-Produzent*innen sind dabei nicht die Ersten, | |
| denen es gelingt, den an sich blanken Horror, den der Verzehr eines | |
| Menschen auslösen sollte, mit dem Humor der überraschenden Bildsprache zu | |
| verbinden. Der tschechische Regisseur Jan Švankmajer trug sich seit den | |
| 1970ern mit der Idee zu einem Episodenfilm: „Das kleine Fressen“. Umsetzen | |
| konnte er das Werk wegen des herausfordernden politisch kritischen | |
| Untertons erst 1992, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. | |
| ## Der Wolf und der Kuchen | |
| [4][In einer der in Stopp-Motion gedrehten Episoden] beginnen zwei | |
| Restaurantgäste, die vergeblich nach dem Kellner rufen, unvermittelt, | |
| zuerst die Blumen auf dem Tisch zu essen, dann ihre Teller, Servietten und | |
| Tischtuch, schließlich den Tisch und die Stühle. Nachdem sie jeweils ihre | |
| Kleidung verzehrt haben, wird das Machtgefälle ihres Verhältnisses | |
| offenbar: Der eine macht sich daran, den anderen zu essen. Wenn alles und | |
| alle ihre Hüllen und der oberflächlich zugewiesenen Funktion entledigt | |
| sind, bleibt brutale Substanz. Gewalt und Ausgeliefertheit. Während der | |
| eine Mensch des anderen Wolf ist, muss der andere, nun ja, des einen Kuchen | |
| sein. | |
| Jede einzelne der Szenen Švankmajers würde, von der inzwischen archaisch | |
| anmutenden Technik abgesehen, als Teil des Kuchenmemes perfekt | |
| funktionieren. Ihre sorgfältig komponierte Abfolge jedoch zeigt, dass die | |
| Techniken der surrealistisch inspirierten Filmkunst sich mit der | |
| allgemeinen Zugänglichkeit der Produktionsmittel, wie Handykameras und | |
| digitaler Bildbearbeitung demokratisiert haben mögen. Ihre Ideen und die | |
| erzählerische Tiefe aber haben den elitären Charakter nicht verloren. | |
| Allgemein verfügbares Kunsthandwerk, wie die kurzen Netzvideos, kann seine | |
| Wurzeln so vielleicht vergessen, aber trotzdem nicht verleugnen. Denn die | |
| Unumgänglichkeit der allumfassenden Umdeutung zum Kuchen hat eine | |
| anarchische Energie, an der vielleicht auch ein surrealistischer | |
| [5][Regisseur wie Luis Buñuel] seine Freude hätte haben können. | |
| Denn so wie noch hochkommerzielle Disneycomics eine leise Spur der | |
| zugrunde liegenden Volksmärchen enthalten, in denen wiederum ein leises | |
| Echo bis zurück zu antiken Mythen zu vernehmen ist, steckt in jedem kleinen | |
| Kuchenfilmchen ein Hauch von Buñuels und [6][Dalís „Andalusischem Hund“] | |
| oder eben Švankmajers „Fressen“. Und jede Menge Spaß, sofern man sich | |
| darauf einlassen will. Aber das ist am Ende ja immer so, egal, ob das Leben | |
| Schwarzwälder Kirschtorte oder Bienenstich bereithält. In jedem Falle: | |
| Kuchen! | |
| 22 Jul 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://twitter.com/UniversallyCAPE/status/1282809733116764162?s=20 | |
| [2] https://twitter.com/mikekelton/status/1281333941354496002?s=20 | |
| [3] https://twitter.com/TheFknLizrdKing/status/1282132290454392832 | |
| [4] https://www.youtube.com/watch?v=0yM3uxZjdfo | |
| [5] /Das-Klo-im-Kino/!5676368 | |
| [6] /Literatur-Illustrationen-von-Salvador-Dali/!5354322 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniél Kretschmar | |
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