# taz.de -- Essay über Krieg und Frieden in Europa: Die zwei Herzen Europas | |
> Der Ukrainekrieg hat die Grenzen des Pazifismus aufgezeigt und ein | |
> vergessenes Prinzip wiederbelebt: den Widerstand gegen das Imperium. | |
Bild: Ausstellung von russischen Raketen in einer Straße in Charkiw | |
[1][Im Jahr 2003 veröffentlichten Jürgen Habermas und Jacques Derrida einen | |
gemeinsamen Artikel] in Deutschlands und Frankreichs führenden Zeitungen. | |
Darin kritisierten sie den amerikanische Überfall auf den Irak und | |
forderten die Europäer auf, eine reflexive Distanz zu sich selbst | |
einzunehmen, insbesondere zu ihrem Imperialismus und Kolonialismus. | |
Habermas und Derrida stellten sich alternativ ein postimperiales Europa | |
vor, das „die kantische Hoffnung auf eine Weltinnenpolitik“ erfüllt. | |
Ihr Aufruf, dass Europa die Welt in eine postimperiale Zukunft führen | |
solle, war eine schöne Idee. Heute jedoch, angesichts des | |
völkermörderischen Überfalls Russlands auf die Ukraine, stellt sich die | |
Frage, ob eine solche postimperialistische Welt mit den von den beiden | |
Philosophen vorgeschlagenen Mitteln erreicht werden kann. | |
Das Europa, das sie sich vorstellten, war ein Europa des Dialogs und des | |
Gesprächs, in dem Unterschiede akzeptiert werden. Das ist gewiss eine | |
ehrenwerte Idee. Das Problem ist nur, dass sie dem Bösen gegenüber machtlos | |
ist. | |
## Die Frage des Bösen relativieren | |
Das europäische Selbstverständnis nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte | |
sich auf die Selbstverständlichkeit des Friedens. Die Frage war, wie das | |
Territorium, in dem Frieden herrschte, vergrößert werden könnte, aber | |
nicht, wie der Frieden verteidigt werden sollte. Europa war von der Idee | |
angezogen, die Grenzen für den freien Verkehr von Gutem und Gütern | |
abzuschaffen, aber gleichgültig gegenüber der Überlegung, wie die Grenzen | |
gegen das Böse gestärkt werden könnten. | |
Man relativierte die Frage des Bösen, indem man davon ausging, dass alles | |
Böse einfach durch die Attraktivität des Guten reintegriert werden kann. | |
Diese Überzeugung prägte Europas lang anhaltende Affäre mit Russland. In | |
dieser Beziehung nahm Europa Goethes „Faust“ wörtlich: Es probierte die | |
Idee aus, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen. Allerdings vergaß es | |
dabei, wie die Geschichte endet. | |
Nachkriegseuropa und einige seiner bedeutendsten Intellektuellen, darunter | |
Habermas und Derrida, haben auch wesentliche Ursprünge des europäischen | |
Projekts vergessen. Diese waren nämlich nicht in erster Linie der „freie | |
Markt“, die „wirtschaftliche Integration“ oder gar die Beseitigung der | |
Grenzen. Vielmehr ging es darum, die Idee des Imperiums mit der Idee der | |
Republik zu konfrontieren. | |
Die Philosophen der Nachkriegszeit haben gut formuliert, wie imperiale (und | |
postimperiale) Nationen ihre eigenen imperialen Instinkte überwinden | |
können. Aber sie blieben blind dafür, was nichtimperiale Gesellschaften tun | |
müssen, wenn sie mit neoimperialer Aggression konfrontiert werden. Die | |
Ursprünge der europäischen Idee enthalten jedoch eine Antwort auf genau | |
diese Frage. | |
## Republiken gegen Imperien | |
[2][Richard von Coudenhove-Kalergi] – Autor des prophetischen Buches | |
„Pan-Europa“, das 1923 veröffentlicht wurde – ist als visionärer | |
Wegbereiter Nachkriegseuropas gepriesen worden, aber seine wichtigsten | |
Argumente sind weitgehend in Vergessenheit geraten. Sie berührten die große | |
Frage: Wie können sich Republiken gegen besessene Imperien (damals | |
Deutschland und Russland) verteidigen, insbesondere wenn diese Republiken | |
kleiner und schwächer sind? | |
Coudenhove-Kalergis Antwort war klar: nur durch die Schaffung einer | |
Konföderation von Republiken, einer Sicherheitsunion – nicht nur einer | |
