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# taz.de -- Eltern, Schule und Corona: Wandel ist die neue Norm
> Nach Corona darf es in den Schulen kein Weiter so geben. Nötig ist ein
> ehrlicher Blick auf die Mängel in der Bildung – besonders im Digitalen.
Bild: Nicht nur Trostplaster für Eltern
Wir sind Eltern. Selbstständige Eltern. Unsere Kinder sind 9, 6 und 2 Jahre
alt; zwei in der Grundschule und der Kleine in der Kita. Was uns durch die
Krise bewusst wird, ist, dass wir – stellvertretend für so viele Familien –
nicht wichtig sind. Wir sind weder systemrelevant, noch haben wir eine
Lobby. Ich dachte immer, dass wir das auch nicht wirklich brauchen, denn
unsere Kinder sind die Zukunft des Landes. Corona hat uns eines Besseren
belehrt.
Während die Videoproduktionsfirma meines Mannes seit März keine Aufträge
mehr bekommen hat, könnte ich mit meiner im Frühjahr gegründeten Firma, die
neue digitale Lernformate für Schüler, Eltern und Lehrer anbietet, richtig
durchstarten. Genug zu tun gibt es. Könnte – denn Zeit war für viele
Familien in den vergangenen Monaten ein noch kostbareres Gut als vor der
Pandemie.
Zugegebenermaßen ist unser Alltag immer eng getaktet und auch immer nahe am
Kollaps – das gehört heutzutage dazu, wenn beide Elternteile Vollzeit
arbeiten. Plan A, B und C muss man immer in der Schublade haben, damit
Familie und Job überhaupt vereinbar sind. Einspringen, Verantwortung
übernehmen und auch tragen, das wird von Eltern erwartet. Das können wir
und sind es auch gewohnt. Corona hat jedoch Belastungsgrenzen und
-kapazitäten noch einmal unverkennbar verschoben.
Deutlich sichtbar ist für mich, dass die Krise Familien transformiert. Es
ist für mich hart zu sehen, wie sich die Kinderlosen mit Entschleunigung
und tagelangen [1][Netflix-Abenteuern] entspannt ihren Berufen widmen
können, während Eltern täglich weit über ihre Kräfte hinaus gehen müssen
und dennoch niemandem gerecht werden, am wenigsten sich selbst.
Jeder, der darüber nachdenkt, Nachwuchs zu bekommen, überlegt sich das
jetzt wohl noch einmal genau. Denn privilegiert sind in den momentanen
Zeiten die Menschen ohne kleine Kinder. Kinder werden zum Luxus. [2][Frauen
schränken sich ein], stellen ihre Bedürfnisse hintan. Sie haben oft mehr
Geduld mit den Schulaufgaben als die Väter und priorisieren anders. Ob
richtiger, ist die Frage – aber die stellt sich in der Krisensituation eher
selten, denn man hat keine Wahl.
## Klassisch ostdeutsch
Mein Mann und ich leben in einem sehr partnerschaftlichen Haushalt –
klassisch ostdeutsch, wo sich für mich nie die Frage gestellt hat, ob ich
arbeiten will oder kann. Das muss beides hinzubekommen sein – mit guter
Koordination und viel Einsatz. Jetzt, wo wir wissen, was uns Corona
abverlangt, kein Impfstoff gefunden und das nächste gefährliche Virus nicht
auszuschließen ist, können wir das immer noch guten Gewissens sagen? Nein.
Alles in unserer Umgebung verändert sich rasend schnell. Wandel ist die
neue Norm in allen Bereichen des Lebens. Nur wir Menschen tendieren dazu,
unsere Verhaltens- und Denkweisen eher langsam anzupassen – oft nur mit dem
dafür notwendigen Maß an Betroffenheit. Komfortzonen sind zu bequem, um
aufgegeben zu werden, und der Status quo ist zu beruhigend, um ihn
verändern zu wollen.
