# taz.de -- Erinnerungpolitik in Europa: Der große Geschichtsbrei | |
> Der Totalitarismus ist zu einer Ideologie verkommen, die der | |
> Verharmlosung rechtsextremer Bewegungen dient. Schluss damit! | |
Bild: Totalitarismus ist ein wissenschaftliches Konzept, das nicht zuletzt auf … | |
Im September 2019 hat das Europäische Parlament eine Resolution | |
verabschiedet. Der Titel: „Die Bedeutung der europäischen Erinnerung für | |
die Zukunft Europas“. Was zunächst harmlos und ehrenwert klingt, ist in | |
Wirklichkeit hochproblematisch: Der Beschluss postuliert eine gemeinsame | |
Leidensgeschichte des Kontinents unter nationalsozialistischer und | |
kommunistischer Herrschaft, die mit dem Begriff des Totalitarismus | |
gleichgesetzt werden. Eine Geschichtsgemeinschaft unter diesem Paradigma | |
verzerrt jedoch die unterschiedlichen Erfahrungen der [1][Verfolgung und | |
Erinnerung] an die deutsche Besatzungsherrschaft in Nord-, Ost-, Süd- und | |
Westeuropa. Außerdem banalisiert sie die singulären deutschen | |
Menschheitsverbrechen an den europäischen Juden sowie Sinti und Roma. | |
Dies gilt insbesondere für Gesellschaften, die den deutschen | |
Antikommunismus teilten und mit dem deutschen Antisemitismus | |
sympathisierten. Gerade das Ausblenden dieser unterschiedlichen | |
Perspektiven zwischen Tätern und Opfern verhindert indes eine Erinnerung, | |
die die [2][historischen Gegebenheiten] und deren heutige Relevanz | |
differenziert beurteilt. | |
Das findet seine Entsprechung in der Gleichsetzung des Extremismus von | |
rechts und von links, welcher die Mitte der Gesellschaft gleichermaßen von | |
ihren Rändern bedrohe und womit zuletzt CDU und FDP in Thüringen ihr | |
Wahlverhalten erklärten. Sie schreiben sich selbst eine erfolgreiche | |
Aufarbeitung der Vergangenheit zu, die sie anderen Akteuren nicht | |
zubilligen: Eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei sei wegen der | |
Verbrechen des Kommunismus unmöglich, nicht weil diese Partei aktuell | |
extremistisch wäre. Die Geschichte – in vulgärpopulistischer Sicht – wird | |
damit zum Maßstab heutiger politischer Redlichkeit. | |
Mit der doppelten Verdammung der Vergangenheit einher geht die | |
Verharmlosung heutiger rechter Bewegungen sowie rassistischer und | |
antisemitischer Straftaten: Die Statistik zählt allein für Deutschland 2018 | |
annähernd 20.000 rechtsextremistisch motivierte Delikte, denen weniger als | |
5.000 aus dem linken Spektrum gegenüberstehen. Der Mord an Walter Lübcke, | |
das Attentat von Halle, das Massaker von Hanau und die unvollständige | |
Aufklärung des NSU-Komplexes zeigen die Qualität des seit Jahrzehnten | |
verharmlosten rechten Gewaltpotenzials, das in ganz Europa eine Bedrohung | |
für die Demokratie darstellt. | |
Die aktuelle Initiative für eine europäische Geschichtsgemeinschaft kommt | |
zwar aus Ostmitteleuropa und war ursprünglich nicht vom Gedanken einer | |
Relativierung des Nationalsozialismus getragen. Paradoxerweise knüpft sie | |
jedoch nahtlos an bundesdeutsche Deutungsangebote an, die aus den | |
Leerstellen der lange verweigerten Verantwortung für die deutschen | |
Verbrechen erwachsen sind. Die Wurzeln dieses politischen Vorstoßes liegen | |
in der Dissidentenbewegung des Kalten Kriegs, die mit den kommunistischen | |
Machthabern auch einen Kampf um die Vergangenheit austrug. Indem sie die | |
stalinistischen Verbrechen thematisierte, delegitimierte sie die | |
realsozialistischen Regime des Ostblocks; zugleich wurde die eigene | |
Stellung gestärkt, weil man die „Wahrheit“ aussprach und für sie stand. | |
Und so wie die osteuropäischen Regierungschefs in eine Linie mit Hitler | |
rückten, erhöhte sich zugleich der eigene Opferstatus, weil er scheinbar in | |
der Kontinuität der Judenverfolgung stand. Außerdem unterblieb eine | |
differenzierte Betrachtung auch des eigenen Handelns [3][unter deutscher | |
Besatzung]. | |
Damals war das auch ein Angebot an den Westen, ein Anknüpfen an den | |
dortigen Holocaust-Diskurs – und wurde in konservativen Kreisen etwa der | |
CDU unter Helmut Kohl bereitwillig als Argument gegen Kommunisten und Linke | |
aufgegriffen. So konnte sich die Bundesrepublik diskursiv zum Meister der | |
Geschichtsaufarbeitung wandeln, trotz einer Jahrzehnte andauernden | |
Verweigerungshaltung gegenüber Entschädigungen, etwa für | |
ZwangsarbeiterInnen, oder auch nur der Anerkenntnis von Unrecht, etwa bei | |
der Verfolgung von Sinti und Roma, von Homosexuellen oder sogenannten | |
Asozialen. Dank dieser brüchigen „Bewältigung“ war zuletzt in Thüringen | |
ganz machtpragmatisch eine Wahl mit Stimmen der AfD möglich – schließlich | |
stünde außer Frage, dass man selbst keinerlei Sympathien für den | |