wirtschaftlichen oder politischen Union –, die viel schwieriger anzugreifen | |
sein wird als isolierte Nationalstaaten. Es wäre eine Union, die ein | |
Gleichgewicht zwischen den Vorteilen des Friedens und der Notwendigkeit, | |
ihn zu verteidigen, anstrebt. Ein Gleichgewicht zwischen Agora und Agon. | |
Europa wurde auf zwei ethischen Systemen aufgebaut: zwei Arten, die Haltung | |
gegenüber dem anderen zu bestimmen. Das eine ist die Ethik der Agora, eine | |
Ethik des Austauschs. In der Agora geben wir etwas, um mehr zu bekommen, | |
als wir hatten. Wir tauschen Waren, Gegenstände, Ideen und Erfahrungen. Die | |
Agora ist ein Positivsummenspiel: Jeder gewinnt, auch wenn einige | |
versuchen, mehr zu bekommen als die anderen. | |
Das zweite ethische System ist das des Agon. Der Agon ist ein Schlachtfeld. | |
Wir betreten den Agon nicht, um zu tauschen, sondern um zu kämpfen. Wir | |
träumen davon, zu gewinnen, sind aber auch bereit, zu verlieren – auch uns | |
selbst, sogar im wörtlichen Sinne des Sterbens für eine große Sache. Hier | |
gilt nicht die Logik eines Positivsummenspiels; es kann keine | |
Win-win-Situation geben, denn eine der beiden Seiten wird mit Sicherheit | |
verlieren. | |
## Agora und Agon im Wechsel | |
Der Aufbau Europas basiert auf einer Kombination aus Agora und Agon. | |
Europas kulturelles Erbe ist ohne die Ethik des Agon nicht denkbar: ob es | |
sich um mittelalterliche Romane mit ihrem Kult der Ritterlichkeit und Treue | |
handelt oder um frühneuzeitliche Dramen, deren Figuren für ihre Prinzipien | |
und Leidenschaften sterben. Aber Europa ist auch undenkbar ohne die Kultur | |
der Agora, des Gesprächs, des Kompromisses, der Sanftheit, der mœurs doux | |
von Voltaire. | |
Der europäische Kulturkanon enthält auch Kritik an beiden, Agora und Agon, | |
wenn diese zu weit gehen. Er umfasst Angriffe auf die ritterliche Kultur | |
und den Kult des Krieges (von Cervantes bis Remarque) ebenso wie auf die | |
bürgerliche Kultur des Austauschs (von Molière bis Balzac). | |
Diese beiden ethischen Systeme enthalten tiefe menschliche Werte. Aber wenn | |
man sie auf die Spitze treibt, sind beide gefährlich und müssen durch das | |
jeweils andere System ausgeglichen werden. | |
## Ethiken im Gleichgewicht | |
Die Ethik des Agons lehrt uns, alle Menschen als potenzielle Gegner zu | |
sehen und jede Interaktion als latenten Kampf zu betrachten. Das kann zu | |
einem Krieg aller gegen alle führen. Was Hobbes im „Leviathan“ als | |
Naturzustand beschreibt, ist in Wirklichkeit eine hochentwickelte Stufe der | |
gesellschaftlichen Evolution, die die Kriegerethik verabsolutiert und | |
jeden anderen als Bedrohung betrachtet. | |
Die radikale Agora-Ethik verabsolutiert dagegen den Austausch und den | |
Kompromiss. Hier sind Austausch und Dialog die ultimative Antwort auf alle | |
Fragen. Kriege und Konflikte werden als Folgen des menschlichen Wahnsinns | |
betrachtet, und der einzige Grund, warum Menschen streiten, ist, dass sie | |
nicht die Möglichkeit hatten, ausreichend miteinander zu reden. | |
Wenn die Logik der Agora universell und unbeschränkt angewandt wird, | |
verlieren wir das Gefühl dafür, wo wir in unserer Leidenschaft für den | |
Austausch aufhören sollen. Wir können und sollten nicht mit einem Mörder in | |
dem Moment reden, in dem er uns umbringen will; und wir können und sollten | |
nicht das Leben unserer Angehörigen oder unserer Mitbürger gegen etwas | |
anderes „eintauschen“. | |
So entstehen Wahrheit und Gerechtigkeit als Gleichgewicht zwischen unserer | |
Bereitschaft zum Tausch und unserer Einsicht, dass manche Dinge gegen | |
nichts eintauschbar, dass sie unersetzlich sind – zum Beispiel das | |
menschliche Leben. Trotz ihrer philosophischen Differenzen teilten Habermas | |
und Derrida etwas Wichtiges: die Idee, dass die Agora den Agon ersetzen und | |
ihn in Vergessenheit geraten lassen sollte. | |