Diesem Thema widme ich mich in meiner Arbeit, mit der ich das Verständnis
dafür schaffen möchte, aufgeschlossen für Veränderung zu sein. Das ist die
notwendige Basis, der Anfang für Neues. Wer das „Warum“ versteht, die
Alternativen kennt und die Notwendigkeit einsieht und sieht, was der
kurzfristige größere Aufwand an positiver Veränderung mit sich bringt, der
arbeitet auch gern aktiv am Erreichen einer gemeinsamen Vision.
Dieser größere Aufwand ist allerdings nie nur spaßig. Das trifft auch auf
uns zu, da man in der Krise neben der Berufstätigkeit nicht mehr nur Vater
und Mutter, sondern auch Lehrer, Erzieher, Freund und Freundin,
Spielkamerad, Koch und Putzfrau sein muss. Mein Mann und ich haben es sogar
geschafft, uns darüber zu streiten, wer denn einkaufen gehen „darf“ – es
gibt ihn nämlich nicht, den Moment der Freiheit, in dem man nicht mehr
kindgesteuert ist! Dass das dauerhaft keine Lösung ist, ist einleuchtend.
## Phasen einer Krise
Als Familie haben wir alle Phasen einer Krise durchlaufen: Zuerst blickten
wir mit naiver Zuversicht und Vertrauen auf den Lockdown. Wir
konzentrierten uns auf uns selbst und hatten dabei kein schlechtes
Gewissen, weil man schlichtweg nichts verpasste. Es folgte nach Ostern der
Schock. Ja, wir waren eindeutig zu optimistisch mit unseren Vorstellungen,
wie eine Betreuung der Kinder in der Krise aussehen könnte.
Festzustellen, dass alle nicht „systemrelevanten“ Eltern die Versorgung,
Betreuung und Beschulung der Kinder auf unbestimmte Zeit selbst zu stemmen
haben, war ernüchternd und brutal zugleich. Auf das starke Gefühl, als
Eltern mit kleinen Kindern diskriminiert zu werden und einer
Perspektivlosigkeit ausgeliefert zu sein, folgte die Hoffnung, dass die
Anstrengungen nicht nur ein bloßes Zurück zur alten Normalität zur Folge
haben.
Eine wirkliche Neuorientierung und Reflexion bezüglich der aufgedeckten
Schwächen des Schulsystems wäre das Mindeste. Eine Neuorientierung, die
nicht nur Trostpflaster oder lange Diskussionen ohne Ergebnisse produziert,
sondern von Grund auf die Dinge infrage stellt.
Kommende Woche beginnen in Berlin die Sommerferien, und endlich ist Licht
am Ende des Tunnels: Ferienhort und die Aussicht auf reguläre Schule im
neuen Schuljahr – wenn da nicht ein Coronafall in unserer Schule oder Kita
oder ein Ansteckungshotspot im Bezirk dazwischenkommt und das scheinbare
Allzweckmittel der Schul- und Kitaschließung greift. Diese Angst und auch
das Wissen, dass heute Entschiedenes morgen vielleicht nicht mehr gilt,
bleibt.
Die negativen Gedanken der momentanen Situation hinter sich lassend,
wünsche ich mir krisensichere Lösungen. Der Weg dahin wird nicht leicht
sein und unbequem – und zwar nicht nur für Schüler, Lehrer und Eltern,
sondern dort, wo die Regeln gemacht werden: in den Kultusministerien der
Länder, aber auch im Bund.
Prozesse gehören infrage gestellt, gleichzeitig müssen diverse Perspektiven
und Ideen aus der Praxis einbezogen werden. Dazu gehören Wettbewerb,
Anreize und Belohnungen für Veränderung, Agilität und Flexibilität,
Kreativität in der Umsetzung und der Wille, zu lernen und das neu Gelernte
auch umzusetzen.
Unsere Behörden wurden in der Vergangenheit krankgespart. Unsere Schulen
auch. Auch da fehlt die Perspektive – denn Engagement wird, wenn überhaupt,
nur mit glücklichen Kinderaugen und einem warmen Händedruck belohnt. Das
reicht nicht. Wir brauchen wieder Lust auf Zukunft und Bildung – weg von
Negativität, Populismus und Polarisierung, hin zu einer gemeinsamen Vision!