Nationalsozialismus habe. | |
Jenseits der aktuellen deutschen Perspektive schienen die großen | |
Deutungsschlachten über die Vergangenheit mit dem Fall des Eisernen | |
Vorhangs geschlagen. Aber im 21. Jahrhundert kommt es zur Rückkehr der | |
Geschichte: Die Regierungen der östlichen EU-Mitgliedsländer legitimieren | |
mit dem Totalitarismus ihre Politik, untermauern Forderungen durch den | |
Hinweis auf die doppelte Opferrolle erst unter dem | |
Nationalsozialismus, dann unter dem Kommunismus. | |
Auch innenpolitisch funktioniert dieses Narrativ vom Aussprechen einer | |
unbequemen Wahrheit, deren Aufarbeitung die Linken lange vernachlässigt | |
habe, als nationalistische Mobilisierungsstrategie: weil es ein Aufstehen | |
gegen den dominanten Westen und dessen angebliche Fixierung auf den | |
Holocaust impliziert. Es ist eine Diskurstaktik, die auch | |
rechtspopulistische Bewegungen pflegen: Man geriert sich als Kämpfer gegen | |
eine vorgebliche politische Korrektheit und einen linken Mainstream. Und | |
indem der Nationalsozialismus und die Genozide an den europäischen Juden | |
und den Sinti und Roma zum Popanz erhoben werden, spricht man ihnen die | |
Bedeutung ab. | |
## Alle Diktaturen über einen Kamm geschoren | |
Als „Totalitarismus“ werden zugleich alle kommunistischen Diktaturen über | |
einen Kamm geschoren und mit den aktuellen linken und linksradikalen | |
Strömungen – sowie natürlich dem Nationalsozialismus – gleichgesetzt. | |
Dieser ganz große Geschichtsbrei nivelliert die qualitativen Unterschiede, | |
macht alles irgendwie vage und unkonkret und lässt sich wunderbar für | |
politische Zwecke instrumentalisieren. Das freilich ist dann weniger die | |
Fortsetzung von Debatten aus dem Kalten Krieg als vielmehr der Kampf um | |
historische Deutungshoheit in den westlichen liberalen Demokratien – denn | |
in Osteuropa sind diese Sichtweisen bereits weitgehend Konsens. | |
Das nimmt Geschichtsfälschungen billigend in Kauf, etwa wenn der Zweite | |
Weltkrieg zu einer Folge des Hitler-Stalin-Pakts erklärt wird, ohne | |
deutlich zu machen, dass Hitlers Kriegsabsichten davon nun wirklich nicht | |
abhingen und die in Deutschland staatlich organisierte rassistische | |
Verfolgung bereits vor dem Überfall auf Polen begonnen hatte. Und mehr | |
noch, der Angriff auf die Sowjetunion durch NS-Deutschland gemeinsam mit | |
den faschistischen Verbündeten aus Italien, der Slowakei, Rumänien, Ungarn | |
sowie aus Finnland wird so zur Verteidigung gegen die kommunistische Gefahr | |
umgedeutet und führt teilweise zur Rehabilitierung oder zumindest | |
Verklärung der „Judenjagd“ als antikommunistischem Widerstand. Doch genauso | |
wie die Kollaboration der besetzten osteuropäischen Länder geschah er im | |
Namen von Nationalismus und Rassenhass – und war der blutigste | |
Vernichtungskrieg der Geschichte. Von den über 60 Millionen zivilen und | |
militärischen Toten der Jahre 1939 bis 1945 starben weniger als 2 Prozent | |
in Konsequenz sowjetischer Aggression. | |
Eine europäische Erinnerung, insbesondere wenn sie über die Grenzen der | |
Europäischen Union hinausreichen soll, muss natürlich auch der annähernd 20 | |
Millionen Opfer des Stalinismus – davon über 90 Prozent in der Sowjetunion | |
– gedenken. Und selbstverständlich müssen die kommunistischen Diktaturen | |
der Nachkriegszeit erinnert werden. Aber es ist eine Verhöhnung der Opfer | |
und eine erinnerungspolitische Katastrophe, Hitler und Honnecker, Stalin | |
und Mussolini oder Franco und Gierek unterschiedslos unter dem Rubrum | |
„Totalitarismus“ zu betrachten. Denn bei allen Schrecken: Hohenschönhausen | |
war nicht Auschwitz. | |
Totalitarismus ist ein wissenschaftliches Konzept, das nicht zuletzt auf | |
Hannah Arendt zurückgeht. Heute ist es zu einer Ideologie verkommen, die | |
statt trennscharfer Analysen nur noch der Legitimation nationalistischer | |
Sichtweisen dient. Die damit einhergehende Geschichtsfälschung relativiert | |
Holocaust und Vernichtungskrieg und führt in letzter Konsequenz zu einer | |
Verharmlosung rechtsextremer Bewegungen. Nicht nur die Geschichte, auch die | |
aktuellen Entwicklungen zeigen, dass das hochproblematisch ist und der | |
Aufarbeitung beider Komplexe nicht gerecht wird. Das ehrenwerte Anliegen, | |
aller Opfer zu gedenken, wird missbraucht – dabei ist heute wichtiger denn | |
je, was einst der Buchenwald-Häftling Dietrich Bonhoeffer formulierte: | |
„nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in | |
die Speichen zu fallen“. | |
5 Mar 2020 | |
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Stephan Lehnstaedt, | |
Kamil Majchrzak | |
Stephan Lehnstaedt | |
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