## Wo die Philosophen irrten | |
Habermas setzt auf einen unendlichen Raum der Kommunikation, in dem jeder | |
bereit sein sollte, seine Positionen zu korrigieren, wenn er mit neuen | |
rationalen Argumenten konfrontiert wird. Derrida baute seine Philosophie | |
auf der Idee auf, dass die westliche Metaphysik eine „Diktatur der Präsenz“ | |
ist, der unersetzlichen Stimme eines metaphysischen Vaters, und dass die | |
einzige Möglichkeit, ihr entgegenzuwirken, in der Idee unendlicher | |
Ersetzungen und Neuinterpretationen besteht. Dies geschieht durch das, was | |
er als Schrift (écriture) bezeichnet. | |
Während Habermas versucht, die Ausdehnung der Vernunft zu gewährleisten, | |
war Derrida an der Beharrlichkeit dessen interessiert, was sich der | |
Kontrolle der Vernunft entzieht. Beide glaubten jedoch, dass ein ewiger | |
Prozess des Austauschs und der Ersetzung die Antwort auf den religiösen und | |
metaphysischen Dogmatismus früherer Epochen sei. Sie versuchten beide, das | |
Unersetzliche zu untergraben. | |
Das Problem, das sie nicht erkannten, ist, dass es ohne Agon keine Agora | |
gibt. Man kann keinen unendlichen Dialog innerhalb eines Stadtstaates | |
führen, wenn man nicht eine Befestigung baut, die die Stadt vor Angreifern | |
schützt. [3][Das Europa von Habermas] und Derrida war auf dem naiven | |
Glauben aufgebaut, dass es keine Feinde mehr gebe und man sich um | |
Sicherheit keine Sorgen mehr machen müsse. | |
Die Heuchelei, die der Vorstellung von Europa als einem Kontinent des | |
„ewigen Friedens“ und der „unendlichen Agora“ innewohnt, besteht darin, | |
dass dies nur unter dem Sicherheitsschirm der Nato möglich wurde. Habermas | |
und Derrida hatten recht, als sie den amerikanischen Imperialismus | |
anprangerten, aber sie hatten unrecht, Amerika als Europas wichtigsten | |
Partner abzulehnen. | |
## Amerika und Europa | |
Während Europa Wohlfahrtsstaaten aufbaute, schuf Amerika einen | |
Sicherheitsrahmen, der die Voraussetzungen dafür bot, dass Europa weiterhin | |
ein soziales Paradies sein konnte. Die Amerikaner sind nicht vom Mars und | |
die Europäer nicht von der Venus, wie Robert Kagan glaubte; Amerika füllte | |
lediglich die Lücke des Agon, die Europa hinterlassen hatte, indem es zu | |
sehr an die Selbstverständlichkeit des Friedens und die Selbstreproduktion | |
der Agoras glaubte. | |
Der Irakkrieg von 2003 war das Ergebnis einer Demokratie, die sich selbst | |
betrog und ihren Imperialismus hinter einer demokratischen Rhetorik | |
verbarg. Das Jahr 2003 war das Ergebnis eines anachronistischen | |
Selbstvertrauens – getragen von der Vorstellung vom „[4][Ende der | |
Geschichte]“. Zwanzig Jahre später leben wir in einer anderen Realität. Die | |
Demokratie verwandelt sich nicht länger in ein Imperium, sondern sie wird | |
vom Imperium angegriffen. Dieses Imperium und seine autoritären Verbündeten | |
sehen, dass die Demokratien schwach und ungeschützt sind. | |
Der laufende russische Krieg gegen die Ukraine ist ein Angriff auf Europa. | |
Russland ist im Krieg mit Europa. Diese Tatsache müssen wir endlich | |
vollständig akzeptieren und alle notwendigen Konsequenzen ziehen. Die Agora | |
ist nicht genug. Manchmal muss man sie verteidigen und den Agon | |
wiederbeleben. Nicht, weil man Krieg will, sondern weil der Krieg manchmal | |
zu einem kommt.[5][[https://www.eurozine.com/europes-two-hearts/]] | |
20 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kuwi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/vs/politik3/Lehre_SS_2010/Haber… | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Coudenhove-Kalergi | |
[3] /Debatte-um-Verhandlungen-im-Ukrainekrieg/!5913766 | |
[4] /Fukuyama-gegen-Identitaetspolitik/!5539669 | |
[5] https://www.eurozine.com/europes-two-hearts/ | |
## AUTOREN | |
Volodymyr Yermolenko | |
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