Gepaart mit konstruktiver Ehrlichkeit mit allen Beteiligten und Fairness,
aber vor allem guter Kommunikation.
## Einmal Lehrer, immer Lehrer
Die Art, wie bisher in der Bildungspolitik gearbeitet wurde, muss überdacht
werden. Die Kultusministerkonferenz hatte 2016 „Bildung in der digitalen
Welt“ beschlossen. Der Digitalpakt wurde im vergangenen Jahr auf den Weg
gebracht. Das unbefriedigende Ergebnis sahen wir in der Zeit der
geschlossenen Schulen. Der reine Verweis auf den Föderalismus ist überholt.
Die Politik muss zuhören und transformative Prozesse ankurbeln. Denn die
Ämter reagieren nur, statt dass sie agieren; Verantwortlichkeiten sind
unklar; die bürokratischen Prozesse sind starr; Regeln sind überholt; der
Wille, wirklich Strukturen zu verändern, ist kaum vorhanden. Und es gilt:
einmal Lehrer, immer Lehrer. Wenn man einen Job im öffentlichen Dienst
ergattert hat, wird man diesen nicht gegen Ungewissheit und Konkurrenzkampf
aufgeben.
Die Kollateralschäden des Lockdowns sind immens, und der Krisenmodus ist
nicht ewig aufrechtzuerhalten. Ich fürchte mich davor, dass alle bald
wieder beim „Weiter so“ sind und veraltete Routinen wieder aufgenommen
werden. Transformation in der Schule heißt grundlegende Veränderung, und
wenn etwas Positives aus dieser Krise hervorgehen soll, dann muss das für
alle gelten. Dafür braucht es aber ein gemeinsames Verständnis von dem, wie
die Zukunft aussehen kann. Ich bezweifle, dass alle Lehrer eine Vorstellung
davon haben, was Schule digital sein kann – für mich bedeutet das nicht der
Upload von PDFs. Doch erst mit einem klaren Ziel vor Augen werden diese
Ziele erreichbar.
Deshalb wünsche ich mir, dass wir aufhören, das Fehlen einer Vision zu
bemänteln, indem wir etwa die desolate Netzabdeckung in Deutschland
vorschieben oder immer wieder die nicht vorhandene Hardware für die Schüler
thematisieren. Das kann kein Vorwand sein, um Bemühungen, zum Beispiel die
Digitalkompetenz von Lehrern zu verbessern, zu blockieren. So treten wir
auf der Stelle. Altbekannte Probleme sollten separat angegangen werden,
während zukunftsweisende, umsetzbare Konzepte, die nicht nur den
Bildungsauftrag, sondern auch die Entlastung von Eltern als Ziel haben
müssen, auf die Agenda gehören. Ein wichtiges Zeichen setzte der
Ideenwettbewerb #wirfürschule, auf dem digitale und nichtdigitale Lösungen
erarbeitet wurden.
Das öffentliche Geld, das gerade zur Verfügung gestellt wird, muss sinnvoll
genutzt werden. Die Strukturen der Schulen müssen überdacht werden, Themen
wie IT-Administration und gute, strategische Personalarbeit zum
Verantwortungsbereich der Schulen gehören. Direktoren müssen visionäre
Führungskräfte werden, die die Belegschaft motivieren und so die Schüler
begeistern – aber auch ausgetauscht werden können, wenn sie das langfristig
nicht tun, weil ihnen die Kompetenz dazu fehlt.
Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes müssen mehr gefordert und gefördert
werden. Keiner darf sich mehr auf dem Status Quo ausruhen – wir alle müssen
uns bewegen und gemeinsam an einem Strang ziehen – damit Eltern, Kinder und
Schulen besser gerüstet sind für die nächste Pandemiewelle.
20 Jun 2020
## LINKS
[1] /Ode-an-den-Lockdown/!5687806
[2] /Unbezahlte-Carearbeit-in-Deutschland/!5683200
## AUTOREN
Ulrike Dittgen-Noweski
## TAGS
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